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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Indem Stirner den christlichen Tugenden die Ansichheiligkeit nahm, hat er ferner wahre Bollwerke und Festungen der Lüge, der Heuchelei, des Nichtzusichkommens für alle Zeit untergraben. In diesem Kampf, dem Kampf für ein Wahrsein, für Wahrhaftigkeit, hat er denn auch im Grunde sein Lebens- [248] werk gesehen, wiewohl er selbst uns belehrt hat, auch darin etwa nicht jenen Götzen absolut interesseloser Uneigennützigkeit zu finden. Der Mensch ist nicht uneigennützig – rede mir’s nicht ein! Was kann aber eine Religion Wahres an den Tag fördern, die schon in der Wurzel auf einem Mißverstand der menschlichen Natur, einem psychologischen Nonsens beruht? Muß sie nicht alle ihre Bekenner zu Lügnern und Heuchlern erziehen? Zu betrogenen Betrügern? Und warum? Weil menschliches, natürliches Interesse nun einmal für Sünde gilt! Weil Einer, im Verkennen desjenigen, was ihn selbst leitete, Aufopferung, Demut und Unterwerfung als das Höchste pries, darum müssen auch die Nichtaufopfernden, Nichtdemütigen, Nichtunterwürfigen doch den Schein zu wahren suchen! Die Liebe als Pflicht, als Gebot, als kategorischer Imperativ – sie ist das Höchste. Kant hatte eine Moral des Egoismus abgelehnt, weil er sagte, den Egoismus brauche man die Menschen nicht erst zu lehren. Nun, muß man denn aber so unbedingt – lehren, das Entgegengesetzte für gut und wahr halten? „Wenn die Menschen nun einmal nicht alle vernünftig sind – so werden sie es wohl auch nicht sein können!“ sagt Stirner. Sind sie darum die einen besser, die anderen schlechter? Sie mögen sicherlich für dich besser oder schlechter sein: sind sie es darum absolut? Als Forderungen, als Imperative grade haben all diese „Gebote“ der Liebe und Aufopferung das unsägliche Leid über die Menschheit gebracht; der Fanatismus mit seiner Blutgier erschien unausbleiblich in ihrem Gefolge. Eine Stirnerreligion dagegen gibt es nicht; sie ist ein Unding. Und doch [249] steht auch Stirner mit der Liebe auf gar vertrautem Fuße – vertrauter am Ende als ihre Anbeter, die Religiösen! Sie ist ihm nur nicht Pflicht – sie ist ihm Selbstverständlichkeit oder grade herausgesagt: Unmöglichkeit! War sie nicht erlösend, diese Offenheit, Wahrhaftigkeit? Über die menschliche Natur gab er sich, wie nur je die Größten vor ihm, keinen lügnerischen Täuschungen hin. Er urteilte hart über sie und – verurteilte sie nicht. Er urteilte wie Macchiavell, wie Pierre Bayle, wie Voltaire – wahrlich stolze, freie Namen; aber er war noch viel freier, er kam zum Weder-gut-noch-böse. „Denn lohnsüchtig ist der Mensch, und er tut nichts umsonst“ – was folgt daraus für Stirner? Gar nichts. Oder, daß er sich nur ja kreuzigen, kasteien und immerfort vorsprechen soll, seine wahre Bestimmung sei doch das Reich der Liebe? „Nun seht zu, wie weit ihr mit diesem Soll, mit diesem Liebesgebote kommt! Seit zwei Jahrtausenden wird es den Menschen zu Herzen geführt, und gleichwohl klagen die Sozialisten heute, daß unsere Proletarier liebloser behandelt werden als die Sklaven der Alten.“ (Kl. Schr. 143.)

