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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Aber wenn wir glaubten – das soll sich nun [137] herausstellen –, von Descartes ausgehend die neue Wahrheit zu finden und in ihrer Differenziertheit zu verstehen, so war das eben ein Irrtum, sagt uns Stirner. Der Epoche gegenüber, die sein „Ich bin“ heraufführt, gehört auch die gesamte neuere Philosophie noch der vergangenen letzten Weltperiode an, die es gerade zu überwinden gilt; Descartes und Luther haben nur deutlicher ausgesprochen, was das Christentum, die „Neuen“, allgemein als Lehre verkündeten: der Geist „ist“ – Ich aber, der Einzelne, die leibhaftige Person, bin ihm gegenüber nichts! Daß Descartes von seinem wirklichen Ichsein ausgegangen sei, darin täusche man sich eben; von „sich“, d. i. sich selbst sei noch niemand ausgegangen und die gesamte bisherige Menschheitsgeschichte gerade ein Raub am Ich, an der Persönlichkeit gewesen. Um dies glaubhaft und einleuchtend zu machen, schickt Stirner dem zweiten Teil seines Buches, der erst die Konsequenzen des neuen Ausgangspunktes „Ich“ vor Augen führt, die Schilderung zweier durch ihn abgelöster Weltalter voraus, der „Alten“ und der „Neuen“, und betitelt diesen Teil „Der Mensch“. „Der Mensch“ und „Ich“ stehen sich also als Vergangenheit- und Zukunftgeschichte gegenüber: warum aber gerade „Der Mensch“? Wir deuteten es schon in der Biographie an, daß Stirner sich mit allem sehr eng an die letzten bedeutenden Denkereignisse, als welche seinem Kreise Feuerbach und Bruno Bauer galten, angeschlossen hat. Die beiden Mottos des ersten Teiles geben daher die gewünschte Auskunft. „Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen,“ sagt Feuerbach. „Der Mensch ist nun erst gefunden,“ sagt Bruno Bauer. „Sehen wir [138] Uns denn dieses höchste Wesen und diesen neuen Fund genauer an“ – sagt Stirner. Dem nachhegelisch Erzogenen muß es scheinen, als habe die ganze Geschichte wirklich nur dieses Abstraktum, dieses Unpersönliche, diesen Geistspuk zutage gefördert, als sei sie immer noch gerade vom „Ich“ – trotz Descartes – am allerweitesten entfernt. Und indem wir schon hier das Ergebnis dieser eigentlichen Vorbetrachtung, der aber fast die Hälfte des „Einzigen“ gewidmet ist, in kurzen Strichen vorwegnehmen, wird also schon jetzt deutlich, warum nach Stirner das Zeitalter des Ich gerade auch berufen sein soll, an die Stelle des Zeitalters der „Wesensvollkommenheiten“ (Kl. Schr. 150) zu treten. Die „Alten“ waren gewissermaßen welt-, statt ichgläubig, verschwendeten sich gleichsam an die Welt, an das Äußere, die Umgebung; indem sie dahinterzukommen trachteten, verloren sie – sich! Gerade aber, als sie im Begriff standen, „weltlos“ zu werden, d. h. möglicherweise zu sich zu kommen, traten die – „Neuen“ (Christen) auf und gaben sich zwar nicht der Welt mehr hin, die ihnen von vornherein für „überwunden“ galt: dafür aber erhoben sie sogleich einen neuen Herrn und Gott über sich – den Geist, „hinter“ den sie ihrerseits unermüdlich zu kommen suchten, wie die Alten „hinter“ die Welt; und wieder waren auch sie um ihr eigenes Sein geprellt. Endlich die „Neuesten von den Neuen“, die Bruno Bauer und Feuerbach, die den Gott, das Absolute, bekämpften und dadurch, daß sie das außerweltliche Wesen endlich in „den Menschen“ selber hineinzogen, vielen bereits eine neue Menschheitsepoche einzuleiten schienen, – sie haben doch wieder nur den Namen des höchsten Wesens geändert, nicht dieses [139] selbst abgeschafft. Man fährt fort, Diener des Fremden zu sein: „der Mensch“, ein Typus, ein Begriff, ist das neue Ideal, – ist nicht Ich, nicht Du, ist keiner von uns, und indem ich mich vor „dem Menschen“ demütige, bin ich abermals mir selbst, dem bestimmten Menschen, entronnen, abermals „außerhalb meiner“. Es ist aber Zeit, daß ich selbst, ich, der Einzelne, wie ich leibe und lebe, mein Sein aus der Hand keines Anderen, Höheren in Empfang nehme! – Und es folgt (als zweiter Teil) die Schilderung einer Zeit, in der „Ich“ bin.

