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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Größer noch werden die Übereinstimmungen in der näheren Charakteristik des Christentums als der „Geist“-Religion; Stirners Kampf gegen den Geist als Spuk u. dgl. lebt bei Nietzsche noch einmal auf. „Man [319] sah im Bewußtsein des Menschen, im ‘Geist’, den Beweis seiner höheren Abkunft, seiner Göttlichkeit; um den Menschen zu vollenden, riet man ihm an, nach der Art der Schildkröte die Sinne in sich hineinzuziehen, den Verkehr mit dem Irdischen einzustellen, die sterbliche Hülle abzutun: dann blieb die Hauptsache von ihm zurück, der ‘reine Geist’.“*) Ein künstlicher Gegensatz zwischen Natur und Geist wird erfunden, um das Wort „natürlich“ überhaupt mit „verwerflich“ gleichzusetzen; und wie bei Stirner fehlen nicht die Hinweise auf die nahen Berührungen dieses Geistglaubens mit Narrheit, Besessenheit, „fixen Ideen“. „Daß der Glaube unter Umständen selig macht, daß Seligkeit aus einer fixen Idee noch nicht eine wahre Idee macht . . .: ein flüchtiger Gang durch ein Irrenhaus klärt zur Genüge darüber auf . . . Und die Kirche selbst – ist sie nicht das katholische Irrenhaus als letztes Ideal?“ Die Erde überhaupt als Irrenhaus? – fragt Nietzsche und erinnert an Stirner, der die christliche Welt mit einem Tollhaus vergleicht, weil sie voll von vermeintlichen Sündern stecke, und der seine Brüder „Erznarren“ schelten will, weil sie am „Heiligen“ festhalten. Was Stirner erst mit dem Protestantismus eintreten läßt, verlegt Nietzsche in die Anfänge des Priestertums überhaupt: „von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet, daß der Priester überall unentbehrlich ist; in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, erscheint der heilige Parasit, um sie zu entnatürlichen: in seiner Sprache zu ‘heiligen’“; [320] und er deutet an, daß dadurch die natürlichen Dinge an sich „grundsätzlich-wertlos“, „wert-widrig“ gemacht würden.*) Aber ganz wie Stirner urteilt Nietzsche über die verhängnisvollen Einwirkungen des Protestantismus auf unsere gesamte neuere Philosophie; Stirner stellt Descartes dicht neben Luther, und nach Nietzsche ist „der protestantische Pfarrer Großvater der deutschen Philosophie, der Protestantismus selbst ihr peccatum originale“. Und diesen Protestantismus definiert er: „die halbseitige Lähmung des Christentums – und der Vernunft.“**) Die Herabsetzung der Realität wird jetzt erst vollkommen: eine vollkommen erlogene Welt wird an die Stelle der realen gesetzt. Und nun brauchen wir nur daran zu erinnern, daß Stirner mit der Mahnung schließt, sich nicht aus dem letzten Rest des Profanen noch verdrängen zu lassen, vielmehr endlich das Heilige sich wieder zum Eigentum zu machen, um Nietzsches Konsequenz beinahe gleichlautend zu finden: „Der Priester hat bisher geherrscht! Er bestimmte den Begriff ‘wahr’ und ‘unwahr’! . . . Aber wir selbst sind bereits eine . . . leibhafte Kriegs- und Siegeserklärung an alle alten Begriffe von ‘wahr’ und ‘unwahr’“ . . . „Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‘Geist’, von der ‘Gottheit’ ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit.“***)

[321] Und am Schluß der Kritik des Christentums ist auch Nietzsche zum Verwerfen des sozialen und humanitären Ideals gekommen: darin hätten wir denn selbst eine Parallele zu Stirners Kritik an den „Neueren und Neusten“, an Feuerbach; an anderer Stelle verkörpert dasselbe, was Feuerbach, für Nietzsche die neuenglische Philosophie.



„Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen, und jetzt wird er gar noch Pöbel,“ so sagt Nietzsche im Zarathustra – und faßt damit auch Stirners Kampf gegen den „bloßen Thronwechsel“ des Heiligen zusammen; es fragt sich also, welche Konsequenzen sich für Nietzsche daraus ergeben. Zunächst will er sich von dem Verdachte reinigen, als sehe er seinerseits in diesen christlichen Verirrungen das „Böse“: sie deuten ihm vielmehr lediglich auf décadence, schlechtes Blut, physiologische Kausalität also. Daß es Decadence sei, sagt Stirner nicht; „sie wurden, was sie werden mußten“ – dieses, sein letztes Urteil, setzt jedoch eine ähnliche Naturnotwendigkeit der Entwicklung voraus.