Darum hat Stirner – und das ist sein letztes und höchstes Verdienst – den Menschen die Erde wiedergewonnen, sie vom Himmel der Kreuzigungen und Marterungen wieder zur Freude am Sinnlichen zurückgerufen und ihnen einen tieferen und weniger „ruchlosen“ Optimismus wiedergegeben, als er ihnen jemals durch die Arbeit für verschwommene Kultur- und Menschheitsideale aus einem Selbstbetrug erwachsen konnte. Stellt das Christentum erst das kommende Leben als das wahre hin, so hat Stirner [250] sich schon im Diesseits angesiedelt und „auf sich, den vergänglichen, den sterblichen Schöpfer seiner“ (429), Anfang und Ziel alles Strebens gestellt, nur um sein irdisches Sein, aber auch nur im deutlichen Widerspruch gegen dessen unsinnige Verachtung, den Ring der Wünsche kreisen lassen. Nur wenn der Mensch auch sein Fleisch vernimmt, ist er „vernehmend oder vernünftig“. Wer hat es dir denn gesagt, daß Geburt ein Verbrechen, Leben eine Erbsünde, die Erde ein abgefallener Teufel, die Leidenschaft der Teufel in dir selber? Ich bin so gut, wie ich sein kann – und sollte ich denn ein Geschöpf Gottes oder meiner sein: weder Gott noch ich haben mich offenbar besser machen können, als ich einmal bin! Da ängstigt und drückt und quält sich Jener ganze siebenzig Jahre mit seinen Wünschen und Begierden herum, schwebt sozusagen in beständiger Gottesfurcht, bis – „die Rosen seiner Jugend erblassen in der Bleichsucht seiner Seligkeit“. O Ninon, o Laïs, wie tatet ihr wohl daran, diese blasse Tugend zu verschmähen! ruft Stirner aus. Soll nicht eine Leidenschaft, ein freies, stolzes Verbrechen selbst, tausendmal höher stehen, als die Dutzendphilistrosität des „guten“ und „ehrbaren“ Menschen, der sein Lebtag mit keinem „Gesetz“, keiner „Moral“ in Fehde gerät, weil er aus seiner Natur heraus das auch gar nicht kann, weil ein freier Windhauch ihn umbläst und er bei dem bloßen Gedanken schon stürbe, eine „Sünde“ zu begehen?

Erinnern wir uns, was Schiller von seinem Übermenschen Karl Moor sagt: „Ein Geist, den das äußerste Laster nur reizt um der Größe willen, die ihm anhänget; um der Kraft willen, die es erheischt, um der [251] Gefahren willen, die es begleiten.“ So der hohe Idealist Schiller. Aber Stirner: er hat das Verbrechen gepredigt? Wer es ferner glaubt, mag hierbei stehen bleiben. Für uns ist Stirner – egoistisch, wie wir ihn kritisieren – ein Apostel der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, ein geschworener Feind der Lüge (!) und Heuchelei gewesen. Er hat den moralischen Spleen, den moralischen Dogmatismus, der den Menschen über den Menschen sich zum Richter aufwerfen und ihn erst wirklich lieblos werden läßt, hinter sich gelassen und so die moralische Borniertheit wenigstens für alle Zeit aus dem menschlichen Denken entfernt. Er hat die Menschen wieder die Erde lieben gelehrt . . . Genug für lange Zeiten!

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

III. Teil.

Stirner und ein halbes

Jahrhundert.

[255]

A. Geistige und soziale Entwicklung bis auf Nietzsche.


Stirners Kritik an Sues „Mysterien von Paris“ läßt vielleicht noch am klarsten erkennen, wie er eigentlich aus „Moralität“, aus höherer Moral allein zum Kampf gegen die bestehende verlebte, verrottete gekommen ist. Die höhere Kunst, diejenige, welche sich souveräner als in diesem schwächlichen Roman von je der starken „Guten“ wie der starken „Bösen“ mit gleicher Liebe angenommen hat, sie dient Stirner sogar mehrmals als Vorbild und Hinweis, um seinen für das egoistische Moralprinzip geführten Kampf zu unterstützen. Für einzelne ihrer Lieblinge hatte die Kunst seit Homers Tagen von je eine besondere, eine Einzelmoral in Anspruch genommen und hiermit merkwürdigerweise nicht allzuselten selbst den Applaus der „Gesitteten“ herauszufordern verstanden. Vom Shakespeareschen Hamlet und seinem: „An sich ist nichts weder gut noch böse“ bis zum Byronschen Kain, dem Luzifer über Gott verkündet:
„Als Sieger nennt er den Besiegten böse.

