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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Schopenhauer weiß in der Wurzel nichts von einem Individualwillen und gelangt in der Spitze doch zur Möglichkeit einer Selbstverneinung des Individuums, Stirner abstrahiert von vornherein absichtlich von jeglicher Determiniertheit durch den Allwillen und gelangt nur dadurch zur Möglichkeit einer Lebensbejahung im Sinne einer Selbstbehauptung des „Eigenen“ – soviel davon nämlich zugleich mit unserer Existenz gesetzt ist. Vom metaphysischen [269] Faktor will Schopenhauer nicht, von den unwiderruflich meinem Einfluß entzogenen Bedingungen will Stirner prinzipiell abstrahieren: aber auf den Gewinn einer lediglich für das Individuum erreichbaren Selbstbefreiung haben es beide abgesehen! Das ganze Klagelied Schopenhauers klagt im Grunde nur darüber, wie unendlich determiniert gerade das einzelne Individuum durch die sein individuelles Wohl und Wehe mit Füßen tretenden Zwecke des Allwillens sei, denen es doch mit der irdischen Existenz rettungslos ausgeliefert werde. Um z. B. die Gattung, an der ihr allein gelegen ist, zu erhalten, peitscht die Natur ( Wille) die Individuen durch ein ganzes Leben voll Not (Sehnsucht, Begierde  Entbehren) und Langeweile, erfüllt sie die einzelnen mit Illusionen, denen sie nachstürzen im Glauben an ihre eigene Befriedigung, während durch diese, die stets mit Überdruß gepaart ist, der Allwille dann nur seine Opfer verlangt. Die ganze Schopenhauersche Philosophie wird nun aber naturgemäß dadurch, daß sie bemüht ist, das Ding-an-sich, das allen Erscheinungen zugrunde liegt, aufzuzeigen und die Individuen über ihre wahre Bestimmung aufzuklären, zu einem einzigen Protest gleichsam, sich nicht fürder als gebundenes Opferlamm brauchen zu lassen, zum Schlüssel, durch die hellere Erkenntnis wenigstens über den Naturzweck zu triumphieren – wird dadurch mindestens auf eine intelligible Befreiung des Individuums hinauskommen. Wenn alte ethische Werte, wie z. B. die Ehre, das Ehrgefühl, in ihrer bloßen Blendkraft vorgeführt werden, wenn dem Menschen die Augen geöffnet werden über das, was er ist, was er hat, was er [270] vorstellt, wenn von Begriffen wie Schamgefühl, von Weiblichkeit und Ehe, von Staat und Nation, von allen der gleisnerische ethische Flitter gleichsam abgerissen wird: was soll es anderes bedeuten, als daß der einzelne nun von diesen Begriffen sich nicht mehr täuschen lassen, den Allwillen mithin überwinden soll und – zu seinem Selbst, seiner Eigenheit, seinem individuellen Sein zurückzukehren versuchen möge? Zwar weiß Schopenhauer nur zu gut und ist dies ja sein tiefstes Bedauern, daß wir uns in Wirklichkeit so selten als Erkennende verhalten und der Trieb trotz allem (meliora scimus peiora facimus) seine Übermacht behält. Aber was mit dem leisesten einmaligen Erkenntnisakte im Grunde schon vollzogen ist: daß nicht der Weltwille uns, sondern einmal doch auch wir den Weltwillen „überlistet“ haben – das wird zuletzt konsequenterweise auch tatsächlich als mögliche Forderung aufgestellt. Den Willen, der immer nach Lebensbejahung verlangt, im Gegenteil zu verneinen, d. h. doch nichts anderes auch nach Schopenhauer: nicht Allgemeinzwecke, Gattungsmenschen fürder darzustellen, sondern Autonome, Unabhängige, Individuen, Eigene zu sein! – Ob dies alles nun möglich, ob es nicht im Gegenteil schon mehr als erlaubte Willkür enthielte, sich sogar von der allgemeinen Kausalität unter Umständen befreit zu denken: das hat Stirner als solches überhaupt nicht in Erwägung ziehen wollen und lediglich die Spanne Lebens, die von unserem Bewußtsein beleuchtet vorliegt, von allen metaphysischen Wurzeln – soweit