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OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06.10.1997

Ruest, Anselm [Ernst Samuel]: Max Stirner. Leben - Weltanschauung - Vermächtnis. (Hermann Seemann Nachfolger) Berlin und Leipzig [1906]. 336 pp.
[3]

Vorwort.


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Über Max Stirner kann heute niemand schreiben, ohne der Verdienste seines Biographen John Henry Mackay in erster Linie zu gedenken. Auch Verfasser dieses gehörte zu jenen, die erst durch das unter so schwierigen Verhältnissen zustande gekommene Buch: „Max Stirner. Sein Leben und sein Werk“(Berlin 1898), auf den Philosophen gelenkt wurden; über den allgemein-historischen Anteil Mackays an dem Wiederbekanntwerden Stirnerscher Ideen lese man ferner im dritten Abschnitt dieser Schrift. Als bekannt dürfte vorausgesetzt werden, daß für viele Teile der Mackayschen Biographie eine Ergänzung sachlichen Inhalts, der zerstörten oder nie vorhanden gewesenen Quellen wegen, für alle Zeit ausgeschlossen ist; daß tatsächlich im Lebensbild Stirners bedeutende Lücken klaffen und daher der Hypothese Spielraum gegeben ist. Was nun den biographischen Teil in diesem jüngsten Stirnerbuch betrifft, so verraten wir, daß lediglich diese, in wissenschaftlicher, psychologisch-ernster Form gehandhabt, den Verfasser auch nur gereizt hat; es wird also weiter, wer die Einzelheiten biographischen Materials und größere Ausführlichkeit der hier zugrunde gelegten Tatsachen und Begebenheiten sucht, auf Mackay verwiesen. Dagegen machen wir auf die hohe Notwendigkeit aufmerksam, aus so heterogenen Bestandteilen, wie sie einmal in dem aktenmäßigen Material, andererseits in den documents humains vorliegen, die doch ein Lebenswerk wie „Der Einzige und sein Eigentum“ ohne weiteres enthält, das einheitliche, möglichst widerspruchslose Bild der Persönlichkeit Stirners zu gewinnen und in die Geschichte einzuführen: hier wird man natürlich bloß die ersten Ansätze dazu finden. Man achte auch auf die so verschiedene und ungleichartige Kritik, die Mackays Buch erfahren hat; man meinte, von einem Apostel und Verehrer Stirners auf Kleinigkeiten und Unwesentliches zu großes Gewicht gelegt zu sehen, und vergaß, daß aus der Verehrung für den Denker überhaupt das ganze Werk er- [4] wachsen war. So gab es Leute, welche dem Biographen nachträglich übelzunehmen schienen, daß er sich begeistert habe, anstatt, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, einzig nachzuforschen, ob innerhalb der dem Vergessen entrissenen Tatsachen sich andere psychologische Verknüpfungen mit den Stirnerschen Gedanken ergeben könnten. Von dieser ganzen Literatur sein 1898 ist auch vieles berücksichtigt, manches verwertet, manches bekämpft worden; im allgemeinen aber eigentlich nur das Ziel verfolgt, eine Brücke zwischen dem „höheren Mädchenlehrer“ Stirner und dem Verfasser des „Einzigen und sein Eigentum“ aufzuzeigen: denn so einfach, wie man uns hat glauben machen wollen, ist das Problem der Stirnerschen Persönlichkeit denn doch nicht! –

Nimmt der erste Teil dieses Werkchens nur diese eine Originalität für sich in Anspruch, so lagen indes für Teil II und III noch so gut wie gar keine Vorarbeiten vor; man wird daher hoffentlich erkennen, daß, wiewohl auch diesmal wieder die Hypothese – psychologisch erklärlich! – stärker betont scheint, das ganze innerliche Interesse des Verfassers sich doch nur der Darlegung der Gedankenwelt zugewandt hat. Sie ist aus einem gründlichen Studium und Zurateziehen aller Seiten der Stirnerschen Philosophie und ihres Zeitalters erwachsen; bisher gab es einige Inhaltsangaben des „Einzigen usw.“, ich möchte sagen: bloße Paradigmen, Schemata, welche sich nicht von der äußeren Struktur dieses Werkes freimachen wollten und infolgedessen nicht alle Wurzeln und Motive zugleich des Denkers aufdecken konnten. Wir zeigen zum erstenmal die gesamten theoretischen Grundlagen, aus ihnen abgeleitet erst den praktischen oder moralischen Teil; ins allgemeine Bewußtsein sind überhaupt nur aus diesem letzteren einige, in ihrer Abgetrenntheit von den Grundlagen paradox wirkende Bestandteile, Sätze, übergegangen. Die Zahlenhinweise, ohne den näheren Vermerk „Kl. Schr.“ (Max Stirners „Kleinere Schriften“, herausgegeben von Mackay, 1898), beziehen sich auf die Reclamausgabe des „Einzigen und sein Eigentum“. – Endlich ist auch ein historischer Überblick über die Fortwirkungen der Stirnerschen Philosophie zum erstenmal versucht; und ein ausführlicherer Vergleich der Stirnerschen mit den Nietzscheschen Ideen führte zur Aufstellung eines positiven Zukunftideals.