Die Skizzierung der Weltgeschichte nach einigen großen Gesichtspunkten war keineswegs eine eigenste Stirnersche Schöpfung; im Gegenteil, die ganze Zeit wimmelte von solchen allgemeinen Betrachtungen. Hegel war es, der am großartigsten den Begriff der Entwicklung in der Geschichte verfolgt hatte, aber schon bei Fichte und Schelling finden wir die Ansätze zur konstruktiv-ideellen Erklärung einzelner Zeitalter, nachdem im 18. Jahrhundert bereits Lessing und Herder nach dem „Fortschritt“ gewisser „Ideen“ innerhalb der Jahrtausende gefahndet hatten. Im ganzen haftet allen diesen Konstruktionen, wie wir heut urteilen, obwohl ihnen aus der im tiefsten Kern jedoch völlig anders gearteten darwinistischen Lehre ein neuer Schein der Berechtigung erstehen sollte, etwas gekünstelt Unwahres und Willkürliches an, dem auch Stirner nicht entgangen ist; bei Hegel z. B. läuft schließlich alles auf die Verherrlichung des eigenen, die Wirklichkeit selbst erst vollendenden Systems hinaus. Trotz vieler Anlehnungen im einzelnen weist jedoch die Stirnersche Betrachtung etwas Individuelles auf: indem wir ihn jetzt die angedeuteten Epochen [140] mit den menschlichen Lebensaltern in Parallele bringen sehen (auch dies seinerseits nichts Neues), wird ein tiefinnerer Zusammenhang mit der naturalistischen Grundidee Stirners sich schon hier offenbaren und auf diese selbst, die von Entwicklung nur immer im Sinne einer „Entfaltung“ spricht, ein helleres Licht werfen. Selbst also wenn wir die gesamte Weltgeschichte nicht mit Stirner als einen „Raub am Persönlichen“ nehmen, so ist eben auch mit Stirner keine überhaupt neue Weltperiode eingetreten, der man noch skeptisch gegenüberstehen möchte, sondern im Grunde nur eine neue Besinnung auf etwas, das in der Tendenz, in seinem unverwüstlichen Keim jederzeit vorhanden gewesen ist. Und die einzelnen, die der Stimme ihres Ichs gehorcht haben – sie haben zu allen Zeiten, im Altertum wie unter den Christen (wie Stirner selbst sagt), gelebt; das Ich ist es ja auch gewesen, das seiner Überlegenheit wenigstens über das Weltliche schon einmal inne geworden ist – am Ausgang der Antike! Nichts Schnurgerades in dieser Entwicklung: die „Neueren“ und „Neusten“, obwohl zeitlich durch Jahrtausende von den ersten „Neuen“ getrennt, zeigen sich doch von ihren Anfängen noch wenig entfernt: und so kommt denn auch jetzt (was sehr wichtig ist) das Ich nicht plötzlich als ein neuer Gott – den Stirner ja gerade verjagen müßte –, sondern einfach als allmählich herausgeschälter oder wiederbefreiter Kern ans Licht, an die Oberfläche. Dadurch glaubt nun allerdings auch der Naturalist und Individualist seine Lehre besonders stützen zu können, dadurch nämlich, daß er sie, von allem Zufälligen entfernt, als das Ursprüng- [141] liche vielmehr hinstellen will. Gerade bei Stirner aber, wenn er später so viel „vom sterblichen und vergänglichen Schöpfer seiner“ reden wird, ist es nötig, auf diese echt metaphysische (und romantische) Wurzel im Grunde hinzuweisen. „Jahrtausende der Kultur haben Euch verdunkelt, was Ihr seid“ (193). Die Eigenheit, die Ichheit, das wird die ausführlichere Betrachtung zeigen, hat eine viel, viel tiefere und unergründlichere Wurzel, als ihr selbst bis heut euch zu gestehen wagtet; bisher ließ man ja nie ihre Blüten und Früchte im offenen Licht des Tages fröhlich und unversteckt treiben – und doch wollt ihr wissen, was sie wert sind? Nur daß es Stirner jetzt vorwiegend mit ihnen, die man notwendig immer verkannte, zu tun hat, kann die Meinung aufbringen, als habe er das Ich gar so als Einzelnes und völlig Abgetrenntes zuletzt behandelt; der Abschnitt „der Mensch“ hängt in der Tat auch rein-organisch mit dem des „Ich“ zusammen: „der Mensch“ ist die Vergangenheit eben dieses „Ich“! – Aber ob Stirner selbst dieses Band bis zuletzt gesehen hat? Ob er in den sich allerdings total verschieden äußernden Phasen eines Menschenlebens die Wandlungen eines und desselben letzten Unbekannten, der weder als Kind noch als Jüngling noch als Mann sein vollständiges Ich zur Erscheinung bringt, gesehen hat: das ist und bleibt die Frage.