dies nur möglich – abzuschneiden und auf die ihr natürlich (?) auch dann noch verbleibende Eigenheit zu stellen versucht. Denn [271] ob immer die Natur mit allen etwas Gemeinsames bezweckt oder nicht, sagt sich Stirner: so muß sie es ja doch mit jedem einzelnen einzeln und – eo ipso anders, verschieden, „einzig“ bezwecken, und um diese Einzigkeit eben bringt mich nicht einmal die Natur selber – d. h. die Frage nach der allgemeinen Kausalität fällt kaum. Hier liegt natürlich die ganze kolossale Differenz zwischen einem himmelstürmenden Metaphysiker und einem resignierten Positivisten, die wir beileibe nicht übersehen, beileibe nicht überbrücken wollen! Aber vom Standpunkte der diesseitigen Logik führt es natürlich größere Widerspruchslosigkeit mit sich, sich lediglich auf den bewußten Einzelwillen zu beschränken, weil wir nie wissen können, ob wir, den Maschen der Kausalität einmal scheinbar entschlüpft, nicht desto fester gerade in ihre Garne verwickelt werden. Daß der Pessimist sich erkennend auch nur am Leben erhält, daß er glaubt, durch Askese aus einem an sich lebensbejahenden Willen einen lebensverneinenden gemacht zu haben: das hätte schon von Stirners Standpunkt z. B. eine erneute Überlistung durch den bejahenden Willen, der auch in der Askese durchaus eigene Zwecke verfolgen mag, heißen können. Insofern aber gerade bei der Askese auch deutlich wird, daß es auf einen Widerstand gegen das Gattungsideal und die Selbstrettung und Selbstbefreiung vorzüglich des Individuums abgesehen ist, so ist auch Schopenhauers Lehre vor allem: Individualismus in stärkster Potenz!

In diesem Streben also, einem Herausarbeiten der individuellen Natur aus der Gattung, in der Auflösung jener dem Menschen Gattungs-, nicht Indi- [272] vidualideale vortäuschenden Begriffe: darin sind beide, Schopenhauer und Stirner, wiewohl von verschiedenen Richtungen kommend, schließlich zusammengetroffen. Bedenkt man nun, mit welcher Sehnsucht gerade auch Schopenhauer nach der heiteren Seligkeit des Spinoza geblickt und das pessimistische Ideal seines Nirwana mit dem verklärenden Schimmer eines anderen, tieferen Optimismus bekleidet hat, erinnern wir uns, wie sehr wir andererseits wieder den Stirnerschen Optimismus mit der Tiefe pessimistischer Resignation erfüllt gefunden haben, so wird nun klar, daß gerade auch Stirner aus dem Bekanntwerden der Schopenhauerschen Philosophie eine Fortsetzung seiner Kritik an Feuerbach erwachsen mußte, wie sie gewaltiger und großartiger nicht hätte einsetzen können. Er selbst wurde momentan vergessen – aber Schopenhauer brachte die unsägliche Verhöhnung des Gattungsideals, des seichten Optimismus, der satten, faden Zufriedenheit mit dem allgemeinen Menschenglück und der allgemeinen Vollkommenheit, der die unendliche Dürftigkeit, Gequältheit und Aufopferung des unvollkommenen Individuums als schreiender Kontrast und sittlicher Protest zugleich gegen solchen Optimismus entgegenstehe. Zwar protestiert nun Schopenhauer keineswegs auch wie Stirner mit einem Appell an das trotz aller Determiniertheit noch Macht und Eigentum genug realisierende Ich; vielmehr bleibt er ja der Metaphysiker, der nur immer tiefer noch nach den Gründen sucht, die jene sonst unerklärliche Grausamkeit der Natur aufhellen könnten. Und da kommt er freilich zu Begriffen, die schon gänzlich antinaturalistischer Art sind, über die Natur gerade hinausführen à à á): daß Leben ein [273] Verschulden, Geburt ein Vergehen, unsere individuelle Wesenheit schon ein selbstverbrochener Akt präexistenzieller Wahl sei – kurz, zu einer Deutung christlicher und indischer Lehren, die Stirner gerade hatte überwinden wollen. Nur daß er, indem er so mit Pessimismus