Möge das Buch dem individualistischen Gedanken unserer Zeit neue Impulse geben!

Berlin, August 1906.

Anselm Ruest.
[5]

Biographischer Teil.


[7] Die Märchen erzählen von einem Menschen, der, in Armut und Dürftigkeit geboren, die Götter anfleht, ihm doch ein einziges Jahr lang – auf Tag und Stunde – allen Glanz der Welt, alle Macht und Kostbarkeiten der Erde zu gewähren. Die Götter erfüllen dem Ärmsten den Wunsch; aber da das Jahr um ist – da kommt eine um so grausere Nacht und Finsternis und Verzweiflung .... So – aus der Perspektive gesehen – glaubt man das Leben Stirners zu erkennen.

Die Dichtung erzählt auch von dem gefesselten Königssohn, der, ein einziges Mal seiner Ketten entledigt und der angestammten Hoheit wiedergegeben, in einen wahren Rausch von Herrschgefühl und Herrschergröße verfällt; da wird ihm am eigensten Leibe deutlich gemacht, daß man solch Gefühl auch nur – träumen könne! Und fortan verläßt selbst den wirklich Freien alle Riesenkraft, und, von des Gedankens Blässe angekränkelt, siecht er dahin – ein Gezähmter. . . . Auch in dieser Dichtung erinnern viele Züge an Max Stirner.

Es gibt endlich Ideen – die splittern wie Glas . . . . Sie wohnen in manchen Menschen und verleihen ihnen heimliche Simsonstärke, Unverwundbarkeit von allen alltäglichen Dingen . . . . Aber da plagt diese Menschen einmal der Teufel, daß sie dem Rätsel auf die Spur [8] kommen müssen, daß sie sagen müssen, wodurch sie so stark zu sein glauben; – und nun sind sie in den Händen aller Philister! – Vielleicht ist das Wörtchen „Ich“ schon so eine – zersplitterte Idee!

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Vielleicht, wenn wir mehr von dem Leben Stirners wüßten, könnten wir der Bilder entbehren. Aber auch den eifrigsten Bemühungen seines Biographen, in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, ist es nicht gelungen, mehr als Umrisse aus dem geringen Schutt weniger Jahrzehnte zutage zu fördern. So kommt es, daß sich eigentlich nach der Forschung der erste Eindruck dieses Unpersönlichsten aller Ich-Menschen noch eher verstärkt; keinerlei „Jugenderinnerungen“, kein Tagebuch, keine Freunde und Apostel – eben bis auf Mackay, den Spätgeborenen. Bei manchen Ganzgroßen gelingt es nun bald, fast jeden Tag ihres Lebens der Vergessenheit zu entreißen; in Stirners „Erdenwallen“ klaffen ganze Jahre, aus denen kein Sterbenswörtlein verlautet. Etwas heller belichtet liegt die Zeit, in der das Buch, sein Buch entsteht; und von „unverständlicher Psyche“ wird wahrhaftig keiner sprechen, der die höhere Bedeutung des „unius libri“, gegen welches tausend Diariumblätter noch ein toter Kalenderblock sind, auch nur von fern zu ahnen vermag. Versuchen wir daher mit allen Mitteln, denn alle müssen erlaubt sein, ein Bild von der Persönlichkeit Stirners zu entwerfen.