Den Zeitaltern der Geschichte schickt Stirner also die Schilderung der Lebensalter voraus. Wessen Lebensalter? Doch wohl die des „allgemeinen Menschen“. Es ist charakteristisch, daß der erste Teil das „Allgemeine“ bis zu einem gewissen Grade anerkennt, [142] Zusammenfassungen vieler Iche gewissermaßen auch eine Wahrheit zugesteht; wird das in bezug auf die Ich-Epoche einmal gänzlich ausgeschlossen sein? Was das Knaben-, Jünglings- und Mannesalter anbetrifft, so haben wir freilich schon vermutet, welches bestimmte Ich geschildert wird – haben es unbedenklich für Stirner selbst bereits in Anspruch genommen; was über den Greis gesagt ist, bestätigt es noch: „wenn Ich einer werde, so ist noch Zeit genug, davon zu sprechen“ (23). Stirner weiß noch nichts über ihn zu sagen aus – eigener Erfahrung! Aber die „Alten“ und „Neuen“ sind nun zu „Typen“ gemacht: wenn darin auch kein direkter Widerspruch zu Stirner liegt – denn eben diese „hielten noch nicht“ auf ihr Ich, auf ihre Einzelheit, demütigten sich vor Begriffen –, so hätte es ihn beiläufig auf manche Wahrheit auch des Allgemeinen aufmerksam machen können.

