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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Es ist schlimm, daß wir an solche Lakonismen aus Stirners Leben überhaupt anknüpfen müssen; aber anderes liegt eben nicht vor. Jedenfalls, meinen wir doch, leuchtet so viel ein, daß diesen Mann der Staat als Lehrer (wie er überhaupt in keinen Beruf taugte) nicht gebrauchen konnte; wo war nur das feste und sichere Auftreten, wo „der Brustton der Überzeugung“, mit dem andere doch wenigstens „Wirkungen“ auf die jungen Herzen erzielen, wenn auch sonst nichts da ist, was man das gewirkte Gute usw. nennen könnte!? Nur die „bedingte facultas docendi“ erhielt daher Schmidt, und zwar mußte jedenfalls das unentgeltlich an einer Schule absolvierte Probejahr vorangegangen sein, um den Erfolg aller Mühe auch dann noch problematisch zu lassen. Vielleicht hat er nun auch darin einen faux pas begangen, daß er für dieses Probejahr eine Realschule wählte – vielmehr die einzige bisher in Berlin bestehende, von dem damaligen Direktor Spilleke in ihrer Form erst geschaffene; sie war noch immer mehr „Versuchsanstalt“, die Regierung doktorte noch immer an ihr herum, und eigentlich [23] begünstigt blieb doch nur das humanistische Gymnasium. Stirners Aufmerksamkeit aber mag die Schule gerade wegen ihrer Reformideen auf sich gezogen haben, und hier haben wir dann allerdings ein Zeugnis, wonach es ihm beim Lehrberuf sogar besonders gefallen haben könnte: er bleibt nicht nur die vorgeschriebene Zeit, sondern, wie es heißt, „aus Liebe zur Sache und zur Anstalt“ sogar noch ein halbes Jahr länger. „Aus Liebe zur Sache und zur Anstalt“; aber weiß man denn, ob er nicht bloß offiziell diese Meinung erwecken, vielleicht auch durch so bekundeten Eifer das geringe Examensresultat wettmachen wollte, da es ihm doch nach allem durchaus auf die schließliche feste Versorgung angekommen zu sein scheint? Aber, wie vorauszusehen, das jetzt eingereichte Gesuch um eine besoldete Anstellung bleibt unberücksichtigt; Stirner, der in allen Nachschlagebüchern als „Gymnasiallehrer“ figuriert, ist niemals Gymnasiallehrer gewesen.

Und nie soll er auch nur wieder einen Versuch gemacht haben, es zu werden! Die Feststellung dieser höchsten Wahrscheinlichkeit vermag für sich genommen ein solches Licht zu verbreiten, daß man aufhören sollte, von Stirner weiter als einem Unverstandenen, Nichtzuverstehenden zu sprechen! Aber dieser Mann ist ja ein Passiver! Dieser Mann stand ja von Anbeginn ganz dicht bei den Träumern und Sichtreibenlassenden, bis er wie alle Träumer zum Ankläger und Skeptiker wurde – dieser Mann hat ja auch bisher, soviel „Eifer“ der Biograph auch gefunden haben will, die Arme nur gebraucht, um sich genau das Plätzchen, auf dem er stand, frei zu erhalten, dieser Mann hat bisher gestrebt, weil man das von Berufs wegen so tut und weil’s [24] auch so eine Art Ausruhen in anderer Hinsicht verstattet, und dann – ja dann, weil’s doch auch „reale Mächte“ im Leben geben soll! Gewiß – ich werde sie genau nach den Regeln der anderen mit dem Sturmbock angreifen, sie mir zu „unterwerfen“ suchen; aber wenn sie nicht nachgiebig sind, auf den ersten tadellosen Wurf nicht fallen – ist’s meine Schuld? Mehr noch – ist’s überhaupt ein Unglück? Ich lebe ja doch! – So beschrieb der Mann schließlich folgerecht alle Wege, die nur je, nach dem Buchstaben nämlich, zu einem Ziele führen sollen, aber darüber hinaus – tat er nicht das Geringste. Bemerkt man nicht, wie der Mensch eigentlich schon jetzt, durch alle diese Jahre, in kolossaler Einsamkeit dasteht? Ganz unnütz des Biographen Bemühen, mehr der Zeugen schon aus dieser Zeit der Entwicklung ausfindig machen zu wollen! Dieser Mensch tut scheinbar alles für einen Beruf – aber das Allerwichtigste dazu, Freunde und Freundschaften erwirbt er sich nicht! Lacht man nicht? Er, der Einsame, will in die verklausulierten Kammern des Staates eindringen! Er lebt in Berlin, aber von irgend einem der Besuche, die die Studenten zu machen pflegen, bei Gönnern und Professoren, hört man nichts. Nie hat er sicherlich eine Größe, einen berühmten Mann, persönlich aufgesucht. Nie hat er um Empfehlungen sich bemüht. Nie ist er zum Minister Altenstein gegangen – um dieses Paradoxon auch nur zu wagen. Weiß man, was Feuerbach für tausend Wege und Bemühungen versucht hat, ehe er zum Einsiedler von Bruckberg wurde? Bei Stirner ist alles wie aus einem Gusse; diese Natur konnte nicht zum staatlich angestellten Beamten werden – und sie wurde es nicht.