In Bayreuth stand die Wiege; aber nicht als Max Stirner, sondern als Johann Kaspar Schmidt wird er ins lutherische Kirchenbuch eingetragen. Schon [9] hier beginnt eigentlich die Ironie dieses Lebens; und Tag für Tag wachte sie von nun ab über diesem Schicksal, zu allem, was das Stirnerische wollte, das philiströse Schmidtsche „Nein“ über die Schulter grinsend. Der „Einzige“ hieß Schmidt; und die Vorfahren des Freiesten der Freien waren – „Herrendiener“. In Bayreuth lebte von berühmten deutschen Männern damals einer, dem man fast unmittelbar am Sarge nachrühmte, daß er „die blöden Herzen aufgemuntert“, daß er zuerst es gewagt, „das jedem Deutschen so grause Wort Ich auszusprechen“.*) Das war der große Dichter Jean Paul. Über Stirners Grabe begann ein neues, tieferes Grausen vor diesem Ich wiederaufzuleben . . .

Derselbe Jean Paul schrieb von Bayreuth aus 1806, im Geburtsjahr Stirners, mit einer seiner hübschen Metaphern, „die Erdkugel sei mit Kriegpulver angefüllt“, und dachte natürlich an Napoleon; von dem anderen „Kriegpulver“, das mit dem kleinen Schmidt in die Welt gekommen war, konnte er füglich nichts wissen. Und zuerst machte sich freilich auch das französische, in Bayreuth selber, bemerkbarer. Am 25. Oktober wurde Johann Kaspar, noch als Preuße, geboren; vier Wochen darauf war er gallischer Untertan: Unruhen, Kriegsstürme, Hungersnöte standen als Wahrzeichen über seiner Geburt. Der Vater Albert Heinrich Christian Schmidt, seines Standes „blasender Instrumentenmacher“, starb schon im nächsten Jahre; die Mutter, Sophia Eleonora, verheiratete sich 1809 zum zweiten Male, und zwar mit dem Provisor Hein- [10] rich Friedrich Ludwig Ballerstedt. So früh trat der letztere in das Leben des Knaben, daß dieser längere Zeit schwerlich den Stiefvater in ihm erblickt haben wird. Die Ballerstedts waren eine alte Pastorenfamilie; doch das erwähnen wir keineswegs ironisch, sondern müssen im Gegenteil unwillkürlich an die große Bibelbelesenheit, auch an einen gewissen Prophetenton des späteren Stirner denken.



Vier Jahre ist der Knabe alt, da kommt er nach dem westpreußischen Kulm, um fernere acht Jahre seiner Kindheit dort zu verleben. Der fortwährenden Kriegsunruhen wegen hatten die Eltern sich nach einer neuen Heimat umgesehen und waren schließlich „nach manchen Wechselfällen des Geschicks“ in die alte Ordensstadt an der Weichsel gekommen, wo Ballerstedt eine Apotheke erwarb. Diese „Schicksale“ hatte der kleine Johann Kaspar jedoch nicht miterlebt, er war erst nachgeholt worden. Wie entwickelt er sich nun in dieser Spanne Kindheit vom vierten bis zum zwölften Lebensjahre, die wir – wenn wir wiederum Jean Paul hörten – für die wichtigste Lebenszeit überhaupt erklären müßten? Keine jener vielsagenden Anekdoten, die von Alkibiades, dem Knaben, schon erzählt, er habe – und sei es im Beißen! – mit einem Löwen lieber denn mit einem Hunde verglichen sein wollen, von Alexander, daß er immer der einzig Traurige bei den Bulletins von Vater Philipps Siegen gewesen sei, weil ihm nicht genug Erdball zum Unterjochen übrig gelassen würde; und doch handelte sich’s ja auch hier später um Eroberung, hat auch Stirner später allen Ernstes den Arm nach der Weltkugel ausgestreckt. Nicht ein Blitzen aus dem Dunkel dieser Knabenjahre; [11] und das wird nicht etwa besser, da der Zwölfjährige Mitschüler und Lehrer erhält. Damit sind wir jedoch wieder in Bayreuth; man hatte ihn in das Haus seines Oheims und Paten Johann Kaspar Sticht gegeben, damit er das hochberühmte Gymnasium seiner Vaterstadt besuche. Irgendwelche „Berechtigung zu schönsten Hoffnungen“ muß also doch schon entdeckt worden sein; aber o weh – da der Biograph nach eifrigster Durchstudierung aller Zeugnisse in acht Gymnasialklassen das Resultat ziehen will, ergibt sich die beneidenswerte Erkenntnis: Schmidt war ein guter und fleißiger Schüler! Die Lehrer freilich, die Lehrer sind alle bewährt, einzelne bekannt, der Direktor gar berühmt: Georg Andreas Gabler, Nachfolger Hegels an der Berliner Universität. Ein begeisterter Anhänger Hegels – neue Ironie! – Lehrer Stirners, der niemals „versöhnen“, beim allerschlimmsten „Gegensatz“ Punktum, Halt machen wollte! Aber über den Schüler, wie gesagt, noch keine „besondere Note“, keine einzige liebenswürdig-bissige Bemerkung über Betragen, Herrschsucht, „vorlautes Wesen“ usw. usw. Schade, sehr schade; Schmidt scheint somit verdächtig, nahe bei den Musterschülern gestanden zu haben. – Acht Jahre Kulm, acht Jahre Bayreuth; aber nur die zweiten „bilden“ ihn anscheinend, führen ihm alles erdenkliche Wissen zu. Soll ich indes sagen, mit welcher Landschaft, welchem Menschencharakter – nach Stirner ist es freilich nicht erlaubt, von so etwas zu sprechen – mir sein Denken tiefere Verwandtschaft zu haben scheint, so entscheide ich mich für die vasten Ebenen an der Weichsel. Die kahlen, ungeheueren Gefilde – der bleierne Himmel darüber – die mißtrauische Zurück- [12] gezogenheit der Menschen dort – der fegende Nordwind – erinnern in mancher Hinsicht an die schattenwälzende, anklagende, in ihrem weiten Ausholen dann doch grandiose Skepsis des „Einzigen“.