Was aber ist das Gute, das er gibt?

Hätt’ ich gesiegt, so hießen seine Werke

Die einz’gen bösen . . .“


gibt es eine so starke und ununterbrochene Gemeinschaft, welche die einzelnen gefeierten Helden im Protest gegen das fixe Böse verbindet, wie sie stärker auch kaum ein Priester und Moralprediger der alten Tugend bei einem Appell an das „allgemeine sittliche Bewußtsein“ und an den consensus gentium sich nur [256] wünschen könnte! Stirner selbst sah noch wenige Jahre vor dem Erscheinen seines „Einzigen“ das Publikum dem „Danton“ des frühverstorbenen Georg Büchner zujauchzen, der bereits als Immoralist großen Stils auf der Bühne räsonnierte. „Es gibt nur Epikuräer,“ läßt Büchner ihn sagen, „und zwar grobe und feine; Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen hervorbringen kann. Jeder handelt naturgemäß, das heißt, er tut, was ihm wohltut.“ – Ein Nachklang dieses damals oft gegebenen Stückes ist noch bei Stirner zu vernehmen, wo er von der Dantonschen Rede spricht, und auch, wenn öfter das Beispiel gewählt wird: „Robespierre, St. Just waren Pfaffen“ – besessen von ihrer Idee.

Die Philosophie war von jeher schwerer mit dem Bösen fertiggeworden; ja, man kann sagen, daß es seit den ältesten Zeiten das immer wiederkehrende Thema jeder Metaphysik gebildet hat und zahllos zumal die Spekulationen vorliegen, die es mit einer von vornherein für gut und vollkommen befundenen Weltordnung in Harmonie zu bringen suchen. Aber die Gottesidee verwickelt dabei die Denker immer von neuem in die größten Schwierigkeiten und Widersprüche. Ein so erleuchteter Geist wie Leibniz wird ins einer Theodizee beinahe zum schwächlich oberflächlichen Theologen, Kant gelingt es, das kategorische Soll des Sittengebotes nur dadurch zu retten, daß er sich aus der sinnlichen Welt in das Reich einer intelligiblen Freiheit flüchtet, und in der Identitätsphilosophie Schellings lebt das Böse wie weiland in der Mystik Jakob Böhmes als Explikationsprozeß Gottes [257] auf, notwendig genug, um grade am Gegensatz auch erst das Gute aufleuchten zu lassen. Hierin, wie in der oft wiederholten Theorie, daß zu einer absolut-vollkommenen Welt alle Grade der Vollkommenheit zusammenwirken müßten und daß in dieser Stufenleiter das Böse als bloße Privation des Guten so wenig wie irgendeiner der höheren und höchsten Grade fehlen dürfe, steckt eigentlich schon ein naturalistischer Kern: der Verbrecher kann mit gleichem Recht an das Prinzip der sittlichen Weltordnung appellieren, wie der Tugendhafte, der ihn verdammen will.