[25] Genau zu diesem Bilde paßt alles, was wir aus den nächsten Lebensjahren Stirners erfahren. Er war 1833 in Berlin zu der Hebamme Burtz gezogen, und da er sich dort behaglich genug fühlte, so zog er, kann man sagen, für die nächsten zehn Jahre auch nicht wieder von ihr fort, selbst häufige Umzüge mit ihr teilend. D. h. einmal verließ er sie doch, aber da mag sie selber gern ihre Einwilligung erteilt haben: sie hatte es verstanden, nach vierjährigem Zusammensein ihre zweiundzwanzigjährige Enkelin mit dem „stillen, anspruchslosen“ Mieter zu verheiraten. So wird man wohl sagen dürfen, obwohl wiederum die Akten schweigen und der Biograph beinahe etwas von wirklicher Liebe und Eheglück durchblicken lassen möchte. Aber in dieser Scheu, nach irgendwelcher Richtung hin mit der nüchtern-alltäglichen Außenseite der wirklichen Dinge in zu nahe Berührung zu kommen, war Stirner ja Aristokrat durch und durch; wir halten es für ausgeschlossen – nicht, daß er auch jetzt ein gleichmäßig „glückliches“ Familienleben zu führen wußte, wohl aber, daß seine Seele bei dieser Tochter des Volkes im tieferen Sinne etwas empfand. Wird uns doch auch gerade aus dieser im ganzen nur dreiviertel Jahr dauernden Ehe jener mehr als Bände verratende Zug der Stirnerschen Psyche mitgeteilt, wonach er seine Frau, als diese sich einmal im Schlaf zufällig entblößt hatte, nicht mehr habe berühren können. Diese äußerste Sensibilität, dieses rasche Sichinsichselbstzurückziehen beim fernsten Anklingen von Dissonanzen, charakterisiert das ganze Wesen des Mannes; aber man soll weitergehen und tiefer verstehen, daß solche Schlünde der Aversion sich so dauernd auch nirgends [26] auftun, wo sie nicht eben schon vorher leise verdeckt lagen. Die Ehe war 1837, also kurz nach dem Mißerfolg des „Schulamtskandidaten“, geschlossen worden, schon im August des nächsten Jahres starb, an einer zu frühen Entbindung, samt dem Kinde die junge Frau, und der Verwitwete zog, wie angedeutet, wieder zu ihren Angehörigen.