und Askese endigt, doch eben die Klage darüber nicht läßt, die in diesem Fall aber einer Anklage, also ebenfalls einem Willen zur Überwindung, gleichkommt: gibt er doch durchgehends nicht undeutlich zu erkennen, wie ungerecht er selbst im Grunde dieses Büßenmüssen für unvordenkliche Taten empfindet und wie kaum verhaltener Ingrimm in ihm selbst schon immer gefährlich davorsteht, den „Sündenfluch der Jahrtausende“ mit einem Ruck abzuschleudern! Doch nein – er bleibt Christ bis zuletzt; und „Mitleid“ ist sein letztes Wort: fast unvermutet trifft es uns, da er die erbarmungslose Grausamkeit des Willens überall sonst in der Natur gefunden hat! – Darum eben konnte Nietzsche kommen und ihm das Wort entgegenrufen: Dekadent! Gibt es nicht in uns selbst noch, den Losgelösten, den Kräftigen, den ungestüm Lebenbejahenden, einen „Willen zur Macht“, um tausendjähriges Sklavenjoch zerbrechen zu können? Sagst du „nein“ – so behalten freilich alle dein Leben verneinenden Mächte ihre Gewalt, und du warst schwächlich genug, mit ihnen zu verneinen; sagst du aber – als Übermensch! – „ja“: so können dir die Gewalten der Erde nichts anhaben! – Und dieses „Ja“ hatte eben, vor dasselbe Dilemma gestellt, nach Schopenhauer schon Stirner gerufen!

Auf dem Pessimismus allein, nicht auf dem Willen ruht ganz und gar die Schopenhauersche Ethik, und [274] sie war es vor allem auch, die den überhandnehmenden sozialen Instinkten, gegen die der „Einzige“ sich vergebens gestemmt hatte, im Gegenteil nun auf das stärkendste entgegenkommen mußte. Denn wohl hatte Schopenhauer jenen höchsten Individualismus, die Möglichkeit der Willensverneinung, auf der Spitze seiner Philosophie verkündet, aber hierin gerade konnte ihm eine materialistisch von der unbeugsamen Starrheit des Kausalgesetzes durchdrungene Zeit nicht folgen. Zu liebevoll hatte der Denker überdies gerade auch den „niederen Flug des Menschen“ befürwortet, zur gemeinsamen Abwehr des vielen Leides der Menschheit aufgerufen (insofern gerade zur Lebensbejahung), ja, das „grenzenlose“ Mitleid gerade „den festesten und sichersten Bürgen für das sittliche Wohlverhalten“ genannt, das sonst keiner Gesetze weiter bedürfe. Damit war – so seltsam es heute erscheint, den Aristokraten Schopenhauer mit der Verstärkung sozialer Interessen in Zusammenhang zu bringen – etwas Unschätzbares gerade auch nach der von den ersten Sozialisten selbst schmerzlich empfundenen Enttäuschung durch Feuerbach wiedergewonnen. Es war mit Beziehung auf diese altruistische Ethik Schopenhauers, aber auch die ungefähr gleichzeitige des Franzosen Comte und des Engländers John Stuart Mill, daß Nietzsche späterhin bitter die Worte gebrauchte, es habe den Anschein gehabt, als sei man nach Ablegung des christlichen Glaubens nur tiefer noch von dem Eifer durchdrungen und bemüht gewesen, die christlichen Tugenden und Werte zu heiligen, sich für diese noch interessierter als die Christen selbst zu zeigen! In der Tat läuft der sozialen Bewegung im 19. Jahrhundert, die am ge- [275] fährlichsten die Keime des auftauchenden Individualismus sofort erdrücken sollte, eine überwiegende Systembildung gerade auch altruistischer Philosophie parallel, die ihrerseits von den größten Wirkungen für die Literatur wurde. Von Schopenhauer ist später Tolstoi ausgegangen, um das Evangelium der Liebe in seiner alten, ursprünglichen Reinheit wiederherzustellen; auf ein Primitives, Ursprüngliches mußte man wieder wie auf eine Rettung gewiesen werden und zurückgreifen, als sich – in den 50er Jahren zuerst – die Unzulänglichkeit des homo homini Deus, wodurch Feuerbach der sozialistischen Bewegung gleichsam die erste Weihe gegeben hatte, als eitel Theorie herausstellte.

