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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Anbeten aber, verehren soll der einzelne lauter solche festgewordenen, erstarrten und längst zu Spuk gewordenen Begriffe: bin ich in einer Partei, so soll ich ihr schon mit Haut und Haaren angehören, und bin ein Verächtlicher, wenn ich zu anderen Meinungen komme. Dagegen ist es von mir aus wohl möglich, daß ich heute zu dieser Partei hinneige, ich lasse mich aber nicht binden und bleibe immer nur ihr „Teilnehmer“ (Partie) – werde nie ihr Diener. „Wer sich bindet, der ist gebunden, und wer sich löst, der [186] ist gelöst.“ Der Familie, meinen Eltern, scheine ich immer noch namentlich anzugehören, wenn ich auch längst das, was gegen den „Familiengeist“ ist, gegen die Pietät verstößt, getan habe: dem ist natürlich nicht so! Die körperliche Verbindung mit der Mutter kann nicht weiter reichen, als das Individuum noch kein für sich existierendes Ich an den Tag gelegt, noch keinen eigenen, selbständigen Ichwillen geoffenbart hat. Und wie verhält es sich endlich von hier aus mit dem Eck- und Grundpfeiler der christlichen Moral, mit der Liebe? Wird der Egoist nicht lieben? Auch der Egoist wird lieben, aber die Pflicht der Liebe wird er freilich nicht lieben und als Pflicht auch niemals anerkennen! Das Gebot der Liebe gilt dem Wesen „des“ Menschen, dem Begriff irgend einer Vollkommenheit, die im Menschen realisiert sein soll – gilt einem Spuk, nicht dem einzelnen, wirklichen und leibhaftigen Menschen. Diesen letzteren aber liebe gerade ich, sagt Stirner, und bedarf dazu keiner fremden Ermahnung; ich liebe ihn, weil mich selbst diese Liebe reicher, glücklicher macht. Ich habe Mitgefühl mit einem fühlenden Wesen, ich kann mit ihm mich freuen und über sein Leid eigenen Schmerz empfinden; ja, ich opfere mit Lust ihm unzählige Genüsse, vermag für ihn meine Freiheit, meine Wohlfahrt, mein Leben selbst in die Schanze zu schlagen. Und dennoch opfere ich nicht Mich, brauche mein Selbst dabei keineswegs zu verlieren; denn nicht der Begriff eines höheren und wertvolleren Gegenstandes ist es, der mir die Liebe als Pflicht, die Entsagung als „schuldiges“ Opfer auferlegt – sondern meine Liebe, meine Empfindung, mein Eigentum also, kann mich einzig dazu be- [187] wegen. „Weil Ich die kummervolle Falte auf der geliebten Stirn nicht ertragen kann, darum, also um Meinetwillen, küsse Ich sie weg“ (341). Aufopferung für die geliebte Person ist bei der Liebe sogar das Gewöhnlichere; aber wie gleichgültig wäre dir eben der Gegenstand ohne diese – deine Liebe! (346). „Nur als eines meiner Gefühle hege Ich die Liebe, aber als eine Macht über Mir, als eine göttliche Macht (Feuerbach), als eine Leidenschaft, der Ich Mich nicht entziehen soll, als eine religiöse und sittliche Pflicht – verschmähe Ich sie“ (344). Einen Staat, eine Kirche, ein Vaterland, eine Familie brauche ich nicht zu lieben, ich liebe sie nur, wenn sie sich meine Liebe zu erwerben wissen, und „ich stelle den Kaufpreis meiner Liebe ganz nach meinem Gefallen“ (342). Das nennt Stirner „die Liebe sich wieder vindizieren“, sie aus der Macht des Menschen wieder erlösen (339).