Aber wie hatte er heiraten können? Ich vermute, daß ihn der Tod seines Stiefvaters Ballerstedt in Kulm, der kurz vorher erfolgt war – die Mutter, ihrer Geisteskrankheit wegen wohl nur nominelle Erbin, bleibt von nun an total verschollen –, in den Besitz eines kleinen Vermögens gesetzt hat. Gewiß nur eines sehr kleinen; schon im nächsten Jahr mag es aufgezehrt gewesen sein, und nun hieß es trotz allem, sich nach irgend „etwas Festem“ umsehen, irgend einer Anstellung, die auch nur halbwegs in das Wesen dieses Menschen hineinging. Und es glückte ihm, wie ich meine, das sozusagen Geräuschloseste, das Unbestimmteste und gleichsam am wenigsten die eigene Haut Ritzende zu finden, nämlich Privatlehrer an einer höheren Töchterschule zu werden. Aber ein Lachen wird gehört; die Allerklügsten, sie werden gar nicht müde, auf diesen „großen Witz“ hinzuweisen, diesen gröbsten Gegensatz zwischen Denken und Leben, Theorie und Praxis. Natürlich, das sagen auch wir, eine neue und auffallende Ironie im Leben dieses Mannes: sowie nämlich schon der gesamte äußere Zuschnitt darin verpfuscht, auf Ironie überhaupt angelegt war. Der hätte freilich in allen seinen Teilen ganz anders und größer ausfallen müssen: unabhängiger Graf etwa, wie Tolstoi, große Besitzungen, Nahrungssorgen etwa so viel, wie [27] sie ein Vanderbilt hat. Daß die staatliche Anstellung an einem Gymnasium natürlich die zehnfach stärkere Ironie gewesen wäre, sehen die meisten gar nicht. Aber es kommt noch viel ärger: die Schulvorsteherinnen, Madame Gropius, später die Fräulein Zepp, schätzen ihn seines „höflichen und ruhigen Wesens“ halber, und auch bei den Schülerinnen ist er „sehr beliebt“; und ein durchaus ernst zu nehmender Gelehrter fragt – wo hatte denn nur „der Erzketzer seine Seele“? Der Erzketzer hat nämlich wirklich, und obendrein während dieser Lehrzeit, einmal niedergeschrieben: „Eine freie Grisette gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern!“ Aber weil er, dem die menschlichen Ordnungen leicht genug waren, um mit ihnen Ball zu spielen, in der ersten Mädchenklasse Geschichte und Literatur gab, weil er, der einzelne, sich im Innersten als durchaus ebenbürtigen Gegner eines ganzen großen Staatswesens wußte und empfand – darum hätte er wohl in halberwachsenen Töchtern, in dem Kreise also, auf den er doch zunächst zu wirken vermochte, die Saat seiner Ideen allererst großziehen sollen? O nein, ich stelle ihn mir sehr gut vor, wie er sich sogar an Madame Gropius’ spezielleren Lehrplan – froh, ihn nicht selbst ausarbeiten zu müssen – recht gern gehalten haben mag; jetzt ist mit den Schülerinnen die „Jungfrau von Orleans“ zu lesen, dann etwa die „Iphigenie“ usf. Das Antiquariat Max Harrwitz in Berlin hat ein Buch aus Stirners Privatbesitz, das um diese Zeit vielleicht von ihm benutzt worden ist: eine – Düntzersche Fausterklärung, Köln 1836, die, nach den vielen an den Rand notierten Zahlen zu schließen, genauer durchgearbeitet und gut und gern [28] als „Faden“ gebraucht sein mag . . . Statt dessen scheinen manche zu verlangen, er hätte lieber entweder verhungern, oder den Mädchen seine Theorie von den sittlichen Konflikten in der Tragödie klarmachen sollen, die alle den Stoff zu komischen Heldengedichten eher als zu Tragödien abgäben. Die einzige Konsequenz seiner Lehrtätigkeit aber – man brauchte nach Lage der Dinge nicht einmal diese zu erwarten – hat Stirner selbst gezogen: kurz bevor sein Werk erschien, gab er die Stellung bei den Fräulein Zepp, nachdem er sie fünf Jahre, von 1839-1844, innegehabt hatte, wieder auf.