Aber die Decadence kann gerade zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens und höherer Kraft wieder werden: und so entschließt sich Nietzsche zu seiner Umwertung aller Werte oder einer – „Wiederherstellung des Menschheitsegoismus“. Das Christentum bedeutete nur den Sieg der Sklavenmoral über die Herrenmoral, und diese als Inbegriff der neuen Werte ist Aristokratismus, Individualismus, und vor allem weit entfernt von jedem Altruismus. „Ich habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung den Weg wieder gefunden zu haben, der zu [322] einem Ja und einem Nein führt. Ich lehre das Nein zu allem, was schwach macht – was erschöpft. Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft rechtfertigt. Man hat weder das eine noch das andere bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt. Dies alles sind Werte der Erschöpften.“ Stirner hat aber nichts anderes gelehrt, wenn man vor allem auf den Kern, die Wiederbetonung des eigenen Selbst, achtet. Sogar der „pathologische Zwischenzustand“, der einfache Nihilismus des Bestehenden, den Nietzsche der Umwertung vorangehen läßt, ist in der Stirnerschen Abwälzung (d. i. Negierung) ungeheurer Gedankenwelten bereits angedeutet: und aus der Gedankenlosigkeit wird dann auch bei ihm wieder ein „kritisches Juchhe“. Andererseits entnehmen Stirner wie Nietzsche die Berechtigung zur Umwertung des „verrufenen“ Egoismus derselben teils historisch, teils psychophysiologisch gestützten Grunderkenntnis, der Einsicht nämlich in dasjenige, was „uns treibt“. Die bloße Tatsache unserer Existenz stellt uns nach Stirner eine Anzahl von Kräften, Eigenschaften usw. zur Verfügung, die etwas schlechthin Unvergleichliches, Unersetzliches repräsentieren und so ausschließlich unsern einzigen und vollständigsten Besitz bilden, daß dagegen alles Geschenkte, Gegebene, Eingeräumte uns fremd bleibt, solange nicht wir selbst es eben zum Eigenen auch gemacht haben (durch „unsere“ Kraft, – „Macht“). Man kann dem Ich gewissermaßen gar nichts rauben und gar nichts hinzufügen; aber es kann sich selbst (durch „seinen“ Willen) fortwerfen, und es kann sich selbst (durch [323] „seine“ Macht) etwas vindizieren: „unbewußt und unwillkürlich streben wir nun aber alle der Eigenheit zu“ (419). Ausdrücklicher dagegen betont schon Nietzsche, daß Leben an sich bereits „Wachstum“ bedeute, „zum Begriff des Lebendigen gehört es, daß es wachsen muß – daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen muß“. Nach beiden Erklärungen hat das Christentum jedenfalls sich zu den Grundtatsachen und Grundtrieben unserer Natur in schroffen Gegensatz gestellt, und beide, Stirner wie Nietzsche, sind nun unermüdlich darin, dieselben unter der Maske auch des gleißendsten Scheins herauszuwittern. „Es ist des Theologen unterster Selbsterhaltungsinstinkt, der verbietet, daß die Realität in irgend einem Punkte zu Ehren oder auch nur zu Worte käme,“ sagt Nietzsche. Im aufrichtigsten Sinne habe es nie und nimmer Christen gegeben. „Der ‘Christ’ ist bloß ein psychologisches Selbstmißverständnis. Genauer zugesehen herrschten in ihm, trotz allem ‘Glauben’, bloß die Instinkte.“*) Das Christentum, sagt Nietzsche wie Stirner, wird zwei Jahrtausende gepredigt, aber es ist niemals betätigt worden. „’Richtet nicht!’ sagen sie, aber sie schicken alles in die Hölle, was ihnen im Wege steht. Indem sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selber . . .“ Die Märtyrer bewiesen nichts für die Wahrheit der Sache, für welche sie in den Tod gingen; das Christentum habe gewußt, „daß es an sich ganz gleichgültig ist, ob etwas wahr ist, aber von höchster Wichtigkeit, sofern es als wahr [324] geglaubt wird“. „Die Uneigennützigen nun,“ sagt Stirner, „das wissen wir längst, sind die – Schwachen“; und Nietzsche erklärt: „Sie heißen sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich ‘die Guten’“ . . .*)