Ist das nun alles ein fürchterlicher Standpunkt, ist es wirklich der Standpunkt eines „Unmenschen“ (s. o.), als welchen sich Stirner ja selbst gern bezeichnet – die bloße Wiederherstellung eines Naturzustandes, aus dem wir uns doch glücklich durch die Humanität einer höheren Kultur gerettet zu haben glaubten? Die Folgerungen, die Stirner an die Wiedereinsetzung der natürlichen Liebe knüpft, scheinen den niedrigeren Standpunkt, auf den wir wieder gelangen sollen, noch stärker zu illustrieren: jedes Leben für sich genommen wird auf ihm zum „Selbstgenuß“ – aller Verkehr mit andern, unser Leben in Gesellschaft mit vielen nichts als: „Weltgenuß“. Konnte Stirner beim „Recht“ noch darauf hinweisen, daß gerade diesem „göttlichen“, unantastbaren, die schreiendsten Widersprüche unter- [188] laufen, da der schurkische, verschmitzte Diplomat zu hohen Ehren gelangt, während der ehrliche, offene Verkünder seiner Überzeugung verfolgt und gebunden wird (67) – was kann der Geliebte dafür, daß der Liebende also eigennützig mit ihm verfährt? Er ist für den Egoisten schließlich die „Speise“, die er verspeist (346), er sucht in ihm lediglich Genuß und Befriedigung seiner selbst, er macht mit dem Geliebten, „was er will“ (394), was er für recht findet – soll das noch Liebe heißen? Und so der ganze Verkehr mit der Welt – worauf läuft er hinaus? „Genießen will Ich sie, darum muß sie mein Eigentum sein, und darum will Ich sie gewinnen. Ich will nicht die Freiheit, noch die Gleichheit der Menschen; Ich will nur meine Macht über sie, will sie zu meinem Eigentum, d. h. genießbar machen“ (372). Soll das noch menschlich heißen? O nein, sagt Stirner, es ist sicherlich unmenschlich, aber das Unmenschliche allein ist das Wahre und Wirkliche. Und wieder steht so ein Wort wie Unmensch vor uns – genug für uns, um bestenfalls ein Paradoxon zu konstatieren. Weiterhin wird der „Mut zur Lüge“ der ichverleugnenden Wahrheitsliebe gegenübergestellt (350); da die Notlüge schon ihre Verteidiger habe, so zeuge es gerade wieder von jenem halben, schwächlichen Egoismus, auf diesem Wege nicht bis zum Äußersten fortschreiten zu wollen. Auch mein Eid kann mich folgerecht nur so weit verpflichten, als ich dem andern ein Recht des Vertrauens zu mir eingeräumt habe; wäre der Spion in Feindesland, dem man durch Eide die Wahrheit aushorchen wollte, wohl durch jene gebunden? (NB. ist aber jeder mein Feind, der den Eid von mir verlangt; vgl. oben). Endlich auf dem Gipfel: [189] Stirner preist das Verbrechen! Indes hier steigen uns am ehesten einige Zweifel bereits auf, ob wir mit dem ersten Wortverstand auch den Sinn des Ganzen schon erfaßt haben. Nimmt er das Wort „Verbrechen“ als Verbrechen, so ist es doch wohl eo ipso verabscheuungswürdig, und er wird uns seinen Vorzug nur schwer glaubhaft machen. „Eine Revolution kehrt nicht wieder, aber ein gewaltiges, rücksichtsloses, schamloses, gewissenloses, stolzes Verbrechen – grollt es nicht in fernen Donnern und siehst du nicht, wie der Himmel ahnungsvoll schweigt und sich trübt?“

Wir kommen nun erst dazu, nachdem wir die einzelnen Lehren zum Teil bloß wortgetreu wiedergegeben haben, durch Verständigung mit der Stirnerschen Terminologie und mit sämtlichen anderen Faktoren, die das Werk selbst da angreiferisch erscheinen lassen, wo in Wirklichkeit nur eine immanente Wahrheit gefolgert wird, Stirners eigentliche und letzte Ansicht von der Erneuerungsbedürftigkeit unserer Moral herauszuschälen.