Aber unterdessen – der Biograph jubelt – ist es in diesem Leben, zu dem jetzt doch schon Lehrerinnen und Schülerinnen einige kleine Urkunden beisteuern, überhaupt viel klarer und deutlicher geworden: Stirner verkehrt seit Anfang der 40er Jahre, man höre und staune, anscheinend allen sichtbar, vom hellsten Tageslicht bestrahlt, in einem Kreise, der in vormärzlichen Tagen viel von sich reden machte und in der allgemeinen Geschichte der 48er Zeit erhalten bleibt. Dieser Kreis waren die sogenannten „Freien“, nach dem Besitzer der Weinstube, in der sie verkehrten, auch der „Hippelsche Kreis“ genannt. Kein Verein etwa, keine feste Genossenschaft, in seinem steten Sichdehnen und Verengen, Öffnen und Schließen, Fluten und Ebben vielmehr schon äußerlich so recht ein Bild der hundert Köpfe und – Sinne, die sich hier unablässig kreuzten. Darum wird dieses Bild selbst aber auch stets ein „schwankendes in der Geschichte“ sein, und es lassen sich sehr schwer auch nur ein oder zwei der passenden Epitheta finden, mit denen man ein allen [29] Teilnehmern gemeinsames Wollen oder selbst nur „Gerichtetsein“ charakterisieren könnte. Am besten möchte man sie noch sämtlich in eine Kategorie der „Unzufriedenen“ fassen; dies nämlich läßt allenfalls die geistige Brücke erkennen, durch die hier alle – selbst konservative Elemente! – gewöhnlich unterschiedslos in einen Zusammenhang mit der Revolution gebracht werden, den sie tatsächlich, oder als Personen, vielleicht mit zwei, drei Ausnahmen, nicht mehr gehabt haben. „Unzufriedene“; aber womit unzufrieden? Nicht zwei oder drei wiederum, die über dasselbe unzufrieden waren; der eine über den Staat, der andere über die Religion, der dritte über die Gesellschaft usf. Viele verkehrten in dem Kreise, die später seine Feinde wurden, so, bis 1840 etwa, Karl Marx und Friedrich Engels, die ihn nach fünf Jahren einmal in einer bitter-höhnischen Satire übel mitnahmen. Die verschiedenen Zeitströmungen, die sich damals in Deutschland ein Rendezvous gaben und sämtlich miteinander in erboster Fehde lagen, um sämtlich zuletzt von der gleichmachenden Reaktion verschlungen zu werden – hier bei Hippel fanden sie ihren Widerhall, und es soll an wüsten und tollen Lärmszenen nicht gefehlt haben; Szenen, denen noch der eigentliche Gegenstand des Streites zugrunde lag, und – Szenen, wo er vielleicht schon vergessen war und nur die allgemeine Aufregung der Gemüter in erleichternden Zynismen sich Luft machte. An der Tafelrunde nahmen auch Damen teil, so etwa vom Schlage unserer heutigen Studentinnen und Emanzipierten; Grund genug für den deutschen Bierphilister, um sehr bald den „Ton“ des Kreises überhaupt zu verdächtigen und in Verruf [30] zu bringen. Und aus solcher zwiefach traditionellen Einkleidung läßt sich denn für uns Heutige das Urteil über ihn nicht mehr reinlich herauslösen: einmal nämlich nicht aus allerlei Skandalgeschichten, die über ihn erzählt werden, und zweitens nicht aus den widersprechendsten, immer aber einseitig-parteiisch gefärbten Urteilen vorübergehender, hervorragender Besucher. Daß man aber überhaupt zu Hippel gehen zu müssen glaubte, um die rechte Witterung für den geistigen und politischen Horizont jener Jahre zu erkunden, drückt für sich allein und am allerbesten die eigentliche Bedeutung des Kreises aus. Wenn dagegen der schon oben zitierte Forscher mit der Signatur „Bohème“ und „geistiges Messerheldentum“ ein äußerst geringschätziges und vernichtendes Votum über ihn abgegeben haben will, so werden uns im Gegenteil schon einige der dort auftauchenden Namen wie die von Bruno Bauer, Wilhelm Jordan, Rudolf Gottschall, Julius Faucher und – last not least – der Stirners den bei weitem vorurteilsloseren Begriff der Sache von vornherein übermitteln.