Das „homo homini Deus“ hatte es den Marx, den Friedrich Engels, den Heß usw. usw. um die Zeit, da Stirners „Einziger“ geschrieben wurde, noch allen angetan, alle nannten sie sich mit Stolz damals Feuerbachianer; es klang so schön, daß in jedem einzelnen ein Gott wohnen, es gab auch der Masse, die jetzt auf den Schild erhoben werden sollte, ohne weiteres jenen Heiligenschein, für den es zu kämpfen lohnte. Als aber aus der Theorie Ernst werden sollte, als die Idee mit dem Körper der Realität bekleidet werden sollte, da zeigte sich ihre Fadenscheinigkeit und Unzulänglichkeit an allen Ecken und Enden. Da hatte Stirner tiefer gesehen, als er die politischen, staatlichen und sozialen Humanitärbegriffe für „Abstrakta“ erklärt hatte, denen in der Wirklichkeit nichts entspräche; als er die notwendige Gegensätzlichkeit der Individuen, ja, den „Krieg aller gegen alle“ für das Naturgemäße, und die Ordnungen jedes größeren [276] Verbandes als immer nur dem „allgemeinen“, keineswegs dem konkreten, individuellen Menschen geltend erklärt hatte. „Was als Sanktion des eigenen Lebens ausgesprochen wurde, verlernte man rasch mitten in der sozialpolitischen Alltäglichkeit. Die wahrhaft religiös-moralische Natur der menschlichen Verkehrsverhältnisse hob sich selbst auf. Die reine Politik duldete keinen ‘wahren’ Menschen, ja, auch nicht den individuellen Menschen mehr. Die vornehmlich auf den politischen Kampf sich konzentrierende soziale Tätigkeit lehrte unwiderruflich im Mitmenschen den ‘Lupus’ (Wolf) anstatt des von Feuerbach inaugurierten Deus (Gott) sehen. Der Mensch wurde dann zu einem Stiftchen im großen Rad der Epoche, zum bloßen Mittel herabgesetzt.“*) So charakterisiert einer der Wortführer des heutigen Sozialismus selbst das Übergehen der Anfänge der Bewegung in die erstarkende Macht der späteren Jahrzehnte.

Denn der Sozialismus kam aus seiner theoretischen Periode heraus; und da eben, als nun auch die furchtbare Gefahr des Zermalmtwerdens der einzelnen bald genug am Horizont auftauchen mußte – da beschwichtigte das Schopenhauersche Prinzip vom Grundgefühl des Mitleidens in jeder menschlichen Brust gleichsam stillschweigend weiter die Gewissen, ähnlich wie es früher Feuerbach getan hatte. Denn wenn auch utilitaristische Prinzipien in erster Linie den ärmeren Klassen die Notwendigkeit des Zusammenschlusses vor Augen zu führen schienen, wenn auch auf ökono- [277] mischer Basis zunächst gegen den zunehmenden Pauperismus und die „Verelendung“ Heilmittel verordnet wurden, so mischte sich doch wie von selbst so großen sozialen Verbänden, wie sie nun seit den sechziger Jahren gestiftet wurden, in dem plötzlich erwachten Solidaritätsgefühl der Massen ein ethisches Element bei, das zumal als Kontrast zu dem bekämpften idealen oder realen Feinde beinahe wie echt-christliche Bruderliebe (oder auch Schopenhauersche Mitleidsmoral) aussehen konnte. Denn wenn auch Egoismus, so schien sich der Soziale sagen zu können, unser aller Triebfeder, wenn auch in unserer Zusammenrottung gegen den bedrohenden Widersacher Bosheit bis zur Grausamkeit an den Tag kommen mag: „Mitleid“, nach Schopenhauer Fundament der gesamten sittlichen Weltordnung, – das ist nur bei uns, da wir gerade, um Not und Elend der Menschen zu verringern, zusammentreten, da wir helfend für unseren leidenden Nächsten einspringen, da wir überhaupt nur, um dem Jammer des Proletariats, das der „Reiche“ hartherzig mitangesehen, ja, verschuldet hat, ein Ende zu machen, uns die Hände gereicht haben. – Wieder erscheint es wie ein Kausalzusammenhang, daß eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn ein Reicher der Seligkeit teilhaftig würde! Da war Stirner gerechter, als er spöttisch fragte, wer denn in aller Welt eigentlich zu allen Zeiten mildtätig und barmherzig gewesen ist: ob der Arme, der nichts hatte, oder der Reiche, von dem wohl die Tugenden des Gebens und Wohltuns billig ihren Ursprung genommen haben dürften.



