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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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An Stelle des Begriffs „Mensch“ tritt also bei Stirner der einzelne, individuelle Mensch: was aber wird nun, so muß unsere letzte Frage lauten, durch ihn realisiert? Wenn nun der Kampf, den Stirner noch zu kämpfen hat, der Kampf gegen Begriffe und Abstrakta, gegen Spuk und Unwirkliches ein Ende hat – was dann? Von Revolution und Unbotmäßigkeit und Empörung, davon spricht zwar noch das ganze Stirnersche Werk – aber dem Eigenen, dem kommenden Eigenen, dem es gilt und dessen Eigenheit sich all die bekämpften Bollwerke nicht mehr entgegenstellen, – ihm muß im Grunde dieser Inhalt so gut ein fremder sein, wie jeder andere! Stirners Egoismus hat im Grunde nichts Angreiferisches – ist er am Ende Quietismus, Willenslosigkeit gerade? „Gerade so viel Unfreiheit, als euch hinderlich in den [202] Weg tritt“, wird die Eigenheit zu beseitigen wissen – so wurde oben die Eigenheit dem Freiheitsstreben gegenübergestellt. Durch die Eigenheit sollte dem Menschen im Gegensatz zur Freiheit, die immer nur „von etwas los“strebt, – ein neuer und bestimmter Inhalt gegeben werden: welcher? Stirner weiß es nicht zu sagen; er schiebt ihn nur den Einzelnen, den Einzigen zu, die darüber (aus ihrer Natur heraus) schon Bescheid wissen würden, und er kann es nur hoffen – glauben, daß dieser neue zu realisierende Inhalt ein anderer sein werde, als ihn die gesamte vorchristliche und christliche Menschheit realisiert hat. Aber einmal ist es doch gesagt: „Der Egoismus ruft euch zur Freude über euch selbst;“ – ruft er denn wirklich? Denen gegenüber, die an der Realisierung des „Mensch“-Ideals arbeiten: sicherlich! Dieser Kampf, um das Gattungsideal „Mensch“ in sich zu verwirklichen, brachte die Qual des Sichunvollkommenfühlens in das Individuum – weil eigentlich zugleich apodiktisch behauptet wird: „Und diese Unvollkommenheit, du Einzelner, wieviel du auch streben magst, wirst du nicht los!“ Was ist aber der Kampf um ein Etwas, das sich bei näherem Zusehen als Unerreichbarkeit gibt? Eine Torheit – sicherlich. Ein schöner Optimismus, dem einzelnen, der aus seiner Sündhaftigkeit und Unvollkommenheit in aeternum nicht herauskann, das Ziel, die Aufgabe zu stellen, an der Vollkommenheit des Ganzen, „des Menschen“, zu arbeiten! Erkenn’ ich’s nur einmal recht, daß mir all diese Arbeit nichts hilft, mich selbst zu nichts Höherem macht – ich lege die Hände in den Schoß . . . Hier legt Stirner tatsächlich die Hände in den Schoß: welche [203] Borniertheit, welches ungraziöse Benehmen, sich zu verrenken! Determiniert von Anbeginn – und sich verrenken! Nein, nenne du das immerhin Optimismus, ich nenn’ es Narrheit, Besessenheit. Ich kenne auch einen Optimismus, eine „Selbstbejahung“ (will Stirner einmal mit Feuerbach sagen) – aber sie verrenkt sich nicht. Sie betrachtet das Leben und wie es ohne allzu quälende und von vornherein „unmögliche“ Wünsche für gewöhnlich heiter ist. Was soll’s auch anders? Der Mensch ist jedesmal, was er sein kann! Der Pessimismus würde meine ewige törichte Sehnsucht nach etwas Unmöglich-Besserem ausdrücken; lassen wir das. Ich verbrauche mein Leben, ich „verwerte mich“. Über der Eingangspforte einer neuen Zeit soll nicht jenes apollinische „Erkenne dich selbst“ stehen – sondern ein: „Verwerte dich!“ (369). Mehr Fatalismus, Quietismus – als Angriff und Empörung. Wenn ich, Stirner, gegen alles Frühere Sturm gelaufen: vielleicht habe ich dich schon mit viel mehr beschäftigt, als du dich selbst beschäftigen wolltest? So hast du recht – und ich gerade war am Ende nahe daran, der Besessenheit zu verfallen, nämlich der fixen Idee, ein Neuerer, ein Bekehrer sein zu wollen! Einmal bricht es denn auch schließlich wie nach langer Zurückhaltung bei Stirner durch – eine letzte Ichsehnsucht, verhaltene Müdigkeit, ein tief fatalistischer, darum aber gerade von jeder Frivolität so ferner Zug: „Endlich aber muß man überhaupt sich alles ‘aus dem Sinn zu schlagen wissen’, schon um – einschlafen zu können“ (391).