Mit dem Atheismus Feuerbachs, der die theologische Streitfrage in dieser Sache aufhebt, war auch diese naturalistische Konklusion im Grunde gegeben. So konnte Stirner kommen und die Behauptung aufstellen: die Menschen sind jedesmal, was sie sein könnennenne sie nicht Sünder, so sind sie’s nicht; und in dieser Beziehung, hinsichtlich der ethisch-metaphysischen Spekulation, bedeutet Stirner allerdings vorwiegend ein Ende. Der Naturalismus ist in der Ethik ungefähr, was der Skeptizismus oder Positivismus in der Erkenntnistheorie; praktisch können sie von den bedeutsamsten Folgen sein, während sie theoretisch eigentlich einen Verzicht bedeuten. Der Skeptizismus Humes richtete sich zweifelnd gegen das vermeintliche Wissen ganzer Jahrhunderte der Philosophie, löste es auf und steht so am Ende einer langen Entwicklung des Denkens. Aber positiv bedeutete er zugleich eine kräftige Betonung des empirischen Wissens, und Hume selbst wurde Pfadfinder auf dem Gebiet der empirischen Psychologie; und positiv – so wissen wir zugleich, daß selbst Kants gewaltige Geistestat sich [258] die fruchtbarsten Keime aus dieser Skepsis holte und daß hier Ende und Anfang zweier Epochen sich bereits innig berühren. So war es auf den vorangegangenen Blättern zumal unsere Aufgabe, auf die großen praktischen Konsequenzen einer naturalistischen Ethik wie der Stirnerschen hinzuweisen, sowie die wichtigen Ansätze zu einer neuen positiven Lebensführung besonders hervorzuheben; aber von dem ethischen Grundproblem, woher denn eigentlich die sittlichen Wertunterschiede von Gut und Böse stammten, vom Ursprung des Schuldbewußtseins, von den Beziehungen zwischen physischen und moralischen Werten ist kaum die Rede. An die Stelle theoretischer tritt hier die geschichtliche Betrachtung – d. h. an die Stelle des „Warum“ das einfache „Daß“; das Christentum hat das meiste „Gute“ zum „Bösen“ gestempelt, darum will Stirner dieses „Böse“ erlösen. Aber wie konnte es einmal zum Bösen erst werden, wenn es doch an sich gerade das Gute? – Sobald also die philosophische Betrachtung der sittlichen Unterschiede auf diesem Stadium angelangt ist, so haben wir damit, das ist auch bei der Entstehungsgeschichte des Stirnerschen Denkens bereits angedeutet worden, keinen vorwiegend-neuen ethischen Standpunkt vor uns, sondern mehr skeptisch die Anerkennung einer Grenze des Erkennens, die dem Menschengeiste, der von je zum Dunkelsten und Rätselhaftesten am meisten hingedrängt hat, für die Dauer nicht Fesseln anlegen, ihm nicht genügen wird. Jene Stirnersche Erkenntnis, das wollten wir sagen, ist wie keine andere in der Welt geeignet, die ethische Anmaßung und den sittlichen Dünkel zu dämpfen, die Borniertheit der die [259] menschliche Natur überall im Argen Wähnenden zu beseitigen und den heillosen Fanatismus aller Menschenbeglückungsversuche zu zügeln oder auf vernünftigere Ziele zu lenken. Aber die Spekulation in allen den Dingen, die dem Menschenherz am nächsten liegen, wird sie darum nicht aufheben und künftigen Versuchen, hinter dasjenige zu kommen, was nun wirklich des Menschen wahrstes Heil und seine tiefere Bestimmung, für die Dauer kein Ende bereiten. Wir sagten es bereits: das Zeitalter nach Hegel war müde geworden der metaphysischen Spekulation; und wer wissen will, wie lange diese Müdigkeit gedauert hat – den braucht man nur auf unsere Tage hinzuweisen! Wir sind noch keineswegs gänzlich aus dem Verfall der philosophischen Problembetrachtung seit jener Zeit heraus, wiewohl wir natürlich längst wieder das eine oder das andere philosophische Ereignis hinter uns haben. Erst vor unseren sehenden Augen heute belebt sich wieder das spekulative Interesse – denn ob es tot sei, gestorben im Jahrhundert der Naturwissenschaften, darüber wird den Kundigen besser ein Blick in die Vergangenheit belehren, in jenes Zeitalter, da gerade den heute gewiß nicht übertroffenen Taten eines Kopernikus, Kepler, Galilei die großen und gewaltigen Systeme eines Descartes, Spinoza, Leibniz auf dem Fuße folgten. Wie aber Humes Skeptizismus ein Ende – und doch auch wieder einen Anfang bereits bedeutete, weil nur über dem erschütterten Dogmatismus der Erkenntnis das kritische Gebäude Kants errichtet werden konnte, so ist der Naturalismus Stirners sicherlich für die Ethik auch schon darum von so bleibendem, ewigem Verdienst, weil dem Tieferblickenden [260] auch hier im scheinbaren Ende längst wieder ein neuer Anfang sich vermählt. Wohl haben manche geglaubt, in Nietzsche bereits den kritischen Schöpfer neuer Werte, den „neuen Kant der Moral“ begrüßen zu können; wir glauben das nicht, denn diese beiden Erscheinungen, Stirner und Nietzsche, laufen einander noch ziemlich parallel, wie wir zeigen werden, und beider furchtbarste Stärke ruht vorwiegend noch im Negativen.