Die Antike ist das Kindheitsalter der Menschheit. Wie das Kind hinter alle Dinge zu kommen trachtet und mit der Wißbegier, zu sehen, was „innen“ ist, sie – zerbricht, so bemüht sich der griechische Geist mit kindlichem Trotz, über das, was ihn umgibt und zugleich seine Schranke scheint, Herr zu werden. Dieser Befreiungskampf der Alten verläuft in drei Stadien. Die Sophisten zuerst erkannten im Verstande eine wirksame Waffe gegen die Welt; sie hielten so viel auf Dialektik und Disputierkunst, denn mit einem „guten Grunde“ konnte man anscheinend alles „wegphilosophieren“. Daraus erhellt, wie durchaus nur „Mittel“ ihnen der Verstand war, Waffe und Werkzeug gegen die Welt (wie dem Kinde sein Trotz) – keineswegs noch etwas Heiliges. Aber das Herz war [143] zu kurz gekommen; der Mensch, dem man alles wegdisputierte, hing umsomehr mit allen Sinnen und Begierden noch an der Welt, und man sah ein, daß man auch so von ihr unterjocht würde und ihr Sklave bliebe. Sokrates leitet daher die Periode der Herzensbildung und Herzensprüfung ein, d. h. er reinigte zuerst das Herz von allem Weltlichen und ließ es für die eigene Seligkeit höher denn für Familie, Gemeinwesen, Vaterland usw. schlagen. Aber das Herz ist schwerer zu überzeugen, als der Verstand; immer wieder klammert sich jenes an die Dinge, wenn sie dieser auch längst als nichtig durchschaut hat. Die Stoiker, die Epikuräer sinnen weiter auf das richtige Verhalten, auf das beste „Sichabfinden“ mit der Welt, auf den vollkommensten Welt- und Lebensgenuß, bei dem man zugleich von den Dingen am wenigsten Kummer und Schaden erleidet. Endlich gelingt es den Skeptikern, zur sophistischen Verstandes- die absolute Herzensbefreiung, „Herzensreinheit“, hinzuzuerobern: „die sophistische Bildung hat bewirkt, daß einem der Verstand vor nichts mehr still steht, und die skeptische, daß das Herz von nichts mehr bewegt wird“ (28). Nun erst lag die Welt überwunden zu den Füßen der Alten; wodurch überwunden? Ursprünglich noch immer nur durch den nackten Scharfsinn – durchaus nichts Heiliges; nicht durch den „Geist“, das „Geistige“, den „heiligen“ Gedanken. Aber der letzte Kampf war ein Kampf auf Leben und Tod gewesen, und unter den letzten Seufzern der Alten wird aus dem Scharfsinn ein – Welterlöser, ein „Geist“, ein Gott! (37). Und die Welt, das Überwundene, liegt zugleich wie etwas Verrufenes im tiefsten Ab- [144] grund; darum geht die neue Zeit, der „Jüngling, mit Welterlösungs- oder Weltverbesserungsplänen um“: das „Nur“-Weltliche zur Höhe und Erhabenheit des Geistes zu führen.

Plato und Aristoteles sind in dieser Skizze nicht berücksichtigt; sie gehörten auch nicht hinein, denn sie antizipieren, jener mit den Ideen, dieser mit dem Nus, die christliche Welt: aber man sieht auch daran, wie schwer es gelingt, das in sich noch immer Verschiedene in einen Rahmen zu pressen. Die „Neuen“, das sind die Christen, machen nun einen ähnlichen Befreiungskampf vom „Geiste“ durch, wie die Alten einen solchen von der Welt. Seine Schilderung nimmt einen bei weitem größeren Raum ein, aber wir wissen nun, worauf es Stirner ankommt – die endliche Überwindung auch dieses „Geistes“ –, und folgen ihm daher nicht so ausführlich im einzelnen, als uns vor allem um eine genaue Definition des Kampfobjekts zu tun sein muß: denn der „Geist“ bei Stirner ist ein Terminus – und gar manchen Windmühlenstreit könnte er hervorrufen.

Was ist also der „Geist“ nach Stirner?

Zunächst wird eine kurze Skizze seiner äußeren Geschichte das, um was es sich handelt, von ungefähr schon erblicken lassen. Drei dem Altertum korrespondierende Perioden sollen sich auch hier unterscheiden lassen; wie im vorsophistischen Stadium Abhängigkeit von den Naturgewalten, so im Mittelalter Abhängigkeit von den kirchlichen Dogmen. Den Sophisten entsprechen die Humanisten, die sich das Spiel des Verstandes gestatten, während ihr Herz christlich bleiben will. Die Reformation endlich ist das sokratische [145] Zeitalter, sie macht „mit dem Herzen selber Ernst, und seitdem sind die Herzen zusehends – unchristlicher geworden“ (35). Auf seiner vollendetsten Spitze wird schließlich aus dem Christentum „leere Herzlichkeit“; nicht etwa Herzlichkeit für den leibhaftigen Menschen, sondern nur „theoretisches Interesse“ für „den“ Menschen. Die Person ist dem Christen widerlich; er liebt nur ihre „Idee“. „Auf diese äußerste Spitze interesseloser Herzlichkeit getrieben, müssen Wir endlich inne werden, daß der Geist, welchen der Christ allein liebt, nichts ist, oder daß der Geist eine – Lüge ist“ (36).