Die „Umwertung“ besteht also bei beiden wesentlich im Zurückgehen auf das „natürliche Gute“, auf die psychophysiologische Grundnatur des Menschen; nur soll sie bei Stirner vornehmlich behauptet und nicht verleugnet, bei Nietzsche dagegen durchaus gestärkt, erhöht, vermehrt werden. „Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht“ (Nietzsche). Härte, Gewalt, Tyrannei und Grausamkeit, sie dienen wesentlich zugleich zur Erhöhung der Spezies „Mensch“: und von hier ab verflechten sich gerade den Motiven Nietzsches überall aufs engste ästhetische Werturteile, denen Stirner, wie wir wissen, nicht mehr folgt. Obwohl also auch Stirner mit der Ablehnung des Jenseits und der asketischen und verneinenden Seite des Christentums die Lehre vom Diesseits und dem diesseitigen „Selbstgenuß“ verbindet, so kennt er doch nichts dergleichen wie die Kultur der Sinne und der Leiblichkeit; das „Ich“ ist ihm jedesmal Leib-Geist in einer Person, und das „Fleisch“ verachten hieße auch nach Stirner gerade sein Selbst verleugnen. Aber nur Nietzsche sagt: „es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit“; und am Typus des Herrenmenschen allein wird nicht vergessen: „wozu der hohe Leib gehört, der schöne, sieghafte, erquickliche.“ – Die größere Betonung des Physiologischen, [325] zusammenhängend mit seiner vorwiegend ästhetischen Wertbetrachtung, ist es nun auch gewesen, die Nietzsche für die Wiederherstellung des starken Individuums von jeglichen altruistischen Instinkten überhaupt gänzlich absehen läßt. Daß die Ungleichheit der Individuen an sich den Nonsens gleicher Rechte, gleicher Moralen, staatlicher und sozialer Einheitsbestrebungen dartue – in allen näheren Ausführungen hierüber sind sich Stirner und Nietzsche nahegekommen; aber bis zur Aufstellung eines absoluten Kontrastes, derart, daß sich der bestehenden Moral (der Ichverleugnung, nach Nietzsche: der Sklaven-, Decadencemoral) in allen Punkten feindlich eine Herrenmoral gegenüberstellt – dazu kommt es nur bei Nietzsche. Auch der Egoist kennt nach Stirner Mitgefühle, Mitleid und selbst Aufopferung – alte Werte noch, die nur psychologisch, nicht essentiell, eine „Umwertung“ erfahren; der Vertreter der Herrenmoral muß sie notwendig als Schwächezustände von sich fernhalten; es sind das notwendig nach ihm Sklaveninstinkte. Allerdings hat auch er die „wahre Güte“, die „Verschwendung“ als Typus der wahren Güte; aber gerade, was Stirner als zur Eigenheit gehörig in ihr erkennen würde: daß sie Befriedigung des Ich, nur in anderem Sinne, sei – muß der „wahren Vornehmheit und Größe der Seele“ nach Nietzsche, als zu niedrige Art der Selbstbefriedigung, fern bleiben. – Wir führen diesen Zug, wie wir andeuteten, auf das Ästhetische in Nietzsches Weltanschauung zurück, das hier jedoch dem sonst so feinen Psychologen einen Streich spielt: Nietzsche kann das Mitleid nicht brauchen, weil es gewissermaßen eine leidende, unvollkommene, schwächliche Welt wieder zur [326] Voraussetzung hat; aber wenn in allem den natürlichen Grundinstinkten gegenüber ihrem Fluch, der Decadence, ein Recht wieder eingeräumt wird, – so darf der Natur das Recht der Selbstbefriedigung auch in diesem Punkte nicht verwehrt, ein einmal vorhandenes Gefühl gewissermaßen nicht künstlich umgeschaffen werden.