Stirner ist, vielleicht von seiner Philologie her, die Vorliebe für das Etymologische, für die Aufdeckung der Sprachwurzeln und die Neubelebung von Urbedeutungen verblieben. Er klagt selbst darüber, daß er mit einer Sprache, die von „Philosophen und Sprachverderbern bis zur Unkenntlichkeit entstellt“ worden*) sei, sehr zu kämpfen gehabt habe; aber er [190] hat nicht glücklich gekämpft. Die Übersetzung von „Egoismus“ mit „Eigenheit“ sollte uns alles Übrige klarmachen; wie er hier bis zum Überdruß Angriffe abzuwehren hatte, die sich immer wieder gegen das alte primitive Laster des Egoismus richteten, so war auch der andere nicht weniger wichtige Grundbegriff seiner Philosophie, der „Einzige“, wie man denken kann, von je den ärgsten Mißverständnissen ausgesetzt: es lag zu nahe, ihn mit „Auserlesenheit“ zu deuten – so nahe allerdings, daß man sich billig auch hätte fragen müssen, warum Stirner dieses Wort nirgends verwendet. Sehr oft, wenn Stirner den ursprünglichen Sinn eines Begriffs einmal klargemacht hat, fährt er fort, sich desselben nur noch in dieser Bedeutung zu bedienen, ohne zu besorgen, daß mancher Satz dadurch selbst in sein Gegenteil verkehrt werden könnte. So handelt er auf vielen Seiten von der dem Ich allein rettungsbringenden „Empörung“ im Gegensatz zur unvollkommenhalben, lauen und flauen „Revolution“: und wer vergißt, daß es Stirner lediglich das Wörtchen „empor“ in „empören“ angetan hat, daß er das Sichemporbringen des einzelnen, das Herausarbeiten der Person aus erdrückender Gleichheit im Auge hat, könnte freilich von wunderwelchen Umsturzgelüsten träumen. Speziell ist es Stirners Ansicht, daß erst das Christentum gewisse „ehrliche Wörter zu unehrlichen“ gestempelt habe: Schimpf war früher bloß Scherz usw. – eine Zeitlang sei, bezeichnend genug, das Wort „Vernunft“ selber in Verruf gewesen; aber indem er die unehrlichen Wörter wieder zu ehrlichen machen will – kehrt sich begreiflicherweise die Spitze leicht gegen ihn selber. So kommt es wohl gar vor, daß seine ganze Polemik [191] überhaupt aus etwas Etymologischem erst erwächst und dann die etymologische Deutung mit der Sache selbst wieder von ihm verwechselt wird; am deutlichsten zeigt dies sein Kampf gegen den Staat, dem fast vorwiegend aus sprachlichen Gründen, möchte man sagen, der „Verein“ gegenübergestellt wird. Denn der „Staat“, vom lateinischen „status“ gebildet, soll durchaus entsprechend auch etwas Stehendes, Zuständliches, Erstarrtes schon immer ausdrücken; dagegen zum Verein „vereinen sich“, also sich selber, lebendig, gegenwärtig, die einzelnen, schaffen ihn selbst, lösen ihn selbst wieder auf. Staat und Gesellschaft werden vom einzelnen schon immer vorgefunden mit allen den Vorschriften und Gesetzen, die auf ihn, den Neuen, Niedagewesenen, Einzigen, noch keine Rücksicht genommen haben. Dem Verein trete ich selbst aus eigenem Willen bei, wenn ich glaube, irgendwelchen Nutzen aus ihm ziehen zu können, zur Befriedigung eines bestimmten Interesses usw. Dabei kommt denn aber auch Stirner um ein freiwilliges Aufgeben gewisser anderer Privatinteressen nicht herum, d. i. um den bekannten Kompromiß, aus dem wir gerade die Anfänge des Staates herzuleiten pflegen, und zeigt damit deutlich, daß er wieder gleichsam nur den ursprünglicheren Begriff auch zur eigentlichen Realität herstellen möchte. Aber in diesem Fall z. B. vergißt er doch, daß sein „Einziger“ strenggenommen selbst zu vorübergehenden Verpflichtungen (also dem Verein gegenüber) kaum sich hergeben, noch auch nur unter bewußten Ichen jemals genug Vertrauen finden dürfte: der anerkannt geringen „Stabilität“ seines Willens wegen.