Hier haben wir eine erste Definition des „Geistes“. Der Mensch hat Geist – das würde heißen: so profan oder heilig er, der einzelne Mensch, ist, so profan oder heilig ist auch sein Geist. Der Mensch ist Geist (die „Neuen“, das Christentum), das bedeutet: soviel noch am einzelnen Materie ist, soviel ist offenbar noch nicht in seine letzte und eigentliche Bestimmung eingegangen; soviel aber er, der einzelne, schon Vertreter der Geistidee ist, soweit ist er vollendet. Der Mensch ist mit einem Wort: zwiespältig geworden.

Aber wie kam das, wie konnte er es werden?

Natürlich konnte es nur aus ihm, dem einzelnen Menschen selber, kommen. Alles kommt aus ihm, die Einheit so gut wie der Zwiespalt. Ich kann als geistiger Mensch eine Welt aus mir heraussetzen, als Schöpfung meines Geistes; wird sie dadurch eine selbständige, für sich existierende Welt, kann ich sie nicht beliebig in mich zurückholen, der ich sogar mehr noch als Geist, Leib und Geist in einer Person bin? Von der Beantwortung dieser höchst wichtigen Frage [146] hängt beinahe die ganze Stirnersche Philosophie ab. Stirner trägt, hier noch auf dem Standpunkt der neueren Philosophie, durchaus kein Bedenken, die Frage zu bejahen. Gewiß kann ich mich entzweien; nur bleibe ich darum doch eben „ganz“ – als Person. Dem denkenden Ich aber war im Enthusiasmus des Denkens nur Hören und Sehen vergangen, und statt zurückzunehmen, was es selbst geschaffen, sehnte es sich im Gegenteil nur, ganz Geist zu werden (42). Damit erkenne ich denn, daß es wieder zur Besinnung zu kommen gilt: Realität hat nur die „Person“, habe nur „Ich“, als das Leib-Geistige.

Dies ist das Resultat: das Geistige für sich genommen, getrennt von seinem Schöpfer und Erzeuger, ist: „Spuk“ (51), „Sparren“ (73), „fixe Idee“ (55).

Die Menschen haben nun das Widersinnige fertig gebracht, Gedanken, die sie selbst sich nur von den Dingen machten, als für sich bestehende Existenzen – ja, schließlich erst für das wahre „Wesen“ auch der Dinge zu halten. Sie anerkannten wohl schon, daß die Welt, wie sie sinnlich von ihnen angeschaut wurde, nur ein subjektives Gebilde wäre; aber daß nun der Kern, der Geist, der Gott, den sie als ihren Urgrund sich dachten, eben auch nur Gedanke ihrer selbst: das vergaßen sie jahrtausendelang . . .

Dabei wechselte Wahrheit auf Wahrheit, System auf System, höchstes Wesen auf höchstes Wesen: daß sie selbst, die mit dem „Wahren“ so willkürlich verfuhren und damit in praxi ihr tatsächliches Darüberstehen längst bekundeten, wohl gar am Ende berechtigt wären, das Wahre überhaupt, das Heilige als solches in sich zurückzunehmen: darauf kamen sie nicht . . .

[147] Bei sich fangen die Menschen an: sie scheiden sich in Leib und Geist und heißen allein den Geist das Wesentliche, ihre „wahre“ Natur. Christus, das „sündlose Fleisch“, sollte sie eigentlich schon eines Besseren belehrt haben: so absolut-vollkommen, so ganz „Geist“ ist das, was er vorstellt – aber die Menschen, um nur das lauterste Ideal denken zu können, müssen die Gottidee doch wieder mit Leib und Fleisch bekleiden, müssen den Gott zum Menschen machen! Das bedeutet aber nur, daß der Mensch wirklich so ein erhabenes Wesen, d. h. jeder einzelne; „der leibhaftige oder beleibte Geist ist eben der Mensch: er selbst das grauenhafte Wesen und zugleich des Wesens Erscheinung und Existenz oder Dasein“ (53).