Die zunehmende soziale Bewegung hat den Indi- [278] vidualismus, den Stirnerschen wie später den Nietzscheanischen, bis in die 90er Jahre zurückgedrängt und niedergehalten. Und Nietzsches Protest gegen die Decadencewerte der Schopenhauerschen Ethik, wie dann ausdrücklich gegen die soziale Gefahr läuft genau parallel der Stirnerschen Kritik,*) die wir kennen gelernt haben und die nur noch um so interessanter ist, als sie gewissermaßen noch ganz im theoretischen Fahrwasser, wie der Sozialismus selbst damals, bleiben mußte und doch schon voll zukünftiger Witterung des kommenden realen Feindes ist. Wir wollen auf diese Kritik, die eine Beantwortung durch Marx und Engels selber erfahren hat, trotzdem uns letztere der Entstehung nach wieder weiter zurückführt, schon deshalb an dieser Stelle zurückkommen, weil sie durch seltsame Umstände heute gleichsam zu den jüngsten Stirneriana wieder gehört. Stirner selbst hat diese Antwort nie zu Gesicht bekommen; aber sie ist aus dem Nachlaß Friedrich Engels’ in den Besitz Eduard Bernsteins übergegangen, der sie erst vor wenigen Jahren – „soweit die ‘nagende Kritik der Mäuse’ (im Vorwort zur ‘Kritik der politischen Ökonomie’) an dem mehrere hundert Folioseiten starken Manuskript nicht buchstäblich zur Wahrheit geworden“ – in den „Dokumenten des Sozialismus“ abgedruckt hat. Die Länge der Antwort allein (umfangreicher als „Der Einzige und sein Eigentum“!) beweist, daß Marx und Engels Stirner keineswegs für so ungefährlich und leicht widerlegbar gehalten haben, als sie dies gern hinstellen möchten; ohne Zweifel waren sie überdies empfindlich verletzt, denn [279] Stirner hatte den Sozialismus, wie wir wissen, vornehmlich deswegen bekämpft, weil er uns (nach seinem Ausdruck) alle zu „Lumpen“ machen wollte. Bernstein hat recht, wenn er sagt, daß in den theoretischen Anfängen der sozialen Bewegung noch viel Geist und Witz und dialektisches Spiel mit Worten wie aus Freude am Spiel selber aufgeboten worden sei, während die spätere Armut daran gerade als Anzeichen der erstarkten Realität des Objekts gelten müsse; andererseits wollen wir auch Stirner den Vorwurf nicht ersparen, daß er in seiner Polemik gegen realpolitische Verhältnisse zum Teil nur erst sophistisch gespielt hat. Es war sicherlich unklug von Marx, gerade bei Stirner noch einmal gegen die Hegelsche Geschichtskonstruktion auszuholen, der Geistentwicklung auch hier die empirische Entwicklung infolge bestimmter industrieller und Verkehrsverhältnisse entgegenzustellen: denn Stirner selbst leugnet ja dann gerade jeden für sich seienden „Geist“, und für das Ich, wie es einmal ist, braucht er auch sämtliche anderen Seinsbedingungen nicht. Wenn mir erklärt wird, ich sei nur das Produkt dieser oder jener ökonomischen Ursachen – was geht das im Grunde mein gegenwärtiges innerstes Daseinsgefühl an, was hat das mit dem Individualismus als einer Einzigkeitslehre zu tun? Dagegen in Dingen, die Marx seinerseits aus seiner realistischeren Weltbetrachtung heraus wirklich Grund hatte, ernster und eben nicht für bloßes Spiel zu nehmen, mag seine Polemik zurecht bestehen; das Augustheft von 1903, Heft 8, Band III der „Dokumente des Sozialismus“ bringt die gewichtigsten Einwände. „Stirner widerlegte (oben) die kommunistische Aufhebung des Privateigentums [280] dadurch, daß er das Privateigentum in das ‘haben’ verwandelte und dann das Zeitwort ‘haben’ für ein unentbehrliches Wort, für eine ewige Wahrheit erklärte, weil es auch in der kommunistischen Gesellschaft vorkommen könne, daß er Leibschmerzen ‘habe’. Gerade so begründet er (hier) die Unabschaffbarkeit des Privateigentums darauf, daß er es in den Begriff des Eigentums verwandelt, den etymologischen Zusammenhang zwischen ‘Eigentum’ und ‘eigen’ exploitiert und das Wort ‘eigen’ für eine ewige Wahrheit erklärt, weil es doch auch unter dem kommunistischen Regime vorkommen kann, daß ihm Leibschmerzen ‘eigen’ sind.