[192] Entsprechend ist nun auch durchaus auf ein ganz natürlich mir eignendes Streben zurückzugehen, um Stirners scheinbares ethisches Ziel in der richtigen Beleuchtung zu sehen: den „Genuß“. Wohl gab es eudämonistische Moral; aber wir suchen sie umsonst bei Stirner. Den Genuß als das Erstrebenswerte, als Aufgabe oder Bestimmung kennt er so wenig wie sonst irgend ein allgemeines Ziel, ein Ideal für alle: sein „Genuß“ ist also immer schon vorhandenes Genießen, das heißt aber nichts anderes als ein jedesmaliges „Zugenießenwissen“ – und sein ärgstes Gegenteil: die Genußsucht, die „Gier“. Mein Leben ist „Selbstgenuß“ – mein Verkehr „Weltgenuß“: aber wie definiert Stirner weiter? Was tue ich also mit meinem Leben? Das große Wort fällt: ich „vertue“ es, ich „lebe es aus“. Wie er bei der Schilderung der Alten sich nicht scheut, unmittelbar nach der Lehre der Stoiker und der Betrachtung des bedürfnislosen Diogenes zu sagen: was suchen sie? Offenbar den größten Lebensgenuß! – so ist es „Genuß“ im Stirnerschen Sinne, das Leben, wie es da ist, zu nehmen und heiter zu bleiben. Das antike Ideal, vor allem möglich des Schmerzes, der Sorge, des Beunruhigenden, der aufregenden Bewegung zu meiden, schwebt ihm immerfort vor, das Leben des antiken Weisen, das „mittlere“ Leben. Der Genuß im gemeinen Sinn ist erpicht auf das Leben, jagt hinter ihm her, sucht es erst einzuholen; „die bisherige Welt sann auf Gewinn des Lebens“ (374). Wie nutzt, wie genießt man aber das Leben? „Indem man’s verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem man’s verbrennt . . . Lebensgenuß ist Verbrauch des Lebens“ (375). „Erst [193] dann, wenn Ich Meiner gewiß bin und Mich nicht mehr suche, bin Ich wahrhaft Mein Eigentum: Ich habe Mich, darum brauche und genieße Ich Mich“ . . . „Ein ungeheurer Abstand trennt beide Anschauungen: in der alten gehe Ich auf Mich zu, in der neuen gehe Ich von Mir aus, in jener sehne Ich Mich nach Mir, in dieser habe Ich Mich und mache es mit Mir, wie man’s mit jedem andern Eigentum macht, – Ich genieße Mich nach Meinem Wohlgefallen. Ich bange nicht mehr ums Leben, sondern ‘vertue’ es. Von jetzt an lautet die Frage nicht, wie man das Leben erwerben, sondern wie man’s vertun, genießen könne; oder nicht, wie man das wahre Ich in sich herzustellen, sondern, wie man sich aufzulösen, sich auszuleben habe“ (375/376). Auch dieses letztere Wort „sich ausleben“ hat, wie man sieht, seit Stirner längst wieder eine andere Bedeutung bekommen; wir werden noch kennen lernen, durch wen.