Daß Stirner also auch den altruistischen Instinkten gewissermaßen Urrechte nicht verkürzt hat, zeigt ihn an dieser Stelle sicherlich als den besseren Psychologen; aber in anderer Hinsicht hat es seine Philosophie um eine wichtige Spitze verkürzt und vielleicht am meisten dazu beigetragen, ihn selbst das neue Ziel, das es auch mit einer des Hinweises auf Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit, formell freilich bedürfenden Individualitätslehre von vornherein auf sich hat, nicht deutlich erblicken, viel weniger scharf fixieren zu lassen. Allerdings endigt ja der „Einzige“ mit dem Evangelium vom Weder-gut-noch-böse: damit wäre also im Grunde wirklich auch das Christentum, dem doch der ganze Kampf gegolten, absolviert? So mußten wir schon oben fragen; handelte es sich aber gewissermaßen nur um aufklärende Psychologie, so wäre doch das tatsächliche Interesse an der ganzen Frage von Gut und Böse nicht zur Hälfte erklärt. Lag ein egoistisches Interesse darin, einmal die ganzen ethischen Gegensätze von Sünde und Heiligkeit, „Wahrem“ und „Falschem“ überhaupt aufzustellen – wer bürgt mir, daß die Zeit schon gekommen, sie, als für mein Ich nutzlos, über Bord zu werfen? Stirner kann nur hoffen, daß „natürliche“ Selbstliebe und „natürliche“ Nächstenliebe den Wert jeglicher Institutionen zehnmal ersetzen werden; aber wenn es statt des heim- [327] lichen, düpierten Egoismus und durchgehends nur noch den offenen, unbemäntelten, jederzeit eingestandenen gilt –: ist nicht dies wenigstens ein neues ethisches Vorurteil, das mich meinen Bruder wird verdammen lassen, sofern es ihm weiter gefällt, seinen Egoismus geheimzuhalten? – Wir haben die tieferliegende Lösung bei Stirner schon angedeutet: in der Tat sieht er im natürlichen Ausgleich unserer egoistischen und (der Wurzel nach hiervon nicht verschiedenen) altruistischen Instinkte den Typus des Weisen sich ergeben, den er mehr als einmal schildert, während doch zuletzt Fatalismus und Amoralität gerade wie von selbst am Schluß des „Einzigen“ sich einstellen. Es ist lediglich eine ferne Hoffnung noch, die sich dem „Einzigen“ nach allen Voraussetzungen doch nur schwer befestigt, daß gerade durch das stärkere Freilassen der Individualinstinkte und ihre ehrlichere Betonung sich ein neues Maß der richtigen Lebensweisheit von selbst ergeben werde. Aber es ist nun kulturgeschichtlich hoch interessant und für eine künftige Ethik vielleicht von größter Bedeutung, daß Nietzsche im metaphysischen Teil seiner Lehre ein ethisches Ideal schon viel deutlicher erblickt zu haben scheint, das – aus anderen Voraussetzungen – gerade auch dem Stirnerschen angenähert werden kann, so aber unstreitig auch in sich selbst an Festigkeit gewinnt. Soviel wissen wir ja bereits, daß Stirner so gut wie Nietzsche, beide als Naturalisten und Positivisten, der Metaphysik im Grunde abgesagt haben: aber im Naturalismus schlummert eben selbst ein metaphysischer Kern, und es ist gerade die Frage, ob nicht von hier aus einmal eine neue und tiefere Erkenntnis der „Natur“, insbesondere der moralischen Natur, [328] erreicht werden könnte. Trotzdem Stirner nur von dem „vergänglichen und sterblichen Schöpfer seiner“ handeln will, so spricht er doch von einem „Schöpfer“, deutet auch eine ethische Selbstbestimmung des Ich an, ja, er läßt sogar dieses Ich schon zu verschiedenen Malen in der Weltgeschichte sich betätigt haben. Dagegen ist freilich der Begriff des „Einzigen“, den er für die Moral braucht, doch wieder einer anderen Gedankenreihe entnommen und steht gerade mit dem Teil der Metaphysik Nietzsches, der im tiefsten Grunde seine Ethik bestimmt hat, im denkbar schärfsten Widerspruch. Der „Einzige“ sollte gerade ausdrücken, daß jene Mischung der Elemente, die zu diesem bestimmten A oder B oder C als für sich seienden Personen einmal zusammengetreten sind, innerhalb der Gesamtheit des Seienden sich nicht zum zweiten Male vorfindet, niemals weder existiert hat noch existieren wird: darum allein läßt sich über den Wert eines Ich nie „eine allgemeine Taxe aufstellen“, kann es außerhalb des Ich nie einen Maßstab geben, an dem es gemessen werden dürfte. Gerade das Gegenteil nun scheint Nietzsches Lehre von der ewigen „Wiederkunft des Gleichen“ zu besagen, womit er seinerseits einem letzten Glauben an die sittliche Selbstbestimmung des Menschen Ausdruck verleihen wollte. Die Voraussetzungen dafür waren auch bei ihm eigentlich schon untergraben: wo soll sie noch eingreifen – bei der physiologisch-bedingten Züchtung des besten Menschen, des „Übermenschen“, bei der Identifizierung des Moralisch-Minderwertigen mit physischer Decadence? Und diese „Wiederkehr des Gleichen“ selbst? Danach besteht die Welt nur aus einer endlichen Anzahl von Elementen und [329] hat nur eine endliche Summe von Energie zur Verfügung; es muß sich also, mindestens innerhalb unermeßlicher Zeiträume, dieselbe einmal gegebene Ichkombination noch einmal wiederholen: ist nicht wieder von einem mechanischen Ablauf des Weltgeschehens die Rede? Aber Nietzsche hat es eben verstanden, dies mit der tiefsten ethischen Formel viel innerlicher zu verschmelzen, als Stirner den „Einzigen“ mit anderen metaphysischen Bestandteilen. Denn erkennen wir die „ewige Wiederkunft des Gleichen“ in ihrem moralischen Kern, so ergibt sich als sittliche Aufgabe: vergiß nicht, daß jede deiner Taten einen Ewigkeitscharakter zu tragen bestimmt ist, „vergiß nicht, daß du für die Ewigkeit handelst!“