“ Diese Antwort, charakteristisch auch für die ganze parodistische und feindialektische Art dieser Kritik, zeigt zugleich die weltverschiedenen Voraussetzungen, unter denen diese Antipoden überhaupt von vornherein aufeinander hätten verzichten sollen – wie ja wohl Stirner, im Ernst, verzichtet hat (vgl. auch seine Entgegnung gegen Heß, Kl. Schr.). Der Individualist kann gar nicht den Sozialen, der Soziale gar nicht den Individualisten verstehen. Stirner hierauf vorzuwerfen, er habe das Privateigentum, weil er es doch für unaufhebbar erklärt (!), vom Standpunkt des behaglichen Bourgeois in Schutz genommen (Marx), war eine Beschränktheit; trotzdem gibt Stirner selbst dazu ja gewissermaßen Anlaß – denn von dem, der gegen alle göttlichen und menschlichen, geistigen und weltlich-realen Ordnungen sich erhebt, „sein’ Sach’ auf Nichts gestellt hat“ und im übrigen die Welt Welt sein läßt – erwartet man auch in der Vorrede nicht empirisch-ökonomische und sozial-politische Untersuchungen. Diese Marx-Engelssche Kritik [281] hat gar nicht den Gegner, mit dem sie es zu tun hat, gesehen. –

Das Ende des 6. Jahrzehnts, das einerseits in die soziale Bewegung jenes große Leben gebracht hatte, schien im beschämenden Gefühl kulturellen Niedergangs auf der anderen Seite auch einer höheren geistigen Differenziertheit gerade den Boden wieder zu ebnen. Den guten Einfluß, den Langes „Geschichte des Materialismus“ ausübte, haben wir schon berührt; gleichzeitig erscholl von mehreren Seiten der Ruf: „Zurück zu Kant!“, und selbst das Interesse für Metaphysik schien sich wieder zu heben. Eduard von Hartmann ließ 1869 seine „Philosophie des Unbewußten“ erscheinen, in der Hegelsche, Schellingsche und Schopenhauersche Gedanken wieder auflebten, und brachte es damit sogar zu einer zeitweiligen Berühmtheit. Beachtenswert war diese Philosophie auch schon deshalb, weil sie zum ersten Male die noch immer ungenutzt und unverwertet umherliegenden naturwissenschaftlichen Resultate des Jahrhunderts in einer höheren Induktion zu einen versuchte; ähnliches hatte wohl Eugen Dühring schon einige Jahre vorher angestrebt, war aber in den seinem Denken von vornherein auferlegten positivistischen Fesseln zu früh und zu widerspruchsvoll stecken geblieben. Bei Hartmann ist es, wo wir denn auch, und zwar an exponierter Stelle: zu Beginn der dritten Menschheitsepoche (wie bei Stirner selbst) das Stirnersche Ich wiederfinden; es ist wieder nur eine der Vorstufen in der Entwicklung des neuen Prinzips, des Unbewußten, geworden, hat aber als Stufe (wie bei Hegel) seine Berechtigung behalten, und, weil gerade an der Schwelle des reifen [282] Mannesalters stehend, jedenfalls eine bedeutendere. Hartmann ist es dann gewesen, der in fast all seinen späteren Werken ebenfalls auf Stirner zurückgekommen ist, indem er ihn allerdings für die Ethik nur als typischen Fall der Selbstwiderlegung des extremen Egoismus verwendet und vor allem (als Metaphysiker, wie Schopenhauer) die Verselbständigung des Einzel-Ichs bekämpft; und endlich hat er die Jugend (wohl in etwas zu plumper Weise), als er den Nietzschekult kommen sah, (1891) auf Stirner als den viel schärferen Logiker gewiesen. Aber alle diese Zitierungen haben nirgends eine tiefere Spur hinterlassen; insbesondere wurde gerade auch eine Wirkung der ersten durch die weitere deutsche Entwicklung sehr bald zur Unwahrscheinlichkeit.