Nun, ist das alles noch so angreiferische Weisheit, wie es bisher geschienen hatte? (Wir sprechen noch nicht von dem Gegenteil, ob es etwa Lethargie sei.) Ja – aber die so unverkennbar aufreizende Sprache, die dich auffordert, das Eigentum zu nehmen, wo man es dir als unverletzlich hinstellt, das Recht dir selbst zu erteilen, wo die Gesetze es verweigern, dich selbst freizusprechen, wo das Sittengesetz dich verurteilt – diese Sprache muß doch einen Grund haben! Ja, und den hat sie auch; er ist in dem zu suchen, was Stirner den „düpierten Egoismus“ nennt. Wir gehen keineswegs fehl, sondern glauben im Gegenteil den Kern des „Einzigen“ jetzt noch am vollständigsten zu erfassen, wenn wir ihm uns schließlich auch von der negativen [194] Seite her nähern. Mit den grimmigsten Waffen ist Stirner eigentlich nur gegen die Verlogenheit der herrschenden, sog. unegoistischen Moral, deren versteckter Egoismus ihm doch außer allem Zweifel steht, zu Felde gezogen; und von hier aus vor allem ist nun auch die große Bedeutung der Stirnerschen Angriffe zu werten, wie andrerseits jede ihrer positiven Übertreibungen, jedes scheinbare Maßverachten vorzüglich aus dieser Quelle zu leiten ist! „Heiliges existiert nur für den Egoisten, der sich selbst nicht anerkennt, den unfreiwilligen Egoisten, für ihn, der immer auf das Seine aus ist und doch sich nicht für das höchste Wesen hält, der nur sich dient und zugleich stets einem höheren Wesen zu dienen meint, der nichts Höheres kennt als sich und gleichwohl für Höheres schwärmt, kurz für den Egoisten, der kein Egoist sein möchte und sich erniedrigt, d. h. seinen Egoismus bekämpft, zugleich aber sich selbst nur deshalb erniedrigt, ‘um erhöht zu werden’, also um seinen Egoismus zu befriedigen. Weil er ablassen möchte, Egoist zu sein, sucht er in Himmel und Erde umher nach höheren Wesen, denen er diene und sich opfere; aber so viel er sich auch schüttelt und kasteit, zuletzt tut er doch alles um seinetwillen und der verrufene Egoismus weicht nicht von ihm. Ich nenne ihn deswegen den unfreiwilligen Egoisten“ (47/48).

Dazu nun sehe man sich die Bitterkeit an, in die Stirner verfällt, wenn ihm jemand von der bestehenden Welt als einer „egoistischen“ spricht – um sie dadurch zu verkleinern. Ich weiß schon, meint er da, wie gut unsere Welt daran wäre, wenn sie wirklich egoistisch handeln und nicht jeden Augenblick es für [195] nötig befinden würde, den schützenden Schleier über ihre vermeintliche Sünde zu decken. Freilich ist sie es, sie ist egoistisch, das braucht man mir nicht erst zu bekräftigen; „da diese Welt gegen den Teufel eifert, so sitzt er ihr im Nacken“ (Kl. Schr. 140/141). Aber im „Prinzip“, im selbstbetrügerischen Wollen, in der „fixen“ Idee – der sie denn auch als Besessene oft genug verfallen? Da sind sie voll Philanthropie, die Menschen, lassen sich durch Heiligkeiten um ihren Vorteil bringen, schwören auf Bruderliebe, Menschenliebe, Recht und Gerechtigkeit, schwärmen für ein „Füreinandersein“ und „Füreinandertun“. Das ist der Welt heut sicherlich schon schrecklicher Ernst geworden, das „Wohl der Menschheit“, das „Wohl aller Menschen“ und eine aus Gewohnheit heftige Vergeiferung jedes Egoismus! Aber ist eine derartige dem menschlichen Handeln aufgedrungene Basis ein wünschenswerter Zustand, weckt nicht diese Unnatur gerade erst die schlimmsten Befürchtungen – oder zweifelt man etwa, daß eben auch die Lüge zur Not anerzogen und Richtschnur werden kann? „Erkennet euch nur wieder, erkennet nur, was ihr wirklich seid, und laßt eure heuchlerischen Bestrebungen fahren, eure törichte Sucht, etwas andres zu sein, als ihr seid. Heuchlerisch nenne Ich jene, weil ihr doch alle diese Jahrtausende Egoisten geblieben seid, aber schlafende, sich selbst betrügende, verrückte Egoisten, ihr Heautontimorumenen, ihr Selbstpeiniger. Noch niemals hat eine Religion der Versprechungen und „Verheißungen“ entraten können, mögen sie aufs Jenseits oder Diesseits verweisen; denn lohnsüchtig ist der Mensch, und umsonst tut er nichts . . . “

[196] „Aber jenes ‘das Gute um des Guten willen tun’ ohne Aussicht auf Belohnung? Als ob nicht auch hier in der Befriedigung, die es gewähren soll, der Lohn enthalten wäre! . . . Dies gibt denn die Erscheinung des betrogenen Egoismus, wo Ich nicht Mich befriedige, sondern eine meiner Begierden, z. B. den Glückseligkeitstrieb“ (194).