Wir sehen die beiden großen Individualisten zuletzt in Widersprüche verwickelt – aber wir finden bei beiden eine ähnliche Lösung ein Mal ferner, das andere Mal schon viel näher angedeutet! Für beide existiert offenbar bis zuletzt ein „Böses“; damit unverträglich aber scheint es, auf das Gute als auf das Natürliche, Naturdeterminierte zurückzugehen – denn damit ist es der sittlichen Selbstbestimmung gerade entzogen. Sowohl Stirner wie Nietzsche haben sie aber schließlich dem Ich wiedergegeben, und zwar in der Weise, daß sie den Begriff des Natürlichen, Seienden, Realen selber erweiterten und, statt wie früher ein draußen befindliches fixes Böses und ein erstarrtes Gutes anzunehmen, in das nie erstarrende, ewig bewegliche Ringen nach sich selbst, nach der eigenen inneren Realität des Ich, den Kern des sittlich Guten verlegten. Bei Stirner hat es erst den Anschein, als setze er ein festes Ich, eine bestimmte Eigenheit, Persönlichkeit voraus, die, wie sie es auch anfangen möge, [330] aus ihrer Eigenheit nicht herauskann, immer nur „eigene“ Handlungen vollbringen wird: da aber stellt er an sie die Anforderung, sich nicht wegzuwerfen, sich nicht in den Dienst der Wahrheiten einerseits, nicht unter die Herrschaft der Sinne und Begierden andererseits zu begeben. Warum dies? – wenn doch das Ich, wie es ist, von Natur „gut“ ist und immer nur Ich-Handlungen begehen wird? Da springt es gerade in die Augen, daß Stirner eben das Ich als eine fixe, feste, plumpe Tatsache nie vorausgesetzt hat, daß es in seinen ewig-wechselnden Äußerungen, seinen von aller „Konsequenz“ entfernten Handlungen von vornherein um eine Mitte, eine feste Axe sich erst bemühen mußte, um überhaupt „Ich“, völliges Selbst zu werden, sich als „eigenes Ich“ dann stets, und instinktiv zuletzt, wiederzuerkennen! – Bei Nietzsche begann es mit der „Sehnsucht nach einem Eigentum“, er sucht nach seinem „wahren“ Selbst, seinem „wahren“ Ich; mit der Lehre von der „Wiederkunft des Gleichen“ aber erkannte er, daß man einerseits schon immer sei, was man suche, andererseits eine Aufgabe für die Ewigkeit habe, und er faßte die sittliche Bestimmung des Menschen in die Worte zusammen: „Werde, der du bist.“ Wenn man sein Ich als erstarrte, unveränderliche Realität nimmt, wenn man nicht gleichsam noch immer auf dem Wege zu sich selbst ist und, als Ich, nicht doch noch immer mit sich ringt, um sein Ich von neuem immer neu zu schaffen: dann wird man im vollsten Sinne auch nie Eigentümer, Souverän dieses Ich.