Ist dies nun ein letztes, ein allerletztes Ergebnis der Stirnerschen Weltanschauung? Haben wir uns [204] müßigerweise um jene scheinbaren Resultate, die uns auf einem öfter verweilenden und zu frühzeitig Betrachtungen anstellenden Wege bereits entgegengetreten sind, bemüht und bekümmert? Wenn wir alles, was uns anfangs als Positives erschien, jetzt noch einmal zusammenhalten, so sehen wir, daß schwer auch nur eine innere Einigkeit erzielt werden kann. Dringe mitten ins Heilige, verdaue die Hostie, so bist du sie los; du mußt dir zu nehmen wissen, was man dir nicht gibt; kräftige Menschen haben von je die Macht von ihrem Throne gerissen usw.: dies alles scheint noch unverkennbar ein Aufruf zur höchsten Aktivität. Dann wieder standen wir fraglos vor einem Ideal der Mitte, griechischer Besonnenheit; das wahre Ich findet den ruhenden Pol in sich selbst, es gerät nie „außer sich“, es wird nie zügellos weder in Begierden der Sinne, noch im Streben nach dem Ideal. Es erhält sich in Harmonie und Gleichgewicht; es muß offenbar ein völlig waches Bewußtsein bei sich führen, um stets unmittelbar unterscheiden zu können, wieviel zu seinem innersten Wesen gehört und wieviel nicht. „Es darf uns nichts beschäftigen, womit wir selbst uns nicht beschäftigen“ – zweifellos verlangt gerade auch diese Forderung ein hohes Maß von Besonnenheit und weisester Selbsterkenntnis. – Und endlich finden wir auch alle Konsequenzen der fatalistischen Idee gezogen, von der aus schon gegen jede „Aufgabe“ und „Bestimmung“ des einzelnen geeifert worden: aber gerade diese steht eigentlich noch am härtesten zum gesamten Stirner im Widerspruch – weil sie offenbar auch den Kampf gegen die Entzweiung und das Ideal unmöglich macht! Wenn das Individuum [205] jederzeit ist, was es sein kann, dann muß ihm jedenfalls auch u. a. alles idealistische Streben (sofern es hierin gerade sein Eigenstes, seine Ichheit erblicken mag) unbenommen bleiben. Andererseits erfüllt Stirner selbst seinen Egoismus offenbar durch ein Tätigsein, ein Kämpfen für ein von ihm selbst gutbefundenes Ziel, für die Wiedereinsetzung des wahren an Stelle des betrogenen Egoismus. Wenn er nun, wie er sagt, nur sich damit bedient, sich selbst zu Gefallen schreibt – so ist natürlich keinesfalls von Lethargie mehr die Rede. Es mag sein, daß gewisse Iche lethargisch veranlagt sind: so haben sie recht, die Hände in den Schoß zu legen – aber genau soviel wie die Tätigen, denen Handeln die meiste Lust bereitet. Hieraus wird also positiv nicht das Geringste gewonnen, es sei denn ein jedesmaliges „Geltenlassen“: womit aber gerade auch Stirners Kampf gegen die Selbstpeiniger gegenstandslos geworden wäre.