Was aber will nun eben Max Stirner, der „Ruhige und Stille“, in dieser Gesellschaft, die, was sie auch gewesen sein mag, den lauten Lärm des Tages und der Gasse jedenfalls nicht gescheut haben kann? – Umsonst der Jubel des Biographen, hier endlich aus dem Vollen schöpfen zu können – verfrüht aber vor allem jede Hoffnung, mit der gewöhnlichen Dutzendpsychologie in die Seele des Mannes dringen zu können, so etwa, indem man rasch die Brücke von den Revolutionären zum Radikalen schlägt und, während die anderen vielleicht die „Konstitution“ von [31] allen Tischen brüllen, ihn das bis dahin nur mühsam zurückgehaltene Wort „Umsturz“ hineinschmettern hört. Das gerade Gegenteil: „So laut und lärmend es sonst bei Hippel zuging, so still und zurückhaltend verhielt sich Stirner.“(Mackay) Ja, ist es doch vornehmlich der Kreis, dem wir das Bild des stillen, undurchdringlichen Menschen überhaupt verdanken! Er sitzt unter all den Aufgeregten „stillvergnügt“, „behaglich“, „wie ein Genußmensch“, dem Rauch seiner Zigarre nachblickend. Ja – und wenn er nun noch wirklich schwiege, so andauernd schwiege, daß seine Schweigsamkeit auffiele, alle möglichen Schlüsse zuließe! Aber, o nein: jetzt ist er ja in offenbar ganz angeregtem Gespräch mit seinem Nachbar! Und hat sich nun eine allgemeine Unterhaltung entsponnen – o, er ist weit davon entfernt, mit dem überlegenen Lächeln des Satans dabeizusitzen, nur zuzuhören. Er lächelt wirklich; jetzt hat er sogar seine eigene, unmaßgebliche Meinung, nur nicht so hitzig wie die anderen, dazugegeben. Ein rechter „höherer Mädchenlehrer“. Es ziemt sich natürlich nicht für ihn, Zynismen einzustreuen; aber – Himmel, wer kennt alle die verschwiegenen Abgründe der menschlichen Seele! – ist ein kühnes Wort mal beim andern heraus, soll er nicht auch herzlich mitlachen? Als Student hätte er sich ebenso betragen . . . Und die natürlichste Konsequenz – schon wird uns unheimlich zumute – stellt sich wie von selbst ein: die anderen nehmen ihn auch genau so, wie er sich gibt! Meisterhaft ist’s geglückt! In allen hat er das Gefühl erweckt – als ob er gar nicht dabei säße. Gewiß, er würde fehlen, wenn er nicht dabei wäre. Aber das ist es ja eben: er hat [32] es verstanden, zum täglichen Wandschmuck zu gehören; nicht dieser – der kahle Fleck erst wäre bemerkt worden!

Und dann steht dieser selbe Mann von den Sitzungen auf und schreibt vielleicht noch in derselben Nacht: „Das Beste an der Sache ist, daß man dem Treiben ruhig zusehen kann mit der Gewißheit, daß die wilden Tiere der Geschichte sich ebenso zerfleischen werden, wie die der Natur; ihre verwesenden Kadaver düngen den Boden für – Unsere Früchte . . .“ („Der Einzige etc.“ S. 78.)

Und dann auch wieder macht derselbe Mann mit den „Freien“ sommerliche Ausflüge nach dem Spandauer Bock, nach Treptow, ist wieder „harmlos vergnügt“. Geht auch wohl ab und zu mit einem viel Jüngeren auf dessen „Bude“, ißt Pfannkuchen und trinkt „selbstgemachten Kaffee“, ohne den Gastgeber zum Dank dafür über die Person seines Gastes näher aufzuklären; feiert „im Kreise guter Freunde“ die Silvesternacht und hat keinen einzigen – Freund!

Kann man sagen, daß sich unser erstes Bild von dem Menschen Stirner durch die laute und aufgeregte Gesellschaft, in die er plötzlich gekommen ist, irgendwie verschoben hat? – Doch, in einigem ja; soviel nämlich, wie eine Zeit von ungefähr zehn Jahren, die Übergangszeit vom Jüngling zum Mann, rein von innen heraus an dieser Natur entwickeln mußte; dagegen aber sind die äußeren Faktoren abermals gering . . .

„Den Mann scheidet es vom Jünglinge, daß er die Welt nimmt, wie sie ist, statt sie überall im argen zu wähnen und verbessern, d. h. nach seinem Ideale modeln [33] zu wollen; in ihm befestigt sich die Ansicht, daß man mit der Welt nach seinem Interesse verfahren müsse, nicht nach seinen Idealen . . .“

„Erst dann, wenn man sich leibhaftig liebgewonnen und an sich, wie man leibt und lebt, eine Lust hat – so aber findet sich’s im reifen Alter, beim Manne –, erst dann hat man ein persönliches oder egoistisches Interesse, d. h. ein Interesse nicht etwa nur Unseres Geistes, sondern totaler Befriedigung, Befriedigung des ganzen Kerls, ein eigennütziges Interesse . . .“

„Darum zeigt der Mann eine zweite Selbstfindung. Der Jüngling fand sich als Geist und verlor sich wieder an den allgemeinen Geist . . .; der Mann findet sich als leibhaftigen Geist . . .“

„Wie Ich Mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muß Ich Mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der Geisterzeit wuchsen Mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie Mich, eine schauervolle Macht. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster, wie Gott, Kaiser, Papst, Vaterland usw. Zerstöre Ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme Ich sie in die Meinige zurück und sage: Ich allein bin leibhaftig . . .“

„Stieß Ich als Geist die Welt zurück in tiefster Weltverachtung, so stoße Ich als Eigner die Geister oder Ideen zurück in ihre ‘Eitelkeit’.“ (Der „Einzige . . .“ S. 21 ff.)