Übrigens brauchen solche verschwiegenen Saaten, wirklich unverhüllt und an den Ähren statt allzu ähnlichen Halmen erkenntlich, erst beim reifen Manne ins Licht zu treten; sonst hindert uns nichts, vom Knaben anzunehmen, daß er eben wie alle Knaben, und vom Jüngling, daß er selbst noch Schwärmer, nicht Skeptiker – eben wie die meisten Jünglinge gewesen. Nach unmittelbaren Zeugnissen dürfen wir freilich noch immer nicht fragen, aber mittelbare sollten sich wohl erreichen lassen. Da stoßen wir gleich an der Eingangspforte des Stirnerschen Buches auf das interessante Kapitel über die menschlichen Lebensalter. Hören wir zunächst einmal, was da über die Kindheit gesagt ist. „Im Kindheitsalter nimmt die Befreiung“ – als Befreiung von irgend etwas sieht Stirner das Leben in allen seinen Stadien – „den Verlauf, daß Wir auf den Grund der Dinge oder ‘hinter die Dinge’ zu kommen suchen: daher lauschen Wir allen ihre Schwächen ab, wofür bekanntlich Kinder einen sichern Instinkt haben, daher zerbrechen Wir gerne, durchstöbern gern verborgene Winkel, spähen nach dem Verhüllten und Entzogenen, und versuchen Uns an allem. Sind Wir erst dahintergekommen, so wissen Wir Uns sicher; sind Wir z. B. dahintergekommen, daß die Rute zu schwach ist gegen Unsern Trotz, so fürchten Wir sie nicht mehr, ‘sind ihr entwachsen’. . . Hinter der Rute steht, mächtiger als sie, Unser – Trotz, Unser trotziger Mut.“ . . . „Was Uns [13] erst Furcht und Respekt einflößte, davor ziehen Wir Uns nicht mehr scheu zurück, sondern fassen Mut. Hinter allem finden Wir Unsern Mut, Unsere Überlegenheit; hinter dem barschen Befehl der Vorgesetzten und Eltern steht doch Unser mutiges Belieben oder Unsere überlistende Klugheit. Und je mehr Wir Uns fühlen, desto kleiner erscheint, was zuvor unüberwindlich dünkte.“ . . . Endlich sehr charakteristisch: „Durch Überzeugung bringt man Uns zu nichts, und gegen die guten Gründe, Grundsätze usw. sind Wir taub; Liebkosungen, Züchtigungen und ähnlichem widerstehen Wir dagegen schwer.“ Das klingt denn freilich schon bedeutend weniger nach dem „Musterknaben“; oder konnte so jemand schreiben, dem nicht irgendwelche tief ins Gedächtnis gedrückten Szenen der eigenen Kinderzeit wieder vor Augen standen? Erinnern wir uns auch, daß Johann Kaspar der „Einzige“ – schon im Haus seiner Eltern war und blieb, denn ein Stiefschwesterchen, das er sogleich nach der Ankunft in Kulm erhielt, starb, kaum drei Jahre alt; vielleicht also war der Knabe, wie die Einzigen öfter, durchaus nicht so „gutgeartet“, sondern sogar sehr eigenwillig und tyrannisch. Und nun der Jüngling, den wir zur Universität begleiten wollen, von dem wir direkte Schilderungen natürlich schon viel schmerzlicher vermissen – soll er uns länger unsichtbar bleiben? „Nicht bloß die Eltern, sondern die Menschen überhaupt werden von dem jungen Menschen besiegt: sie sind ihm kein Hindernis und werden nicht mehr berücksichtigt: denn, heißt es nun: man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen . . . Alles ‘Irdische’ weicht unter diesem hohen Standpunkte in verächtliche Ferne zurück: [14] denn der Standpunkt ist der - himmlische.“ Und weiter: „Wir ‘hängen nun Unsern Gedanken nach’ und folgen ebenso ihren Geboten . . ., Unsere Taten richten sich nach Unseren Gedanken (Ideen, Vorstellungen, Glauben).“ . . . „Indes gedacht haben Wir auch schon als Kinder, nur waren Unsere Gedanken nicht . . . ein Himmel für sich . . . Wir dachten also wohl: die Welt, die Wir da sehen, hat Gott gemacht; aber Wir dachten (‘erforschten’) nicht die ‘Tiefen der Gottheit selber’; Wir dachten wohl: ‘das ist das Wahre an der Sache’, aber Wir dachten nicht das Wahre oder die Wahrheit selbst, und verbanden nicht zu einem Satze ‘Gott ist die Wahrheit’“ . . . „Den reinen Gedanken zutage zu fördern, oder ihm anzuhängen, das ist Jugendlust, und alle Lichtgestalten der Gedankenwelt, wie Wahrheit, Freiheit, Menschentum, der Mensch usw., erleuchten und begeistern die jugendliche Seele.“