Es wird natürlich auch späterhin gegenstandslos – sofern nämlich die Ich-Epoche erst wirklich einmal angebrochen ist! Das aber ist nun nicht zu vergessen, daß sie in Stirners Buch noch nicht angebrochen ist, weil tatsächlich ja die heilige Hostie noch keineswegs verzehrt ist, – der Tag, an dem auch Stirners Ich sich nicht mehr um Wohl und Wehe der anderen so sorgt, wie es hier noch der Fall, keineswegs erschienen ist. Für diese Zukunft nun ist uns allerdings in positiver Hinsicht einzig das Ideal der Mitte, des wahren, weisen Lebensgenusses übriggeblieben; daß es jedoch durchaus noch keine einwandsfreie Schilderung erfahren hat, ja, daß es zweifellos von Stirner selbst noch in keinem klaren Lichte erblickt worden ist, darf uns [206] nicht wundern. Stirners Buch ist ein Kampf, d. h. ein Hinwegräumen baufällig gewordener Ideale und ein Schaffen neuer Voraussetzungen; unsere Kritik erst kann zeigen, wie es mit diesen selber steht und ob nicht im Widerstreiten mehrerer Grundmotive wirklich eine Gefahr für die künftige Wahrheit selbst gelegen ist. Stirners Weltanschauung ist vorwiegend immer noch eine negative; so aber, daß die Fundamente der kommenden positiven doch bereits angedeutet sind, die Moral, die auf diesen sich erst erheben soll, immerhin vorgezeichnet erscheint. Ist nun der Kampf (die Negativität) vorwiegend gegen den dualistischen, entzweiten Menschen gerichtet, so ist das Ziel also der ganze, einheitliche Mensch; und ist er gegen jenen nur deshalb erhoben worden, um die Qual der Selbstmarterung aufzuheben, so wird also der erstrebte Mensch ein freudiger, heiterer sein. Freudig, heiter ist aber keineswegs derjenige schon, dem die Tollheit und Besessenheit der anderen noch gramvoll an der Leber frißt, – heiter ist offenbar erst derjenige, der den vollkommenen Gleichmut der Seele, eine unerschütterliche Harmonie seines Ichseins zu bewahren vermag – unberührt selbst davon, wie sich die anderen Iche verhalten. Weil Stirner die fixen Ideen der anderen noch kränken, weil er gewissermaßen in diesen doch noch eine „Sünde“ erblickt – darum ist sein eigenes Ich gewissermaßen noch untauglich, Vorbild zu sein, und wir müssen uns zu seinem Kampf das Ich noch ersinnen, das „Ich“ sein wird. Hier aber springt gerade heraus, daß es kein anderes als das ungeteilte, ungekränkte, gleichmäßig-mittlere sein kann: die Spitze des Stirnerschen Denkens krönt nicht umsonst [207] das Evangelium vom „Weder-gut-noch-böse“! Absolviert etwa Stirner schon die Menschen auf der letzten Seite seines Buches? O nein – dann hätte er sie überhaupt, auch ihre fixen Ideen, ruhen lassen müssen! Aber gesucht wird eben noch jener kommende Mensch, das unerschütterliche, mittebleibende Ich, das von keiner „Sünde“ – aber auch von keiner einzigen mehr! – angefochten wird.