Welche mannigfachen Lügen und Entstellungen, bloße Verkennungen eines wahren Sachverhalts, hat nicht der düpierte Egoismus schon in die Welt gesetzt! Da schuf er die Lüge der Ehe: durch sie wird das gegenseitige Interesse zweier Personen gleichsam festgenagelt und ihnen vorgeschrieben, daß, sollten sie auch einmal das Interesse verlieren – sie es doch eben nicht verlieren dürften! „Was ist die Ehe, die man als ein ‘heiliges Verhältnis’ preist, anders als die Fixierung eines interessanten Verhältnisses trotz der Gefahr, daß es uninteressant und sinnlos werde?“ Man sagt wohl, sie dürfe nur nicht „leichtsinnig“ geschieden werden. Aber warum nicht? Weil der Leichtsinn „Sünde“ ist, wenn es sich um eine „heilige Sache“ handelt. „Da steht dann ein Egoist, der um seinen Leichtsinn geprellt wird und sich selbst verdammt, in einem uninteressanten, aber heiligen Verhältnis, fortzuleben“ (Kl. Schr. 124). Da schuf der betrogene Egoismus ferner den „Stolz des Verdienstes“, als ob die Arbeit an sich eine Ehre sei und man den verachten dürfe, der genieße, ohne zu arbeiten. Weiter schuf er die Verachtung der Hetäre und die Keuschheit als „heiliges Gut“ – schuf überhaupt die Lüge des Heiligen, des „absolut Interessanten“, das noch interessant sein soll, wenn auch kein Mensch sich dafür interessierte, den [197] Glauben „an ein nicht aus dem Egoisten, d. h. dem sich Interessierenden entspringendes, sondern gegen denselben gebieterisches und für sich festes, an ein ‘ewiges’ Interesse. ‘Betrogen’ ist hierin der Egoist, weil sein eigenes Interesse, das Privatinteresse, nicht nur unberücksichtigt gelassen, sondern sogar verdammt wird, und ‘Egoismus’ bleibt es dennoch, weil er auch dieses fremden oder absoluten Interesses sich nur in der Hoffnung annimmt, es werde ihm Genuß gewähren“ (Kl. Schr. 127).

Aber hat nicht Stirners Egoismus die Lüge unverwerflich gefunden? Warum eifert er gegen die Lüge?