Die Anfänge des Materialismus in den dreißiger Jahren, der Positivismus Comtes und der Naturalismus Stirners – sie tragen sämtlich den antimetaphysischen Zug als Grundrichtung ihres Wesens, die Hinwendung des Menschen auf das Diesseits, seine Abwendung von jenen Problemen, die, wie man mehr resigniert zunächst als zynisch glaubt, doch nimmermehr eines Menschen Vernunft enträtseln werde. Bei Stirner ist der Glaube an das Materielle, Sinnliche, noch keineswegs in ein System gebracht, und man findet überall noch metaphysische Spuren; es wird nicht positiv behauptet, daß nur der Leib das Denken schafft, es wird nur gesagt, daß Geistiges nie ohne die „Person“ existiert, also daß Geist und Körper einander stets korrespondieren. Auch stießen wir auf eine metaphysische Wurzel, wo die ewige Existenz eines allgemeinen Ich, eines Urgrundes gleichsam, der von der besonderen Entwicklung der Iche nur immer überdeckt wird, gewissermaßen vorausgesetzt ist (vgl. oben). Dagegen wird nun hinsichtlich des einzig-vorliegenden, individuellen Ichdaseins jede Prä- oder Postexistenz abgelehnt. Das neugeborene Kind ist nach Stirner noch gar nicht „Ich“, weil ohne die Kraft dieses Ich, das Vermögen der Selbstbehauptung, die als gänzliche [261] Selbst- oder Neuschöpfung genommen werden soll: sicherlich nicht, weil sie es ist (Stirner ist ja Determinist), sondern einzig, weil wir es so vorfinden und nicht anders wissen können. Desgleichen wird jeder Blick in die Zukunft abgelehnt; der „sterbliche und vergängliche Schöpfer seiner“ wird jedes Ich genannt, aber wiederum auch ohne besonderen Kampf gegen die Unsterblichkeitslehre, wie ihn Stirner sicherlich nicht unterlassen hätte, wenn das mit dem unmittelbar vorgefundenen Ich auch nur irgend etwas zu tun gehabt hätte! Für das „eigene“, irgendwelche Macht realisierende Ich, das Stirner voraussetzt, kann es sich natürlich nur um die Zeitdauer der ihre Dispositionen „frei“, d. i. lediglich bewußt treffenden Persönlichkeit handeln; was darüber hinausliegt, mag ich anerkennen oder nicht, ich muß es notgedrungen außerhalb meiner Eigentumssphäre setzen. Agnostizismus – keines Dogmatismus, wie er z. B. im wirklich materialistischen Denken von neuem gelegen hätte und wie er notwendig gerade für die Moral vermieden werden mußte.