Haben wir irgendwelchen Grund, zu bezweifeln, daß so auch einst die „jugendliche Seele“ Stirners ausgesehen habe? Wir haben sogar Bekräftigungen! Es war schon Suggestion, d. h. die Macht einer Idee, die den Jüngling von Bayreuth unmittelbar nach Berlin zog (im selben Herbst 1826, da er das Zeugnis der Reife mit der Note 1 und dem Prädikat „sehr würdig“ erlangt hatte), und wir vermeinen deutlich den Einfluß Gablers zu verspüren. Der blickte ja nach Berlin damals, wie nur je ein Odin sehnsuchtsvoll nach dem Weisheitsbrunnen Mimirs geblickt haben mag; aber freilich, wer von den Geistigen blickte denn damals nicht dorthin –? Es kam eben nur darauf an, ob man sich überhaupt zu irgendwelchem „Kultus der Ideen“ verstehen wollte; und dazu waren [15] damals in Stirner so gut wie in manchem anderen späteren Apostaten alle Keime gegeben! Dort aber, auf Preußens Katheder, saß Hegel!



Der Student Johann Kaspar Schmidt hat ihn gehört, wie es scheint sogar sehr eifrig und regelmäßig; und auch alle die Magnaten um ihn, Theologen und Geschichtsphilosophen der Hegelschen Rechten und Linken. Viel wichtiger jedoch – im positiven Sinne – ist es vielleicht, hier noch Schleiermacher zu nennen, zwar auch einen „Ideengläubigen“, durch den aber doch in Stirner ganz wohl der Keim jenes leidenschaftlichen Hasses gesenkt sein könnte, mit dem beide das Menschheitsideal des 18. Jahrhunderts, die öde Gleichmacherei des „allgemeinen Menschen“, verfolgt haben. Vorläufiges Ziel des Studenten war indes die Gymnasialkarriere; und so als Altphilologe, der auch eine ganze Menge Geschichtswissenschaft berücksichtigen mußte, hat er wohl hier in dieser ersten Berliner Studienzeit vor allem jene größeren historischen Kenntnisse u. a. nebenher erworben, deren glänzende Verwertung wir im Hauptwerk bewundern. Wenn wir nun aber auch alle Ursache haben, eine gewisse Begeisterung noch in diesen ersten Berührungen mit Hegelschem Bannkreis und Hegelscher Atmosphäre zu vermuten, so wissen wir doch leider nicht das geringste, wie lange diese Stimmung angehalten und ob sie noch währte, als er nach zwei Jahren Berlin verließ, um in Erlangen weiterzustudieren. Dort hatte er Verwandte seiner Mutter; aber wenn dies auch ein Grund für den Universitätswechsel – vollends bezaubert dürfte er nicht mehr von der Berliner Hochschule gewesen sein und die Ansicht, nur an ihr „etwas Rechtes“ zu lernen, jedenfalls [16] auch nicht mehr gehabt haben. Übrigens müssen sich gerade in diesen nächsten vier Jahren bedeutende Wandlungen in dem jungen Menschen vollziehen, aber das Orakel erteilt auf Befragen nur dunkle Antwort. Ein bedeutendes Nachlassen des Studenten, soweit es die offiziellen Kollegia betrifft, ist zu bemerken; ist er unzufrieden mit dem gewählten Beruf, hat Kämpfe mit den Eltern? Im Sommer bleibt er weiter immatrikuliert, hält sich aber gar nicht in Erlangen auf, sondern bringt fast ein volles Jahr auf einer Reise durch Deutschland zu; danach scheint es ausgeschlossen, daß etwa Not, versagende Geldmittel ihm das fernere Studieren verwehrten. Überhaupt spricht nur eines gegen die Annahme, daß, wenigstens zunächst, irgendwelche innerlich ausbrechende Unlust sein Studium für Jahre unterbrochen habe: nämlich der angestrengte, zielstrebende Eifer, mit dem er schließlich doch, nach dreiundeinhalbjähriger Unterbrechung, zur Philologie zurückkehrte und mit fernerer Überwindung