„Des Ringes Durst“ – so nennt es Zarathustra.

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[331]

Schlußwort.



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Unsere Zeit scheint seit der Stirner-Nietzsche-Bewegung der 90er Jahre ein geschärftes Ohr für Individualität nicht wieder verloren zu haben. Wohin man heute blickt – Bestrebungen im Interesse der freien Entfaltung und Entwicklung der Persönlichkeit, infolgedessen Angriffe gegen das veraltete Schulsystem, gegen die tausendjährige Knechtschaft des Weibes, gegen die Verquickung von Staat und Religion, und andererseits Propaganda für eine, sei es naturwissenschaftliche, sei es künstlerische und ästhetische Umwertung der Begriffe von Gut und Böse. Aber man darf nur nicht vergessen: in der eigentümlichen Natur der von Stirner wie von Nietzsche verkündeten Lehren liegt es nun einmal, daß eine Vielheit oder gar ein ganzes Volk sich ihrer nur symbolisch gleichsam, ja, allmählich selbst mit vollständig entgegengesetzten Wirkungen annehmen kann. Es ist der Grund, warum auch Nietzsche bei näherer Betrachtung niemals ein eigentlicher Fortsetzer Stirnerscher Ideen genannt, sondern lediglich wegen einer Ähnlichkeit und Übereinstimmung in einzelnen Grundmotiven wohl zum Vergleich herangezogen werden kann – mehr aus Spieltrieb und Systemliebe des menschlichen Geistes zuletzt, als aus irgendwelchen Gründen der Einsicht in die historische Entwicklung. Philosophen wie Stirner [332] und Nietzsche, früher Rousseau, oder im Altertum die Zyniker, können einer Zeit wohl Impulse geben, Impulse einer stärkeren Selbstbestimmung, – den Zeitinhalt schaffen sie nicht; der Individualismus, sich scheinbar an viele wendend, oder gar wie bei Stirner zu allen redend, ist doch kein soziales Programm, und indem eine Zeit ihn ergreifen will, löst sie ihn notwendig aus dem einzigen ihm möglichen Elemente, der originalen Schöpferseele, und macht ihn, als Ziel gesellschaftlicher Bestrebungen etwa, notwendig wieder zu etwas Totem, ja, gerade Bekämpfenswertem. Der Zarathustra nennt sich „ein Buch für Alle und Keinen“; man muß interpretieren: er scheint sich (wie jedes einmal gedruckte Wort) an alle zu wenden, und in der Tat wäre doch ein wie Nietzsche selbst davon Erfüllter zugleich ein Unding, ja, ein verächtlicher Fetischgläubiger. „Gefährten brauche ich, und lebendige, – nicht tote Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will. Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will.“ Wenn man freilich dem äußeren Schein hätte Glauben schenken wollen, so war die Zeit nach Stirners und Nietzsches Bekanntwerden nun mit einem Male reich, ja, überreich an wirklichen Individualitäten, „Eigenen“, geworden, schienen zumal unter den Künstlern die über jedes Maß und jede Form Erhabenen nur so aus der Erde geschossen zu sein. Da wimmelte unsere Literatur plötzlich von solchen, die Welt und Meer und Sonne aus ihrem Schoß allein geboren hatten, oder zu gebären doch imstande waren, und welche die schrankenlose Willkür schon zu preisen begannen, ehe ihnen der Fluch von Fesseln und [333] Grenzen noch in irgendwelcher Weise Erlebnis geworden war.