Der „Geist“ erhält nun die verschiedensten Namen und herrscht, wie früher als „persönlicher“ (wiewohl trotzdem „rein geistiger“!) Gott, so jetzt in Gestalt aller möglichen „Ideen“. Es sind aber sämtlich „fixe“ Ideen; und indem die Menschen ihnen „dienen“, statt ihrerseits sie zu beherrschen, gleichen sie allzumal „Besessenen“ (45). „Begegnen Uns etwa bloß vom Teufel Besessene, oder treffen Wir ebenso oft auf entgegengesetzte Besessene, die vom Guten, von der Tugend, Sittlichkeit, dem Gesetze oder irgend welchem ‘Prinzipe’ besessen sind?“ (56). Niemand gibt sich Rechenschaft, warum es so ist, warum er sich so bedingungslos unterwirft, und doch überläuft auch diejenigen, die z. B. mit Gott fertig zu sein glauben, ein „heiliger“ Schauder, wenn man ihnen an irgend ein „Gebot“ der Moral tastet. Der Monarch hat einfach gewechselt; statt der Frömmigkeit hat die Sittlichkeit den Thron bestiegen; liegt irgend ein Grund vor, zu [148] bezweifeln, daß wenn wir nur den Nacken beugen, noch hundert andere Ideen und Prinzipien ihren Fuß darauf setzen? Den Schaden der Sinnenherrschaft, der zügellosen Lüste spürt man bald und wird nicht müde, gegen ihn zu eifern; die Verwüstung, welche mit der vollständigen Auslieferung und Hingabe an die Idee, an ein Heiliges, angerichtet wird, will man nicht sehen. „Fanatisch sind gerade die Gebildeten; sie bezeigen fanatisches Interesse für das Heilige (fanum)“ (57).

Als letzte „Idee“ hat Feuerbach statt des Göttlichen das „Menschliche“ auf den Thron gesetzt: Liebe soll nun kein göttliches Gebot mehr sein, sie ist ein einfach menschliches, Tugend ist nichts Göttliches mehr, sondern das „wahrhaft Menschliche“ usw.: versteht er darunter etwa dasjenige, was alle Menschen von Natur haben? O nein – von Natur haben „alle“ Menschen zusammengenommen überhaupt nichts, sondern jeder einzelne hat nur ihm Gehöriges, nur einmal Vorhandenes! Kein Zweifel, er hat „das Menschliche“ als ein Ideal, als den neuen Gott oder Götzen vor Augen; ihm sollen nun wieder die einzelnen dienen, ihm näherzukommen streben, sich opfern. Sie „sollen“: daran erkennst du die fixe Idee! Vom Sollen, nicht vom Sein, nicht von dir ist die Rede!

Gegen die Hierarchie des Gedankens, die mit Descartes, des Gewissens, die mit Luther einsetzte, war die mittelalterliche Hierarchie der Kirche und der Dogmen eine unschuldige. Der Katholik als solcher ist wenigstens Laie; jeder Protestant aber sein eigener Geistlicher. Der Gedanke wurde innerlicher und wachte nun als „Gewissen“ über die geringste Regung des [149] Christen. „Der Protestantismus hat den Menschen erst recht eigentlich zum geheimen Polizeistaat gemacht.“ An sich weltliche Dinge konnten dem Katholiken durch die Kirche geheiligt werden, nun sind schon die Begriffe selbst, z. B. Familie, Ehe, Vaterland usw. heilig, Respektssachen für den einzelnen geworden. Und wenn die neuere Philosophie allein das „wissenschaftliche Bewußtsein“ zum wahren und einzig anerkennenswerten erhoben hat, so hat sie mir wieder ein Bewußtsein zugemutet, das nicht Meines ist; mein Bewußtsein ist nämlich mit dem wissenschaftlichen keineswegs erschöpft!

Das ist die „Hierarchie“ des Geistes: die Herrschaft der ihrer menschlichen Schöpferbrust entfremdeten und als „Wesen“ verehrten – Begriffe.