größter Hemmnisse und Schwierigkeiten dann nicht ruhte, bis das Staatsexamen absolviert war. Aber eben dies besagt auch am Ende – gar nichts. Blutwenig ist, was die eigentliche Chronik aus diesen dreieinhalb Jahren zu melden weiß, und enthält fast gar keine Aufschlüsse. Nach der Reise sucht er Königsberg auf, läßt sich dort zum dritten Male immatrikulieren, geht jedoch abermals in keine Vorlesungen; vielmehr hat er dort in Königsberg gewisse „Angelegenheiten seiner Familie“ zu besorgen. Ein weiteres Jahr verbringt er in Kulm bei seinen Eltern, „gezwungen durch häusliche Verhältnisse“. Weder die einen noch die anderen sind bekannt; wir wissen nur, daß Baller- [17] stedt seine Apotheke wieder verkauft hatte und als Privatmann lebte, von der Mutter erfahren wir zwei Jahre später, daß sie „geisteskrank“ geworden – hieraus irgendwelche Schlüsse ziehen zu wollen, würde uns gänzlich ins Reich der Hypothese versetzen. Aber wenn der Sohn in dieser ganzen Zeit „seine philosophischen und philologischen Studien privatim keineswegs vernachlässigt“ haben will, so nimmt es doch wunder, da er in Königsberg schon immatrikuliert war und dort einmal lebte, daß er nicht wenigstens die leichte Mühe in acht nahm, seine Semesterzahl zu erhöhen. Freilich kann auch jene Bemerkung über seinen Privatfleiß einzig für die Behörde geschrieben sein, da sie sich in einem offiziell für das Staatsexamen erforderlichen „Curriculum vitae“ befindet; womit wir nicht bezweifeln, daß er sich eifrigst fortgebildet habe – ob aber gerade in den für sein Fach wichtigen philosophischen und philologischen Materien? Weniger Bedeutung wollen wir dem Umstand beimessen, daß sich Feuerbach 1828 an der Erlanger Universität habilitierte und sogleich mit einer Kritik an Hegel vorgegangen war; wer achtete wohl auf den jungen Privatdozenten; und es liegt auch nicht das geringste Zeugnis vor, daß Stirner ihn kennen gelernt, geschweige damals schon Notiz von ihm genommen. Und doch können wir uns dem Eindruck nicht verschließen, als sei jetzt eine innerliche Krise in den Menschen gekommen, die ihm bei aller Gewissenstortur, mit der solche frühesten geistigen Revolutionen – und sei es in einem Stirner – aufzutreten pflegen, fürs erste die Fortsetzung desselben Studiums unmöglich macht. Darüber Auseinandersetzungen mit der [18] Familie; wie in einem Schmollwinkel lange Zeit bei den Eltern in Kulm. Und dort – und das ist das Allerwichtigste vielleicht – der endgültige Beschluß, sein Studium, und zwar dasselbe Studium, das der Vater begünstigt, trotz allem zu Ende zu führen; was für ein moralischer Spleen, es nicht zu tun?! Hier wäre denn zugleich die erste innere Verhärtung entstanden und damit der erste Keim zum späteren Doppel-Stirner gegeben: konziliant nach außen, unbiegsam, radikal im Innersten! Ist es nicht gänzlich gleichgültig, womit ich meinen Leib ernähre, mich von der Familie unabhängig mache, da es doch augenscheinlich nur auf das Durchsetzen meiner Gesamttatsache – wenig auf deren Mittel ankommen kann?! Ich werde nun Gymnasiallehrer, sogar sehr eifrig will ich’s betreiben; und indem ich eine Zeitlang ganz gewissen und bestimmten Zwecken zu dienen scheine, unbeirrt auch die Probelektionen im Katechismus halte, so erfülle ich damit nur eine der tausend Formen, in denen das Ich sich gegen alles Äußere behauptet, um es sich allmählich selbst untertan zu machen . . .