Wir haben darum recht, wenn wir gerade auch die Verkündigung des absolut vollkommenen und jederzeit sündlosen Menschen, in welchem Stirners Philosophie auf ihrer höchsten Spitze gipfelt, einzig auf dem Wege der Suche nach dem harmonischen Ideal, und keineswegs am Ende fatalistischer Daseinsbetrachtung erblicken! Nie dürfen wir vergessen, daß Stirner zu kämpfen hat, daß es sich um einen Kampf gegen tausendjährigen Aberwitz und eine unglückselige Entwicklung christlicher Geschichte für ihn handelt, und daß er, um diese ad absurdum zu führen, natürlich auch nach Waffen aus ihrem eigenen Arsenal greift, sich des Widerspruchs zwischen der Erbsünde und der menschlichen Willensfreiheit und Verantwortung bemächtigt. Daß er da trotzig oft entgegenwirft, die Menschen seien immer, was sie zu sein vermöchten, und daß er schließlich auch ihre tausendjährige Besessenheit tatsächlich einmal als notwendige Entwicklung hinnehmen will (421). Sein sonstiges Eifern dagegen auf Hunderten von Seiten spricht zu deutlich davon, daß Stirner in Wirklichkeit an etwas glaubt – in Wirklichkeit an die Möglichkeit glaubt, daß der Sündenfluch der Jahrtausende, die unselige Zwiespältigkeit, von uns genommen werden könne! Wenn [208] er bloß als Fatalist den Unterschied zwischen Gut und Böse von uns nähme, dann bliebe schlechterdings eben auch – sein ganzes Kämpfen unerklärt. Dann würde er nicht so eindringlich von allem jenseitigen Streben gerade auch – positiv – auf den inneren Schwerpunkt, das souveräne Ich, zurückgelenkt haben: denn dann konnte er eben nicht wissen, ob nicht dessen naturgemäße Entwicklung abermals – Entzweiung bedeuten würde. Zu deutlich ist im Gegenteil auf den letzten Seiten noch ein Ziel aufgestellt, zu deutlich vom Außen auf das Innen verwiesen, zu deutlich der Kernpunkt des Gleichgewichts, auf den das Ich sinnen soll, ins Auge gefaßt. Der Fatalismus beruft sich mit Vorliebe nur darauf, daß auch das Böse (der Willensunfreiheit wegen) ein Unvermeidliches sei; es bleibt also gewissermaßen als Böses noch immer bestehen. So ist es nach Stirner keineswegs: sondern bei ihm tauchen am letzten Ende Gutes und Böses als gleichgewichtige Attribute des Ich in dessen Einheit und Harmonie unter, das Ich verfährt, schaltet, handelt vermöge seiner Eigenschaften immer als ganzes Ich – niemals als „gutes“ oder „böses“ oder auch nur gutundböses Ich. Genau hat Stirner selbst die göttliche Heiterkeit schon empfunden, in der allein der brutale, blutige Ernst dieser uralten Gegensätze einmal seine Versöhnung feiern kann; ich bin Eigner der Welt der Dinge und bin Eigner der Welt des Geistes, d. h. ich, das lachende Ich, stehe noch darüber und muß mein Eigentum selbst in Gefahr bringen können – ohne es doch zu verlieren. „Ich hab mein’ Sach’ auf nichts gestellt“, d. h. ich muß selbst Spieler, Jongleur mit allen meinen Eigenschaften sein können, ohne mich doch zu [209] verlieren, denn sonst war meine Einheit keine Einheit! Er sagt es, worauf es ankommt: kein Gedanke so teuflisch, so verwegen, keine Tat so ungeheuerlich und widerrechtlich – als daß nicht mein Ich noch heiter und gebieterisch darüber thronen und Gedanke wie Tat in ihr Nichts zurückrufen kann, sobald sie ihm gefährlich zu werden drohen (419). Aber die Gefahr selbst eben ist nicht zufällig die Domäne des Ich, das Ich kann sie nicht entbehren, denn in ihr zeigt sich gerade am echtesten das Gleichgewicht, die Harmoniekunst der Seele. „Das eben ist der Humor von der Sache. Seinen Humor an den Kleinlichkeiten der Menschen auszulassen, das vermag jeder, der ‘erhabenere Gefühle’ hat; ihn aber mit allen ‘großen Gedanken, erhabenen Gefühlen, edler Begeisterung und heiligem Glauben’ spielen zu lassen, das setzt voraus, daß Ich der Eigner von Allem sei“ (420).

Und von hier aus allein ist Stirner zu seinem letzten Evangelium gelangt – nicht umsonst ein: „Weder“ gut „noch“ böse! Nur Einheit, nur Gleichgewicht; und von hier aus mag man denn ermessen, wie es mit einer Empfehlung, einer Bevorzugung gerade des Bösen, des Lasters, der Sünde bei Stirner bestellt sein kann! – Sünde ist nach Stirner lediglich das Uneinsmitsichsein, das Entzweitsein, das schwächende Schuldbewußtsein; kannst du nicht Souverän bleiben, kannst du nicht von höherer Warte aus das Tun und Treiben der Menschen so wie dein eigenes beurteilen, brauchst du des Unterschiedes zwischen Gut und Böse – so laß um Gottes willen die Hand von der „Sünde“, du bist kein Ich, kein Individueller ( Ungeteilter). Ein ganzes, ein un- [210] geteiltes Ich wird notwendig auch immer für sein ganzes Wesen eintreten und einstehen können; es wird „vollkommen“ jederzeit – auch im ethischen Sinne sein. „Es gibt Wahnsinnige, die sich einbilden, Gott Vater, Gott Sohn oder der Mann im Monde zu sein, und so wimmelt es auch von Narren, die sich Sünder zu sein dünken; aber wie jene nicht der Mann im Monde sind, so sind diese – keine Sünder“ (421). Die innere Disharmonie aber projiziert sich notwendig nach außen, in die Außenwelt: der uneinige Mensch hat auch nur den Sünder draußen erfunden! „Du hast den Sünder im Kopfe mitgebracht, darum fandest du ihn, darum schobst du ihn überall unter. Nenne die Menschen nicht Sünder, so sind sie’s nicht: Du allein bist der Schöpfer der Sünden: du, der du die Menschen zu lieben wähnst, du gerade wirfst sie in den Kot der Sünde, du gerade scheidest sie in Lasterhafte und Tugendhafte, in Menschen und Unmenschen, du gerade besudelst sie mit dem Geifer deiner Besessenheit; denn du liebst nicht die Menschen, sondern den Menschen. Ich aber sage dir, du hast niemals einen Sünder gesehen, du hast ihn nur – geträumt“ (422).