Stirner stellt aber noch seiner Zeit besonders ausführlich vor Augen, daß sie auch in den letzten Entwicklungen des „modernen“ oder „freien“ Geistes durch nichts vom Platze gerückt, der zweiten Weltperiode d. i. dem christlichen Zauberkreis keineswegs entronnen sei. Die „Freien“, die „Neueren“ und „Neuesten unter den Neuen“, sie verkündeten damals den politischen, den sozialen und den ethischen oder humanen Liberalismus: in allen drei Erscheinungen weist Stirner noch das ungebrochene Christentum nach, und in bezug auf das Heilige – wieder lediglich einen Thronwechsel.

Dem politischen Liberalismus, der der französischen Revolution zugrunde gelegen, also dem „Bürgertum“ sind fixe Ideen: der Staat, die Nation, die Vernunftherrschaft, die Gesetze usw. An die Stelle des persönlichen, souveränen Machthabers, an die Stelle ein- [150] zelner herrschender Personen ist ein allgemeiner „Volkswille“ getreten, der mit mir, dem Individuum, bei weitem nicht identisch, vielmehr meine individuelle Unterwerfung unter ihn fordert. Um mein Ich bin ich wieder betrogen; und der absolute Herrscher, der sich sträubt, ein konstitutioneller zu werden, weiß schon, warum er es tut: er wird ein Schemen, ein Schatten, etwas Unpersönliches – so recht eigentlich Abbild, Repräsentant jener vom Christentum zum Herrn bestellten „Idee“ (128). Der „Staat“, ein Nicht-Ich, ist das Heilige, Unantastbare; die „Nation“, ein Abstraktum, ist souverän – souveräner, als es je ein König gewesen ist und sein konnte; Begriffe sind souverän geworden, verfügen über mich, den einzelnen. „Was heißt das, Wir genießen alle Gleichheit der politischen Rechte? Nur dies, daß der Staat keine Rücksicht auf Meine Person nehme“ (122).

Dem sozialen Liberalismus ist es nicht genug, daß „die Personen“ gleich wurden; auch das Eigentum soll gleich werden, dadurch daß die ganze Habe an „die Gesellschaft“ fällt. Im Bürgerstaat darf kein einzelner befehlen, in der sozialen Gesellschaft kein einzelner etwas besitzen. Folge: „Vor dem höchsten Gebieter, dem alleinigen Befehlshaber, waren Wir alle gleich geworden, gleiche Personen, d. h. Nullen. Vor dem höchsten Eigentümer werden Wir alle gleiche – Lumpe.“ Dies ist im Interesse der „Menschlichkeit“ der zweite Raub am „Persönlichen“ (140). Willkürlich gibt man uns auch eine neue Würde, die wir wohl oder übel anerkennen müssen: die des Arbeitertums. Die Gesellschaft erhält uns am Leben, dafür nun müssen wir mit Leistungen für sie zahlen. [151] So lange stand noch Erwerb und Arbeit dem Dürfen eines jeden offen; jetzt wehe dir, wenn du zufällig ein Faulenzer wärest! Die Gesellschaft aber, von der wir alles haben sollen, nennt sich umsonst ein Ich, das „geben, verleihen oder gewähren könnte“, dem ich Pflichten oder Opfer schuldig wäre. Sie ist lediglich ein Begriff, eine neue Herrin, ein neuer Spuk. Und man bleibt eben nur dabei, „einem höchsten Geber alles Guten dienen zu wollen“ (146).