Diesen Schritt, der also aus dem Stirnerschen Bereich längst wieder hinausführt, tat Feuerbach bald nachher: er wurde Materialist. Es war sicherlich Stirners Kritik, die ihn jetzt auch im Typischen, Gattungsmäßigen, Allgemeinen noch den Rest religiöser Denkart finden und statt dessen den „wirklichen“ Menschen, nicht mehr den generellen, sondern den einzeln-leibhaftigen, als Grundobjekt der Philosophie betrachten läßt; aber keineswegs lag gerade dies noch auf dem Stirnerschen Wege. Das Konkrete, das Sinnengreifliche erklärt er jetzt für den wahren Reichtum der [262] Philosophie und fordert sie auf, sich streng nur an das Gegebene, Empirische, sowie an die Methode der Naturwissenschaft zu halten. Insbesondere, weil einmal der Mensch das wichtigste Sinnenobjekt, so sei die Wissenschaft vom Menschen: Physiologie, zugleich geeignet, die Basis der gesamten Philosophie zu werden. Damit war einer Weltanschauung das Wort geliehen, die bei dem großen Aufschwung, den die von Feuerbach betonten Wissenschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genommen hatten, denn auch in mehr systematischer Form nicht ausbleiben konnte. Auf einer Naturforscherversammlung zu Göttingen 1854 brach der sogenannte „Materialismusstreit“ aus; in seinem Gefolge erschienen die materialistischen Werke von Vogt, Büchner und Moleschott („Kreislauf des Lebens“), welche die zweite Hälfte des Jahrhunderts noch so bildungsfeindlich beeinflußten, daß ein erneuter schwächerer Aufguß dieser Theorien, Haeckels „Welträtsel“, noch vor wenigen Jahren mit Jubel wie ein Evangelium begrüßt werden konnte. Aber wie schon Feuerbach schließlich von seiner eigenen Philosophie erkannte, daß sie strenggenommen „Unphilosophie“ heißen müsse, so gilt dasselbe von dieser Denkrichtung überhaupt, und zwar fällen wir damit zugleich ein Urteil über die Tiefe des durch sie gefundenen Wissens. Denn der Materialismus gleitet nicht nur über alle Voraussetzungen einer prüfenden Erkenntniskritik in sorglosester Weise hinweg, er wird insbesondere auch der gründlichen Erforschung der ethischen Probleme gefährlich, und diese hat im Gegenteil von jeder Lehre des Naturalismus, mag dieselbe sich übrigens noch so widerspenstig zu irgend- [263] welchen positiven Moralsystemen verhalten, nur Belebung und Förderung stets zu erwarten.

Der Materialismus herrschte in Deutschland jahrzehntelang und ließ in weiten Kreisen ein tieferes Verständnis gerade auch für die Moral nicht aufkommen; und mit dieser flammenden Überzeugung von der Notwendigkeit ihrer Neuschöpfung und „Umwertung“, die in Stirner lebte, ist er tatsächlich, wiewohl in vieler Hinsicht ein Kind seiner Zeit, lange vollständig allein geblieben, ist ihr fast um ein halbes Jahrhundert vorausgeeilt. Zwar irrt man, wenn man glaubt, daß der Materialismus in Deutschland jemals eine allmächtige Rolle gespielt hat. Mitten während seiner Hochflut sind so tiefe und gereifte, von echt idealistischem Geist getragene Werke wie die von Gust. Theod. Fechner (Zend-Avesta 1851) und Hermann Lotze (Mikrokosmos 1856 u. f.) entstanden, gewann gerade auch der Spiritualismus durch Herbarts Zurückgehen auf Leibniz von neuem Boden, und ist endlich auch der Einfluß eines andern großen Metaphysikers, den wir sogleich kennen lernen werden, zum ersten Male mächtig geworden. Ja, und in indirekter Weise ist gerade aus der materialistischen Denkart, d. i. aus dem peinlichen Gefühl ihrer Unzulänglichkeit, die Wiedererweckung des tiefsten philosophischen Geistes in Deutschland vor sich gegangen: das war in den sechziger Jahren, als Albert Lange seine „Geschichte des Materialismus“ zu schreiben begann und ihm unter der Feder gleichsam, da er die positiven Verdienste des Materialismus um jede Art empirischer Erkenntnis seit den ältesten Tagen hervorheben konnte, zu gleicher Zeit die Notwendigkeit klar wurde, daß [264] man, um zu höherer abschließender Erkenntnis zu gelangen, auf Kant zurückgehen müsse. Mit alledem war natürlich auch der Moral ein erneutes Interesse gesichert; wie wir denn tatsächlich Zeugnisse der Zeitgenossen haben, welche gerade die subjektiven Denkformen Kants sehr bald auch für die Souveränetät des subjektiven Wollens in Anspruch nahmen.*)