Aus einem Grunde, den wir schon oben andeuteten, als wir von dem Handeln sprachen, das zugleich ohne den „freien Mut“ des Handelns geschehe. Die Halbheit von Motiven, ihre Verkennung, die Lauheit und Flauheit des Besinnens – sie muß dem, der das Wesentlichste natürlichen Verhaltens gerade in einem unmittelbaren Wissen und Fürgutbefinden sieht, der aus der Eigenheit nur als dem Selbstverständlichsten alles hervorgehen läßt, für das Widersprechendste eben, für Unnatur gelten! Eigen, ganz eigen bin ich freilich nur dann, wenn ich nicht mehr davor zurückbebe, jede meiner gegebenen Eigenheiten als solche auch nachträglich anzuerkennen, sie zu nehmen, wie sie ist, ohne einen schützenden Lappen darüber zu breiten. Darum spricht Stirner auch wesentlich von einem Mut zur Lüge: wer ihm nachsagt, er empfehle die Lüge, stellt geradezu seine ganze Lehre auf den Kopf. Sie kann Ausdruck einer starken männlichen Entschlossenheit sein, sie kann zuzeiten skrupelloses Mittel werden, das Ich um jeden Preis aus tausend Netzen und Schlingen zu [198] retten – die schwächliche, ängstliche, schuldbewußte Lüge, die den „gerechten Richter“ heimlich nicht los wird, meint Stirner am letzten. So ängstlich aber zittert der Egoismus überhaupt noch im Gewebe der Heuchelei hin und her und „fängt, vom Fluche der Halbheit verfolgt, nur elende Mücken . . .“ „Weil Egoismus, den ihr euch nicht gestehen wollt, den ihr euch selbst verheimlicht, also nicht offenbarer und offenkundiger, mithin unbewußter Egoismus, darum ist er nicht Egoismus, sondern Knechtschaft, Dienst, Selbstverleugnung; ihr seid Egoisten und ihr seid es nicht, indem ihr den Egoismus verleugnet. Wo ihr am meisten zu sein scheint, da habt ihr dem Worte ‘Egoist’ Abscheu und Verachtung zugezogen“ (194).

Noch muß ein anderes Mißverständnis verhütet werden: der heimliche, hier unter anderm auch „unbewußte“ Egoismus hat doch zum Gegensatz keineswegs den bewußten, d. i. denjenigen, der sich’s immer klar (psychologisch) vor Augen hält, er sei Egoismus. Diese psychologische Bewußtheit des Handelns findet sich weit öfter gerade beim uneingeständigen, der jenen bekannten Kampf führt, in welchem das Individuum sich selbst vor seinen Richterstuhl zieht und doch immer geneigt ist, mehr Verteidigung als Anklage für sein Tun zu ersinnen. Egoismus im höchsten Sinne ist es noch immer, wenn sich jemand „mikroskopisch in das Treiben der Infusionstierchen verliert“ (s. o., vgl. Kl. Schr. 123), ohne Besinnen einen Menschen aus Feuersgefahr errettet u. dgl. Wir wissen es schon: diese Selbstvergessenheit ist auch nur eine Weise unserer Befriedigung, „ist Weltgenuß“ (Kl. Schr. 123). „Nicht in diesem Selbstbewußtsein, sondern in dem Vergessen dessen, [199] daß die Welt unsere Welt ist, hat die Uneigennützigkeit, d. h. der düpierte Egoismus, ihren Grund.“ Wie es freilich zu diesem Vergessen kommen konnte, zur Furcht und Scheu damit vor der Welt als einer „höheren“ Welt, zum „Heiligen“ usw. – das untersucht Stirner nicht tiefer; mit Vorliebe weilt er gerade bei der Vernunft der Instinkte, die so auffallend das Beste, den „Nutzen“ immer in Auge haben (384), ohne daß doch jemand einen Stein nach ihnen werfen dürfte. Wenn er dann aber sagt: nur das alte Sündenbewußtsein allein hat alle Schuld und Sünde in die Welt gebracht (302), so suchen wir doch umsonst nach einer letzten Erklärung, woher denn am Ende dieses Bewußtsein einmal entspringen konnte und so dauernd sich zu erhalten wußte. Doch handelt es sich hier vor allem um den Nachweis, daß Stirner nirgends den Egoismus als neue Lehre überhaupt erst bringen, bzw. als neues, bewußtes Verhalten empfehlen will: im Gegenteil kann jetzt mit Fug behauptet werden, daß auch bei Stirner trotz aller scheinbaren Offensive im Grunde nur eine Aufklärung über die wahren Triebfedern unseres Handelns erstrebt und gleichzeitig eine Reinigung unserer Instinkte versucht wird – und zwar lediglich durch das Mittel einer stärkeren Selbstbesinnung. Denn nicht einmal diese selbst steht am letzten Ende der Lehre vom Egoismus; wenn uns dieser nicht wieder Fleisch und Blut wird, wenn wir des Wachens über uns selbst nicht bald wieder zu entraten – also nicht wirklich instinktmäßiger auch wieder zu handeln vermöchten: so würde wohl Stirner selbst den Zweck seiner Lehre verfehlt zu haben glauben! Vor allem aber galt es darum natürlich, mit allen [200] Mitteln gegen das Sündenbewußtsein Sturm zu rennen: denn dieses verhindert ja eben am ärgsten das Wieder-Instinktwerden.