So Worte Stirners; und hier wird schwerlich jemand zweifeln, daß er ein Selbstbekenntnis des Mannes vor Augen habe.

[34] Wie war das alles gekommen? Der alle harten Grenzen der Wirklichkeit überfliegende Idealist; der abermals alle Ufer überrennende – Realist?

Beides aus derselben Quelle, die wir schon andeuteten; die Woge seiner Jugend brach sich schließlich an Steinen, Grenzen, Schranken –, die im Grunde nur diese hypersensible, allzuleicht überreizte Seele gesehen, zum Teil sogar nur vermutet hatte, und im Anprall zurückschäumend, murmelte sie dumpf, anklägerisch – skeptisch – auflösend . . .

Nur ein einziges Mal hatte er seine Fühlhörner an reale Ordnungen streifen lassen – und hatte sie rasch wieder zurückgezogen: sie waren hart; man kommt da nicht hinein. So ohne Freunde, Verbindungen, Protektionen bekommt man nichts. Darum nur noch immer fester in sich hineingewickelt – es ist doch das einzige, was man nicht verlieren kann. Aber Enttäuschung! – auch von da innen her ist für die Länge der Zeit nichts zu erwarten . . . Schon stockt’s . . .; und schon steht auch äußere Not vor der Tür . . . Die Schriften jener Jahre sind schon von ihm verschlungen; vor allem das damals ungeheures Aufsehen erregende „Leben Jesu“ von Strauß: vielleicht stand Befreiung darin? Befreiung nicht; aber dem Alleinstehenden muß unwillkürlich der Gedanke kommen, was für volkbewegende, massenanpackende Ideen doch noch zuweilen in die allernüchternste reale Erscheinungswelt treten können. Das ist eine Art Verbindung wieder . . . Er muß die Lehrerstelle annehmen; dem Lehrer wird aus nächster Nähe Gelegenheit geboten, all den alten Unsinn, mit dem neueste Generationen immer noch aufgepäppelt werden, wiedergekäut zu [35] sehen. Wußten etwa nicht schon sehr viele der Erwachsenen, daß Strauß manche Wahrheit enthielt? Darum tut doch der gute alte Katechismus seelensruhig und unschuldig, als wüßte er von nichts, und wird wahrscheinlich nach hundert Jahren auch noch so tun. Ideen verlieren ihren Glorienschein . . .; der Mann wird schärfer. Aber eines freilich glaubt er noch: daß doch wenigstens andere, die mit klammernden Organen ausgerüstet sind, immer einen starken Wirklichkeitssinn besaßen, durch dick und dünn zu gehen verstanden, bald schmiegsam, bald draufgängerisch waren – daß die es wenigstens in der Welt zu etwas brächten. Da saß er mit einem gewissen Bruno Bauer noch 1827 im Kolleg bei Hegel; wie hatte sich dieser Mensch entwickelt! Der Minister selbst, Minister Altenstein, hatte ihn gleich anfangs unter seine Fittiche genommen, und ob dieser Schützling auch sehr bald ein verdächtig selbständiges und eigentümlich rebellisches Wesen angenommen – noch heute sitzt er auf dem Lehrstuhl zu Bonn, und seine Feder ist gefürchtet in Deutschland . . . Und nun auf einmal, Anfang der 40er Jahre, die wiederum durch ganz Deutschland hallende Kunde: Bruno Bauer abgesetzt, recht eigentlich auf die Straße geworfen! Welchen Eindruck muß das auf ihn machen, der dem Treiben der Welt bisher immer noch vom Dachstübchen der Hebamme Burtz zugesehen! Standen nicht einmal diese tiefgewurzelten Menschen, der Erde heimischste Insassen, fest – nun, so trennten ihn selbst auch nicht mehr so kolossale Abstände von ihnen, den realen Weltbürgern . . .