Denn der Krieg von 1870/71 hat die Anfänge höherer Ichkultur wieder barbarisch weggefegt und die kritiklose materialistische Denkrichtung im schlimmeren Sinn, als es je der Fall gewesen, wieder aufleben lassen. War der Sozialismus schon vor dem Kriege Stirners schlimmster Widersacher, so erfuhr durch den Krieg auch jener andere Feind, gegen den Stirner ausgelegt hatte, der politische Liberalismus, das Bourgeoistum – nach ihm der wichtigste Nährboden heuchlerischer Philistermoral – eine ungeahnte Verstärkung. Der Segen der fünf Milliarden floß ins deutsche Land und brachte den Gründerschwindel, die Herrschaft des Kapitalismus, und wieder natürlich, als notwendige Kehrseite, die Vermehrung des Proletariats, die Verschärfung und Zuspitzung der sozialen Gegensätze und also ein Anwachsen auch der sozialen Bewegung. Dazu die gesteigerte Industrietätigkeit nach dem Kriege – und [283] demgegenüber noch ein vollständiges Fehlen irgendwelcher höheren Welt- und Lebensauffassung, welche die Naturwissenschaften nicht an die Stelle zu setzen gewußt hatten, nachdem sie sich, uneingedenk der großen Vorfahren, der Newton und Kepler, zum Kampf gegen Gott und Geist hatten mißbrauchen lassen. In hellster Unordnung und Zerfahrenheit lagen noch immer ihre großen Gebiete neben- und durcheinander; an den überragenden naturwissenschaftlichen Geist eines Charles Darwin wagte sich der klägliche Versuch eines David Strauß,*) und Robert Mayer dagegen war überhaupt noch nicht ins Bewußtsein gedrungen. Nationaler Dünkel und chauvinistische Verblendung, Folgen des siegreichen Krieges, hinderten daran, der inneren Rückschrittlichkeit ansichtig zu werden oder über die Blasiertheit weltmännisch-epikuräischer Betrachtung hinauszukommen. Dazu sorgte auch das „einige Deutsche Reich“ mit rührender Betriebsamkeit für die leichteste Zufuhr aller nur „brauchbaren“ Bildungsmittel, mit denen man später „auskommen“ konnte, verpflanzte denselben Geist, der sich nach außen so tüchtig bewiesen hatte, den militärischen, auch in Schule und Leben und brachte so, indem es auf „Vereinheitlichung“, Abschaffung besonderer Volkseigentümlichkeit, usw. über- [284] all abgesehen war, Nivellement in jeder Beziehung! Die 70er und 80er Jahre des 19. Jahrhunderts hatten in der Tat – wenn uns ähnliches schon bei den vorangegangenen aufgefallen war – noch das geringste Verständnis gerade für Individualität: aber man begreift, daß diese in solcher erstickenden Atmosphäre, wie einst in jener vor Achtundvierzig, die Spannkräfte gewitterschwüler Entladung am ehesten wieder ansammeln konnte. Es waren die Jahre des Nietzscheschen Schaffens; aber ehe dieses – und da endlich auch das Stirnersche Lebenswerk – begriffen wurde, mußte erst ein jähes Geschick zur Aufmerksamkeit rufen und das Jahrhundert selbst seinem Ende entgegengehen.

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