Aber dies alles – und damit kehren wir zur Chronik zurück – bloße Vermutung! Tatsache ist, daß Schmidt 1832 nach Berlin zurückkehrt und nun „in einem ausgedehnten Studienplan, den er entworfen, zeigt, wie ernst es ihm mit seiner Absicht der Wiederaufnahme und Vollendung seiner Studien“ (Mackay) ist. In Berlin sind große Veränderungen vor sich gegangen: Hegel ist tot, und schon ist ein Mann ganz entgegengesetzten Geistes mit gelehrt-exakter Forschung am Werke, die erste Minierarbeit am Riesenbau des Dialektikers zu vollführen. Dieser Mann ist Tren- [19] delenburg und wird nun Schmidts Lehrer; ein eigenartiges Gedankenspiel muß sich vollziehen und das Resultat – weder Hegel noch Aristoteles sein. Aber so eifrig der Anlauf genommen ist, Schmidt verfällt in Krankheit, und abermals ist halbjährige Unterbrechung die Folge. Der Genesene geht indes nur mit verdoppeltem Fleiß auf sein Ziel los und meldet sich schon ein Jahr darauf zum Examen, da besucht ihn von Kulm her unerwartet die Mutter, bei der die Psychose ausgebrochen war, und der Sohn muß sie pflegen. Endlich, Ende 1834, ist er mit den zwei erforderlichen schriftlichen Arbeiten fertig, und April 1835 besteht er die mündliche Prüfung. In zweierlei Hinsicht ist diese Zeit geeignet, Schmidt, wiewohl ganz von fern noch, in allenfalls deutlicherem Licht erblicken zu lassen. Zuerst nämlich im Spiegel der einen jener Arbeiten – die andere, als Übersetzung, kommt wenig in Betracht – eine Abhandlung „über Schulgesetze“, welche als allererstes von ihm selbst herrührendes Dokument nicht genug beachtet, immerhin aber als Ausdruck der Persönlichkeit nur mit Vorsicht gedeutet werden kann, weil schon das aufgetragene Thema, wie man sieht, gänzlich unstirnerisch ist und so – je nach dem damaligen Stande seiner Entwicklung – der Kandidat entweder sehr mit Fleiß oder nur unabsichtlich die gezogenen Grenzen innegehalten hat. Der Biograph findet allerdings, daß schon in dieser Arbeit „der Gedanke lebt und leitet, der später als lodernde Flamme weithin die Welt erleuchten sollte“; das wird uns denn bei der Entwicklung des Stirnerschen Denkens noch zu beschäftigen haben. Aber sehr wichtig können für uns in zweiter Linie auch die Urteile der Examinatoren [20] über den Prüfling sein, ohne daß wir auf den ersten Sinn dieser Urteile heute eben beschränkt wären. Schmidt hatte sich zu viel übernommen, da er in nicht weniger als fünf Fächern, für die unteren Klassen außerdem noch „in den übrigen Gegenständen“ geprüft zu werden verlangte; hieraus erklärt sich am einfachsten die Lücken, welche zumal in der Gesamtbeherrschung des gewöhnlichen Lernkrams überall zutage traten. Dagegen rühmt Trendelenburg den „zusammenhängenden Vortrag, der in Form und Inhalt sehr gelungen war“, den „Fluß der Rede, der sich fast selbst überschlug“ (bis er den Eindruck von etwas Auswendiggelerntem machte!), sowie ein „unverkennbares Talent in allgemeiner und folgerechter Behandlung der Begriffe“; Meineke hebt dazu seine „spekulative Fähigkeit“ hervor. Dann aber sollen ihn wieder an der „freien und natürlichen Auffassung vorgefaßte philosophische Formen, die er dem Gegenstande willkürlich anpaßte“, gehindert haben: sollten das andere als – Hegelsche gewesen sein, oder hat Trendelenburg nur den von ihm bekämpften Spuk stets in der Nähe gewittert? In Grammatik und Mathematik legt er sehr wenig Ehre ein; und ganz allgemein wird die geringe pädagogische Befähigung bemerkt. „Der Kandidat ging in eine Unterredung mit den Schülern nicht ein“, und die „Gleichmäßigkeit seiner Rede ermüdete schließlich“; ein anderes Mal verwirrt er die Versuchsobjekte sichtlich durch das „Gekünstelte mancher Gedankenbestimmungen“, und dann wieder hat sein Vortrag etwas „Mattes und Einschläferndes“. – Sieht man nicht, wie bei diesen Urteilen die Figur des Kandidaten in leisen Umrissen auftaucht?