Endlich glaubte der humane Liberalismus – gemeint ist der „kritische“, d. i. die „freie Kritik“ Bruno Bauers –, selbst bis zum Angriff gegen so ehrwürdige Begriffe wie Staat, Gesellschaft usw. vorgehen zu dürfen, aber er brachte eigentlich noch die schlimmste Zwangsherrschaft für das Individuum. Denn der Sozialismus schien wirklich vergessen zu haben, daß nicht nur Gut und Geld, sondern auch Meinungen und Gedanken mein Privateigentum genannt werden müßten, und flugs ist es auch um dieses geschehen. „Der Mensch“ ist der große Götze, der aufgerichtet wird; aber „Humanus ist der – Heilige“. Verachtet ist nun sowohl das Bürger-, als das Arbeiterbewußtsein; bloß schlecht verhüllt und übel beraten tritt ja doch hierbei noch der Egoismus des einzelnen zutage, der sich, weil er bei diesen staatlichen oder sozialen Einrichtungen besser zu fahren glaubt, offenbar darum allein nach ihnen sehnt. Das kann dem Humanen unmöglich genügen; im Gegenteil, ohne die geringste Bedenklichkeit, ohne seinen „höheren“ Standpunkt von vornherein auch nur in Zweifel zu ziehen, beginnt er sogleich: „Soll dem Egoismus jede Tür verriegelt werden, so müßte ein völlig ‘un- [152] interessiertes’ Handeln erstrebt werden, die gänzliche Uninteressiertheit. Dies ist allein menschlich“ (149). Das Private, das Aparte, das Besondere dagegen, das ist erst jetzt so recht in Verruf erklärt; man ist in seinem sittlichen Urteil scheinbar aufgeklärter als der gewöhnliche Spießbürger, indem man auch im Verbrecher noch „den Menschen“ erblickt – aber gerade was dieser Verbrecher Individuelles hat, das läßt man an ihm nicht gelten, sondern hebt gerade das hervor, was er mit allen als das Selbstverständlichste teilt. „Der Mensch“ soll das Auszeichnende sein: vielmehr ist es die vollständigste Nivellierung. „Man glaubt nicht mehr sein zu können, als Mensch. Vielmehr kann man nicht weniger sein“ (158). Egoist oder Nichtegoist – das ist für den Humanen die einzige Elle, an der jedes Individuum ohne Unterschied gemessen wird und woraus ohne weiteres dann das Urteil auf Schuldig oder Nichtschuldig sich ergibt. Und so wird von ihm „das letzte mögliche Experiment gemacht, die Ausschließlichkeit und das Abstoßen den Menschen zu benehmen: ein Kampf gegen den Egoismus in seiner einfachsten und darum härtesten Form, in der Form der Einzigkeit, der Ausschließlichkeit selber“ (159). – Er bekam denn am Ende selbst darüber ein schlechtes Gewissen, und deshalb hat die „freie Kritik“ in ihrem höchsten und vollendetsten Stadium die „geistige Freiheit“, das „Recht der freien Meinung“, der „Denkfreiheit“ verkündigt. Aber hat sie damit etwas besser gemacht? Wenn man näher zuschaut: ein neues Dogma, ein Dogma des freien Denkens oder der Kritik! „Stellen die Denkenden nicht an die Angegriffenen die religiöse Forderung, die Macht [153] des Denkens, die Ideen zu verehren? Sie sollen freiwillig und hingebend erliegen, weil die göttliche Macht des Denkens, die Minerva, auf seiten ihrer Feinde kämpft“ (176). Vielleicht aber will Ich, der einzelne, mich wehren – selbst auf die Gefahr hin, daß ich unvernünftig erscheine, daß ich der Unvernunft den Vorzug gebe! Jede Kritik haftet noch an einem fixen Gedanken, einem Dogma, sie ist selbst eine „Priesterin des Denkens“. Irgend eine „Wahrheit“, soviel Vorurteile sie aufgeben mag, bleibt noch immer ihr „energierendes Mysterium“; denn: „von einer Gleichstellung des gedankenlosen und gedankenvollen Ichs ist sie weit entfernt.“ – Zum ersten Male hören wir deutlicher, worauf es der neuen Epoche ankommen wird . . .

Vielleicht aber, meint Stirner, mußte es zu allem Äußersten selbst kommen: ich mußte ganz und vollständig erst ausgezogen werden bis auf den „nackten Menschen“, mußte Null und Lump werden – um mich gerade dieser meiner Nacktheit tiefer zu erinnern: sie erinnert mich an mein ursprünglichstes und unentreißbarstes Wesen wieder – an mein Ich, meine Einzigkeit.

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