„Ich hab Mein’ Sach’ auf Nichts gestellt“ so beginnt – so schließt der „Einzige“. Wie wir schon oben andeuteten, daß das Nichts ein wohlbegründetes Etwas doch sein könnte – so wird jetzt klar, was es ist: es ist ein Etwas, das so fest in seinen inneren Angeln ruht, daß es selbst mit Mutwillen preisgegeben, in Gefahr gebracht werden, sich jederzeit am Rande des Nichts bewegen kann. Keine ängstliche Sorge, wie sie den ihrer selbst Unsicheren noch innewohnt, [211] quält jenes künftige Ich, das in der Tat das Stirnersche „Nichts“ darstellt: es wird jeden Augenblick aufs Spiel gesetzt, in Todesgefahr gebracht und geht sich selbst doch nicht verloren. Es ist die Eigenheit ihrem höchsten Begriff nach, in höchster Potenz. Sie ist so selbstverständlich, daß sie dem Nichts oder auch dem Etwas gleichgesetzt werden kann: denn auch dieses Etwas liegt ja doch vor – das ganze Stirnersche Werk, sein langer Kampf. Wann werden wir wieder so sicher leben – als heitere Spieler, als die Souveräne des Lebens? Wann werden wir wieder heitere Weltbürger sein, mit beiden Füßen im Irdischen wurzeln – befreit von der lebenzerfressenden Sorge um ein besseres Jenseits?

Das ist die sehnsüchtige Frage des ganzen Buches: „Der Einzige und sein Eigentum.“