Es ist der Singularismus des Prinzips allein, an dem jede Möglichkeit der Vereinigung von Individuen in seiner Idee von vornherein scheitert – auch wenn gerade diese erst Vereinzelung und Fürsichsein zu „fordern“ scheint; und von hier aus mag man denn schließlich noch ermessen, wie wenig es z. B. auch gelingt, zumal Stirner, wie es geschehen ist, für die anarchistische Bewegung in Anspruch zu nehmen. Hätte er eine solche bereits vorgefunden, so unterliegt es gar keinem Zweifel, daß er sie genau wie die liberalen „Richtungen“ seiner Zeit „widerlegt“ hätte (wie er denn Proud’hons Theorien als in ihrem Kern soziale erkannt und bekämpft hat). Widerlegt hätte: zweifellos nämlich aus einem vorwiegend theoretischen Interesse; denn auch das sieht man ja, daß er den revolutionären Ideen seiner Tage immerhin näher-, den Revolutionsmännern persönlich immerhin sympathisch gegenübergestanden hat. Aber es reizte ihn eben, die Halbheit und Zwiespältigkeit im Handeln, daran seine Zeit so unsäglich litt, gerade schon im Denken, in den Gedanken der führenden Geister nachzuweisen, und so spürte er mit feinstem Instinkt die Unselbständigkeit, Gebundenheit und geheime innere Zurückgebliebenheit selbst noch in den sog. „fortschrittlichsten“ Erscheinungen auf. Er glaubte in der Tat noch echt hegelisch an die reale Macht der Idee; und was hätte nun den unbestreitbar hochgesinnten Flug, den nun leider so unklaren Freiheitsdrang seiner Tage tiefer und umfassender ausdrücken können, als die – „Einzigkeit“ des Individuums?

[334] Auch der „Anarchismus“ also würde für Stirner von einem unklaren und verschwommenen Freiheitsbegriff ausgehen; da die absolute Freiheit ein Unding, so bleibt immer nur: das Ich-, das Eigen-sein. Aber wenn Stirner mit der scheinbar sozialen Einkleidung seines Buches noch solchen und ähnlichen Irrtum verschulden konnte – so ist die Wahrheit wohl, daß in Nietzsches „Übermenschen“ nur deutlicher und krasser ans Licht gekommen ist, was in der einfachen Abtrennung und Loslösung des einzelnen aus Gattung und Spezies an sich noch nicht zu liegen scheint: die Notwendigkeit zugleich einer Machtfülle und Machtverstärkung des Individuums – wie sie indes in keinem Verhältnis zu einer aus dem Kosmos der Erscheinungen beliebig herausgerissenen Tatsache stehen kann. Auf der höchsten Spitze beider Philosophien muß daher gerade die Notwendigkeit auch wieder einleuchten, die extremen Konsequenzen des Individualismus jedesmal zu mildern – deshalb weil zu einer extremen Vereinzelung und Absonderung der Iche, wie tausend tägliche Vorgänge beweisen, eben schon in der Wurzel durchaus kein Grund vorliegt. Wird das Ich, wie bei Stirner, als absolut-einziges genommen, so fehlt eben auch jedes antreibende Motiv, im Individualismus – der, wie wir bemerkt haben, nur seinerseits nicht umhin kann, in der freien Personalbestimmung und steten Selbstschöpfung das Ethisch-Bessere und Vorzüglichere zu sehen – einen Richtweg zu finden. Ein solches einzelnes Ich hat schlechthin nichts anzuerkennen, es fehlen selbst sämtliche Irritamente, sich gerade als freie Person auch wirklich „eigener“ – und damit freudiger, glücklicher zu fühlen, [335] denn als unselbständige, sklavisch-abhängige. – Genau dasselbe aber: eine Unmöglichkeit nämlich, über den bestimmenden, maßgebenden Faktor im eigenen Ich auch tatsächlich belehrt werden zu können, wird mit der Nietzscheschen „Züchtung“ für das Individuum gesetzt. Da eine Vergangenheit der dunkelsten Art auf dem Individuum lastet, so wird es nicht eher den ethischen „Zwang“ freiester Selbstbestimmung von sich aus empfinden oder auch nur anerkennen können, ehe nicht das Mysterium von seinem Ich auch wirklich genommen, der Schleier des Ich auch wirklich gelüftet ist. Und damit stehen wir denn wieder vor unserm neuen Ziel: unser Ich ist nicht Ausgangspunkt, den wir schon kennen, unser Ich ist Zukunft, der wir zusteuern. Und ehe wir es vielleicht einmal als letzten Gesetzgeber wieder aufstellen können, so glauben wir, daß abermals eine Metaphysik, die auch das Ich zunächst nur als einen Spezialfall des Kosmos erkennt, vorangehen muß, um nicht von vornherein einen schmerzlichen Widerspruch zwischen dem Ich und jeglichem Gesetz zu sehen, sondern im Gegenteil aus der letzten Erklärung des Makrokosmos unmittelbar die Fäden zu gewinnen, an denen – notwendig und doch frei – auch der Mikrokosmos, der Mensch, ohne den unseligen Zwiespalt im Busen, sich leiten läßt und selber leitet. –

______


[336]

Inhalt.