[21] Aber merkt man auch nicht, was hier vorgegangen ist? Das – ein Lehrer? So gut könnte ich jeden Pedanten schon einen begabten Pädagogen nennen, wie der Laie fortwährend geneigt ist, eine gewisse nervöse Scheu vor der Öffentlichkeit und eine daraus entspringende Gezwungenheit der Bewegungen mit innerer Pedanterie zu verwechseln. Dieses ganze Gebahren Schmidts ist ein krampfhaftes, aufgeregtes; sich selbst überwindet er mit äußerster Anstrengung, da er mit angespannter Hartnäckigkeit auf dieses Examen überhaupt losarbeitet; aber er hat sich’s in den Kopf gesetzt, und es muß wohl auch der materiellen Frage wegen sein – und da begeht er den zweiten Schritt, den man in solchen Fällen tut: er meldet sich zu noch übertriebeneren Leistungen, als er sie ohnedies zu vollbringen nicht imstande ist! Der Kandidat wußte doch, daß er z. B. in Mathematik nicht bestehen werde; aber das ist gerade das Charakteristische, daß er auch nicht an den Ausfall einzelner Fächer denkt, sondern daß er, unpraktisch, in vielem die höhere Stufe seines Allgemeinwissens dartun zu können hofft und doch wiederum in der Absicht, praktisch zu sein, mit mehr Fächern auch mehr Aussicht auf die umfassendere facultas docendi zu haben glaubt! Ist es nicht, als ob wir ihn dann sehen, vor jeder neuen Aufgabe sich immer erst von neuem überwindend, jetzt aber vom Klang der eigenen Stimme ermutigt, nicht rechts nicht links blickend, aus dem Vorrat eigener Gedanken holend – bis es zuletzt gar so abschnurrt, als sei’s einstudiert? Nein, memoriert zu haben scheint er nicht allzuviel – vielleicht gehörte er zu denen, die gar nicht memorieren können; dafür aber, wenn dann das [22] Schweigen bisweilen gar zu peinlich wurde – sollte er seinen Lehrer gar hin und wieder düpiert haben, indem er sich noch rasch an die dialektischen Kunstfechterstückchen seines ehemaligen Meisters erinnerte und wirklich aus „vorgefaßten Formen“ herauszog, was nur zu ziehen war? – Auf Unterredungen mit den Schülern läßt er sich gar nicht ein, es kommt ihm auch nicht darauf an, sie gelegentlich zu verwirren; und er, der Lehrer vor der Klasse, redet „matt und einschläfernd“, als ob er mit sich rede – sehr charakteristisch!

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