Und so wird dieser Mann zum Realisten – wird es in genau demselben Sinne, wie er vorher Idealist [36] gewesen: nämlich beide Male als Subjektivist, nur jetzt ein klein wenig mehr vom Zentrum nach der Peripherie drängend. Noch ein Ereignis hilft den Umschwung, wenn es einer ist, vollenden: 1841 erscheint das Hauptwerk des Junghegelianismus, Feuerbachs „Wesen des Christentums“, und wieder scheint eine ungeheure Revolution in den Gemütern vor sich zu gehen. Es konnte gar nicht anders kommen: er, Stirner, der als Jüngling die „Welt“ so ungeheuer verkannt hatte, daß sie ihm nur das Namenlose, das finstere Etwas jenseits alles Ichs zu sein schien – er muß, noch ganz vom Dämmerschein dieses Ich, das er gerade verlassen will, umfangen, zunächst einen unendlich begrenzten Teil, einen winzigen Ausschnitt für die Welt zu halten in Gefahr sein. Gewiß, niemand (so ist ihm jetzt) wird mehr so dumm sein, die Regierung, den Staat, Europa oder dergleichen mit „Welt“ zu bezeichnen; niemand glaubt ja im Ernst mehr an so künstliche Heilige, an Schreckgespenster, an überkommene Begriffe und dergleichen Dinge. Aber was man im vollsten Ernst, ob es gleich nur die höchste Spitze einer gewaltigen Pyramide vorstellt, für diese selbst d. i. den ganzen Ausdruck des Wirklichen, der Realität nehmen könnte, das ist eigentlich nur die von Hegel abgefallene, seiner gänzlichen Überwindung zusteuernde Menschheit, das ist die Gemeinde derer, die diese Bewegung mitzumachen verstanden! Das ist eigentlich einzig die Linie, die bisher von Strauß über Feuerbach zu Bruno Bauer geführt hat; die Linie ist keineswegs zu Ende – aber man muß doch zugeben, daß es die Weltlinie ist . . . Sollte sie schon zu Ende sein? Ideen sind doch dazu da, um zertrümmert zu [37] werden! (Gradmesser: „Ich“, der ich bedeutende Wandlungen erfahre.) Ist Hegel schon zertrümmert? – So wenig, wie es schon alle Ideen sind! Ganz gleich; dies hier ist doch die richtige Welt – und ich befinde mich am rechten Platze . . .

In dem Einsamen rumort Feuerbach. Die Menschheit – ein Ideal – Bruno Bauer, der tapfere Bekenner, abgesetzt – hm; aber das Individuum unvollkommen. Und ein spöttisches Lächeln zuckt auf. („Stille Geneigtheit zum Spott“ – soviel Stirnerisches soll doch immer unter dem Schmidtschen Gewande hervorgelugt haben!) Warum unvollkommen? Dem so sonderbar zum „Realisten“ Gewordenen läßt es keine Ruhe, er muß Bruno Bauer sprechen. Der war von Bonn aus direkt nach Berlin gekommen, wo die große Zahl seiner Anhänger lebte, und hatte sofort eine eifrige apologetische und neuerlich polemische Tätigkeit wieder aufgenommen; den Unterhalt fast der ganzen Bauerschen Familie bestritt er daneben durch einen kleinen Laden, in welchem er seine Angehörigen beschäftigte. Wie gesagt, es ist sehr wahrscheinlich, daß Stirner Bruno Bauer von früher her kannte; wie es auch jetzt fast außer allem Zweifel, daß er nur durch ihn, der die Seele der „Freien“ war, sich bewegen ließ, diese selbst aufzusuchen, und dann im Verkehr mit ihnen eigentlich – Bruno Bauer doch nur meinte. Einzig zwischen diesen beiden nämlich scheint sich jene geistige Fern-Nähe gebildet und dauernd erhalten zu haben, die, ohne aller eigentlichen Freundschaft günstig zu sein, nur die Hörrohre der Verständigung am vorteilhaftesten gebrauchen läßt: doch scheint sich ihrer Bauer, vielleicht schon im satteren Gefühl seiner Bedeutung, [38] weit weniger oft bedient – Stirner dagegen stets und viel, viel sorglicher gehorcht zu haben.

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