In dieser Langeschen „Geschichte des Materialismus“ (1866), welche einen großen Einfluß ausgeübt hat, finden wir zum ersten Male den Namen Stirners in gerechter philosophischer Würdigung vertreten; es ist dasselbe Werk, durch welches Mackay volle zweiundzwanzig Jahre später auf den um diese Zeit gänzlich Vergessenen gelenkt wurde und das so indirekt die beinahe wichtigste Rolle in der Geschichte der Stirneriana zu spielen berufen war. Es sind noch nicht ein Dutzend Zeilen, die ihm dort gewidmet werden, und vor allem finden wir schon da als Grund für die Kürze der im übrigen doch so rühmlichen Erwähnung angegeben: daß Stirners Einfluß nicht beträchtlich genug gewesen, um eine eingehende Behandlung zu rechtfertigen. Aber zwei andere auffallende Bemerkungen, die in diesen Zeilen enthalten sind, machen den aufmerksamen Leser dennoch stutzig und laden ihn gleichsam von selbst zu längerem Verweilen und stärkerem Nachsinnen ein. Die erste beweist, daß Lange unter allen Stirnerkennern vielleicht der einzige gewesen ist, welcher gefühlt hat, daß die Stirnersche Weltanschauung nach einer positiven Ergänzung geradezu verlangt, und der den „Einzigen“ also vor [265] allem als einen Kampf gegen die fixen Werte und im übrigen als Vorspiel einer neuen Ichmetaphysik begriffen hat. Unsere Darstellung hat bereits auf ein den Keimen nach vorhandenes positives Ideal im „Einzigen“ hingewiesen, aber keineswegs übersehen, daß Stirner selbst noch nicht imstande gewesen ist, es vor Widersprüchen genügend zu schützen, und im übrigen die so wichtige negative Seite vor allem auch betonen zu müssen geglaubt. Der zweite wichtige Fingerzeig Langes liegt in der Zusammenstellung Stirners mit – Schopenhauer; es scheint fast, als habe er die soeben geforderte „positive Ergänzung“ in der Schopenhauerschen Willensmetaphysik, wiewohl nur zum Teil, erfüllt gesehen. Lange hat sich, exakter Logiker, der er war, doch keineswegs dem faszinierenden Einfluß, der seit den fünfziger Jahren plötzlich von der jahrzehntelang unbeachtet gebliebenen Schopenhauerschen Philosophie ausging, entziehen können, aber es erscheint begreiflich, daß ihm erst ein Philosoph, der (mit Schopenhauer) alles Gewicht auf einen tieferen als den beliebigen Individualwillen legt, ohne doch (wie Stirner) das Geringste gerade von einer pessimistischen Wurzel dieses Willens zu wissen, das höchste Interesse erregt hätte. Denn den Pessimismus kann der, wie alle vorwiegend logischen Köpfe, an ein Ideal wissenschaftlicher Uninteressiertheit glaubende Lange natürlich nicht gutheißen; hier scheint ihm der Materialismus überlegen, der von der Welt nicht anthropomorphistisch sagt, sie sei gut oder böse, sondern sie sei eben. Andererseits gehen wir wohl nicht fehlt, wenn wir glauben, daß es – in der Zeit nach Achtundvierzig! – vornehmlich diese Lehre vom Pessimismus, [266] und keine Willenstheorie und keine hochgespannte Metaphysik gewesen ist, welche gerade Schopenhauer die erste Gunst des Publikums damals zugewandt hat. Hierdurch waren also irgendwelche Brücken, die gleichzeitig zu Stirner hätten führen können, keineswegs geschlagen; und wie vollständig, begünstigt von einer gewissen sozialen Strömung, wie wir bald sehen werden, gerade diese eine Seite des Schopenhauereinflusses über alle Stirnerschen Ideen zunächst gesiegt hat und siegen mußte, das können wir an einem der frühesten Schopenhauerianer, keinem andern als Richard Wagner, wie an einem frappanten Beispiel verfolgen. Denn eben Richard Wagner hatte in seiner ersten Zeit eine Entwicklung genommen, die dem Stirnerschen Evangelium der freien Persönlichkeit durchaus nahe gewesen war; er hat auch sicher um die Zeit des Sturmjahres, da er sich selbst an der Revolution beteiligte, Stirners Namen erwähnen hören. Und wie er damals in einer seiner Schriften verkündete: „der eigene Wille sei der Herr des Menschen, die eigene Lust sein einzig Gesetz, die eigene Kraft sein ganzes Eigentum!“ – so verkörpert noch später sein Siegmund den Trotz gegen Götter und himmlische wie irdische Gesetze, begeht Siegmund Blutschande, weil ihm seine Liebe höher steht, als alle Mächte Walhalls. Aber unter Schopenhauers Einfluß kommt derselbe Wagner zuletzt zum Parsifal, zum Ideal des Mitleids und der Askese, welches seinerseits zum Pessimismus in engster Beziehung steht. Und trotzdem liegen tiefere Zusammenhänge gerade auch zwischen Schopenhauerscher und Stirnerscher Weltanschauung: war vorauszusehen, daß – wenn [267] einmal die Lehre vom Leiden, die tatsächlich auch in Schopenhauer selbst ein fremdes (nämlich indisch-buddhistisches) Element darstellt, auf nichts Verwandtes mehr stoßen, dafür die Willenslehre in den Vordergrund treten würde – notwendig das Interesse wieder auch Stirner oder einem Geistesverwandten sich zukehren werde! Derartiges hat Albert Lange instinktiv gefühlt und vorausgesehen, wenn er sagt, Stirner erinnere an Schopenhauer: denn welche Welten noch, welche kolossalen Gegensätze! Aber ist nicht Nietzsche tatsächlich von Schopenhauer und Wagner aus zur Umwertung aller Werte gekommen? Diese Schopenhaueraufnahme in den fünfziger Jahren bildet ein wichtiges Kapitel auch bei Stirner. Der grundsätzliche Antipode Hegels – und der von Hegel bloß Abgefallene; der gewaltige Metaphysiker – und der skeptisch im Diesseits sich Behauptende; der Verächter der Geschichte – und der mit Epochen und Geschichtsaltern Konstruierende; der Verneiner und der Bejaher: dennoch durch den Wert, den beide auf den Willen legen, ohne weiteres zur vergleichenden Betrachtung auffordernd.