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Durchaus auf dem Standpunkt des „Einzigen“ erscheint eine Kritik, die Stirner wahrscheinlich kurz darauf an dem Eugène Sueschen Roman „Die Mysterien von Paris“ geübt hat, der seinerseits unsere Großeltern in einen uns heute unverständlichen Taumel des Entzückens gestürzt hat. Es ergab sich hier die Gelegenheit, an einem klassischen Erzeugnis der verlogenen und heuchlerischen Philistermoral in aller Schärfe und Präzision darzutun, wie innerlich zwiespältig und wurzelkrank im Grunde längst unsere Begriffe von Sittlichkeit und Tugend geworden wären, wie im Innersten mitleidig und moralisch gerade erst der sogenannte Immoralist jenen durch fixe Begriffe ins Unglück gestürzten Menschen gegenüber sich ver- [212] hält; lediglich von diesem, nicht dem künstlerischen Standpunkt aus kritisiert denn auch Stirner, wiewohl hin und wieder ein Wort auch seine der Zeit unendlich überlegene ästhetische Kultur verrät. Mit schneidender Ironie tritt seine Frage immer wieder an die bekehrungssüchtigen, den Menschen noch rechtzeitig aus dem Pfuhl der Sünde retten wollenden Tugendbolde heran, die ihr eigenes eitles Unfehlbarkeitsgefühl prunkend zur Schau tragen: ob sie denn auch über den Wert des von ihnen gepriesenen Guten einmal nachgedacht hätten, ob sie denn ihre aufdringlichen Wahrheiten so unaufkündbar gepachtet hätten, daß sie ruhig noch immer weiter über die Not und den Jammer der einzelnen hinwegzuschreiten und zu triumphieren gedächten! Die ganze Kollision des Romans findet er darin, daß „ein paar Bornierte es miteinander zu tun haben, borniert beide durch den Wahn des Guten und Bösen“ (Kl. Schr. 95). Die Zeit der Bourgeoisie, der Herrschaft des Kapitalismus, so sagte Stirner im „Einzigen“, hält nicht umsonst auf fixe Tugend; sie ahnt nicht von fern den Wert innerer Entwicklung, der freien, selbstgeschaffenen Persönlichkeit. Hier heißt es: der Bankier und der Sittliche messen den Menschen nach gleichem Maß: „Hat“ er Geld, fragt der eine – „hat“ er Tugend, so fragt der andere! Es scheint anfänglich, als ob Marie (die Heldin) durch ihre Entwicklung den „Schandfleck“ früherer Unkeuschheit abwaschen könnte: es scheint so! Die Welt stellt sich wunder wie verzeihend und barmherzig – aber Marie muß dennoch untergehen, und muß es in der „sittlichen“ Welt tatsächlich auch konsequent; denn die Welt vergißt tatsächlich nicht, sieht über den „Schand- [213] fleck“ der Narbe nie hinweg. Aber genau so steht es mit den Lasterhelden und Lasterheldinnen: sie sind in diesem Roman genau so „Lasterbesessene“, wie jene „Tugendbesessene“, sie handeln von A bis Z in schnurgerader Linie aus der fixen Idee des Lasters heraus und weisen in ihrem entgegengesetzten Handeln doch wieder keine Spur von Selbstschöpfung und Selbstangehörigkeit auf. Sie sind hier alle in diesem Roman um „die letzte Möglichkeit gebracht“, jemals „eigene“ Menschen zu sein oder zu werden. – Es ist die Eigenheit, von der wir oben auf vielen Seiten berichtet haben.

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[214]

C. „Freie“ (reine) und „egoistische“ (eigene) Kritik.


Schöne Unparteilichkeit, wer deinen idyllischen Frieden genösse. Ich aber mag dich nicht, nicht die Fülle deiner Genüsse, nicht deine wunderselige Allseitigkeit, nicht deinen Frieden, nicht deine Unschuld!

(Max Stirners „Kleinere Schriften“.)


Alle Kritik an mir, sagt Stirner, ist eine „freie“ oder „reine“ geblieben: darum konnte sie mir nichts anhaben, der ich gerade gezeigt habe, daß ich an so fixen Begriffen wie „wahr“ und „falsch“ nicht gemessen werden darf. Das energierende Mysterium (s. o.) solcher Kritik bleibt immer eine Wahrheit, von der der Kritiker selbst „besessen“ und eingenommen ( voreingenommen) ist; er urteilt also nicht aus sich heraus, zieht nicht gleichsam alle Seiten seines Wesens bei der Beurteilung zu Rate, sondern legt gerade nur einen festen Maßstab an, der in ihm selbst bereits erstarrt, entwicklungsunfähig geworden ist. Es verhält sich aber mit den Ansprüchen meines Buches wie mit den Ansprüchen der Religionen: das Judentum ist notwendig dem Christentum gegenüber, dieses wieder dem Buddhismus, dieser der Lehre des Zarathustra gegenüber im Unrecht; der Maßstab einer Lehre ist also nur ihr selbst immer je zu entnehmen. Zweifelt jemand daran, daß ich, Stirner, vom „überzeugten“ Sozialisten, Christen oder Humanisten Unrecht erhalten werde? Da ich den Egoismus lehre – so braucht man ja nur von mir zu sagen, daß ich den Raubmord verteidige, um die ganze sittliche Welt in Entrüstung gegen mich zu vereinen! (Kl. Schr. 122). So hat man die Sache am einfachsten erledigt. Wie [215] ich aber verlange, daß gerade mein „Egoismus“ berücksichtigt werde, so verlange ich auch egoistische Kritik in meinem Sinne überhaupt. – Womit freilich gesagt ist, daß, wenn irgend ein anderer Egoismus auch anderes fordern sollte, der Stirnersche darum noch nicht seine Sachen zu packen braucht. Immerhin, so wird man schon hier ergänzen können, enthielte doch der in vielen Punkten übereinstimmende Egoismus vieler auch bereits ein nicht zu unterschätzendes Wahrheitskriterium in sich selber.