Sieht man jetzt, was die starke Sprache soll? Die Welt trieft von Sünde, alles soll sündhaft und unvollkommen sein; kaum kann man einen Satz mehr aussprechen, ohne an etwas Heiliges zu rühren. „Gebt ein Almosen, so verhöhnt ihr ein Menschenrecht, weil das Verhältnis von Bettler und Wohltäter ein unmenschliches ist; sprecht einen Zweifel aus, so sündigt ihr wider ein göttliches Recht. Esset trockenes Brot mit Zufriedenheit, so verletzt ihr das Menschenrecht durch euren Gleichmut; esset es mit Unzufriedenheit, so schmäht ihr das göttliche Recht durch euren Widerwillen. Es ist nicht einer unter euch, der nicht in jedem Augenblicke ein Verbrechen beginge . . .“ (324) Muß nicht jemand kommen, die Welt zu erlösen, kann er es anders, als indem er das Verbrechen preist – nachdem beinahe schon alles Verbrechen geworden ist?



Man kann daher durchaus mit Recht behaupten, daß die Eigenheit, Stirners „Egoismus“, bei allem Suchen nur einen einzigen grimmen, heuchlerischen und niederträchtigen Feind ans Licht gezogen hat – nur gegen diesen einzigen sich unversöhnlich, unerbittlich und voll furchtbarster Mordgedanken zeigt; nicht gegen den Nachbar und Nächsten, dem sie nur rät, seine Einzigkeit und Einzelnheit nicht zu vergessen, sondern gegen ein – Abstraktum, kein anderes nämlich, als jenes, mit dem sich der ganze erste Teil des Stirnerschen Werkes beschäftigt: es heißt „der Mensch“. „Der Mensch“ ist es von je gewesen, der alles Heilige, alles Ichfremde, die Sehnsucht, das Ideal, das erst [201] verwirklicht werden sollte, schon zu realisieren schien, aber so – als Begriff – tatsächlich nur den düpierten Egoismus, das Sündenbewußtsein geschaffen hat, das alle Unvollkommenheit auf den einzelnen, den persönlichen Menschen häuft; diesem unwirklichen Gattungsideal hat man von je nachstreben zu müssen geglaubt, und dadurch, sagt Stirner, blieb man nicht „bei sich“, nicht in seiner Eigenheit, nicht in der Wirklichkeit des leibhaftigen Menschen. Der „Eigene“ kann nur dieser bestimmte Mensch sein, nicht ein allgemeiner, unwirklicher Mensch. Was war Christus selbst anders als ein Einzelner – Eigener? Durch seinen aber, des Einzelnen, Austritt aus der Allgemeinheit sind Weltreiche zerstört, Götter entthront worden! Staaten sind immer nur durch den Austritt von einzelnen zugrunde gegangen.
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