Das Hauptwerk Schopenhauers war schon 1818 herausgekommen, also fast ein Menschenalter vor dem „Einzigen“; aber da es, vermehrt um den zweiten Band, lange nach Stirners vorübergehendem Erfolg seinen überhaupt ersten Eingang, wie erwähnt, gefunden hat, so ist ein direkter Einfluß auf Stirner so gut wie ausgeschlossen,*) wie andererseits Schopen- [268] hauer seinen frühesten Grundgedanken späterhin nur noch vertieft und erweitert hat. Um die Zeit, da Stirner am „Einzigen“ schrieb, wird er wahrscheinlich noch den Namen Schopenhauer schwerlich je gehört haben; um so auffallender bleibt bei beiden diese Betonung des Willens, auffallend auch, daß hier beide Male, sobald man das Ziel schärfer ins Auge faßt, ein sich wild gebärdender Drang zur teils offenen, teils heimlichen Resignation geführt hat. Die materialistische Zeitströmung war, wie gesagt, eigentlich gar keiner Metaphysik günstig; aber auch bei Schopenhauer übrigens mancherlei materialistische Elemente, die mit idealistischen keine ganz widerspruchslose Verbindung eingehen. Bald ist nach Schopenhauer das Denken nichts anderes als eine Funktion des Gehirns, bald die Materie selbst bloß subjektive Vorstellung, ähnlich wie bei Stirner das eine Mal Kraft ein einfacherer Ausdruck für Kraftäußerung, also dasselbe, nur von zwei Seiten betrachtet, ist, das andere Mal das Ich die Wahrheiten bewußt erschaffen ( bewirken) bzw. aufheben kann. Das Zentrum aller Berührungen ist jedoch im Verhältnis des Willens zum Individuum zu suchen.

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