Ob wir uns nun auf Stirners Standpunkt begeben wollen oder nicht: was wir in der Biographie bereits anmerkten, daß die zeitgenössische Kritik, und zwar die eines Szeliga, Heß, Feuerbach, Kuno Fischer – Rezensenten, denen Stirner selbst antwortete – eine sehr dürftige gewesen sei, das kann hier nur klarer noch hervortreten. Wir haben deshalb, um so oberflächlichen Mißverständnissen, wie sie diesen Kritikern begegnet sind, von vornherein vorzubeugen, die Stirnerschen Begriffe und Termini sogleich in der vollständigen Unzweideutigkeit verwandt, wie er sie ihnen gegenüber noch einmal festzustellen und durch Beispiele zu erläutern für nötig befunden hat. Wie zu erwarten stand, hefteten sich diese Mißverständnisse zumal an die Lehren von der Einzigkeit und vom Egoismus. Wir wollen uns nicht zu lange dabei aufhalten.

Vor allem glaubte man im „Einzigen“ einen neuen Gedanken, ein neues philosophisches Prinzip entdecken zu können. Feuerbach zumal nahm den „Einzigen“ wirklich als einen „Auserlesenen“ und meinte, Stirner habe damit nur wieder einen neuen [216] Himmel aufgerichtet, nachdem er, Feuerbach, denselben doch erst mühsam zu den Menschen herniedergezogen habe! Damit hatte er allerdings gerade den einzigen Sinn getroffen, der im „Einzigen“ nicht liegen sollte! „Einziger“ ist bei Stirner von Natur jeder: und indem Feuerbach dem Einzelnen noch das Ideal „der Mensch“, Stirner aber nur immer sein selbstverständliches, immer vorhandenes Wesen, und zwar natürlich nicht als „Ideal“ ( unerreichbar), sondern lediglich zum Zweck der Nichtverleugnung und Nichtwegwerfung, vor Augen führt – so leuchtet wohl ein, wer von beiden der Himmelsverfertiger bleibt. Und doch hat Feuerbach an dieser Stelle etwas gewittert, das sich freilich so gut gegen ihn selbst wie – vielleicht auch gegen Stirner hätte wenden müssen: Stirners Kampf – wem galt er eigentlich, was bedeutete er? Wir werden auf dies Eine noch zurückkommen. Fast unglaublich dagegen klingt es schon, daß alle Rezensenten den „Egoisten“ wirklich in der alten verpönten Bedeutung des Wortes genommen haben, Feuerbach ganz sorglos von Höherem und Niederem im Menschen spricht, wovon dieses jenem geopfert werden müsse, Heß das Liebesgebot, und Kuno Fischer wieder die ernste Mahnung, doch – „Mensch“ zu sein, gegen den Egoismus ins Feld führt! Die „Gedankenlosigkeit“ wird zur Feigheit oder zum bloßen Mutwillen, die Probleme nicht weiterdenken, sie nicht zu Ende denken zu wollen (Kl. Schr. 146, 178). Heß spricht unbekümmert von der „Gattung, die in Individuen auseinanderfällt“, von der „Entfremdung“, vom „Sichindividualisieren“ der Gattung, spricht unbekümmert von ihr als – dem Ersten (Kl. [217] Schr. 159). Und auch Feuerbach kommt so wenig hinter den Sinn der Stirnerschen Polemik gegen das Allgemeine, Abstrakte, daß er den „Einzigen“ schließlich – geschlechtslos findet und, da er ihn unter den Begriff „Mensch“ schon subsumieren will (!), doch zweifelnd fragt, ob er wohl auch – „Mann“, mehr als „Mann“ sei! (Kl. Schr. 152). Endlich sieht Kuno Fischer, der Stirner kurzweg als Sophisten abtut, allerdings die eine Seite des erkenntnistheoretischen Zusammenhangs mit Fichte; aber Stirners ganze Sophistik bestand eben darin, aus dem absoluten Ich ein parikulares Subjekt gemacht und damit an die Stelle von notwendigen Wahrheiten zufällige Meinungen gesetzt zu haben. (Kuno Fischer war damals Fichteaner, vgl. den „Streit der beid. kant. Schulen“.)

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