___

Seite


Vorwort 3

Biographischer Teil 5

II. Teil: Die Weltanschauung Stirners.

A. Zur Vorgeschichte und Entwicklung der

Stirnerschen Ideen 89

B. „Der Einzige und sein Eigentum“ 130

C. „Freie“ (reine) und „egoistische“ (eigene) Kritik 214

III. Teil: Stirner und ein halbes Jahrhundert.

A. Geistige und soziale Entwicklung bis auf Nietzsche 255

B. Nietzsche 287

Schlußwort 331

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*) Börne: Denkrede auf Jean Paul. [9]

*) Auf seinen Vorteil; schlau [55]

*) Z. B. hatte Stirner, was für das Folgende beachtet werden soll, die Arbeit als „Ehre und Stolz“ des Menschen, als seinen „Beruf“, aller Hoheit entkleidet und sie nur als / das „Unvermeidliche“ hingestellt; die „Schande, Brot zu haben, ohne etwas dafür getan zu haben“, den Ruhm des „Verdienstes“ – als bloßen „Wahn“ gekennzeichnet. (Vgl. auch Kl. Schr. S. 125.) [67/68]

*) Ernst Schultze: „Stirnersche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem“ im „Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten“ von 1903. [83]

*) Max Stirners „Kleinere Schriften usw.“ (Mackay): S. 71. [92]

*) Jean Paulsche Verspottung der Fichteschen Philosophie. [98]

*) Vgl. S. 77. [109]

*) bewußt geänderte –? Vergl. die Biographie. [119]

*) Dieser Standpunkt wird nur scheinbar später verändert. Er ist zwar später gegen die „heutige Uninteressiertheit“ der Wissenschaft zu Felde gezogen und hat kurzweg erklärt, das „Wissen ist dazu da, um verbraucht zu werden“: aber dort gilt es eine Schranke zu beseitigen, eine „fixe Idee“ – den Kampf gegen den düpierten Egoismus. Der „praktische Mensch“ ist sonst durchweg für Stirner der bornierteste geblieben, schon weil er keine Ahnung vom wahren Lebensgenuß hat und sein Ich unter täglichen kleinen Sorgen begräbt. [121]

*) Vgl. Mauthners „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“. [157]

*) Vgl.: „Hast du aber Aufgaben, wenn du sie dir nicht stellst?“ Der Ton liegt – bis jetzt wenigstens – auf dem Du (176). [165]

*) Darüber klagen auch viele Zeitgenossen, besonders Schopenhauer. Der konstruktive Idealismus, Hegel, die Schellingsche Schule, Kraus usw., hatte sich eines dunklen, verworrenen, mystischen Stils befleißigt. Beneke sagt: „Dunkelheit schien damals den Philosophen anzuzeigen.“ [189]

*) Verführt durch Feuerbach. [233]

*) Fr. Nietzsche, Briefe, II, 79. [264]

*) um von der sachlichen Unmöglichkeit im ganzen zu schweigen. [267]

*) „Dokumente des Sozialismus“, August 1904, „Ludwig Feuerbach“ (Brand). [276]

*) Siehe S. 150. [278]

*) 1872 erschien „Der alte und der neue Glaube“ und erregte jene bekannte Begeisterung, die Nietzsche typisch gefunden und über die er die volle Schale seines Hohnes ausgegossen hat; für die Deutschen von damals hat er das Wort „Bildungsphilister“ (das durch ihn in die Sprache übergegangen ist) geprägt. – David Strauß hatte das eigentümliche Schicksal, zweimal seine eigene Überwindung heraufzubeschwören, während er ephemeren Ruhm genoß (vgl. oben). [283]

*) Rudolf Schellwien: „Stirner und Nietzsche“ (1892). [288]

**) In: „Seher und Deuter“ 1894 (5 Aufsätze). [288]

*) Stirner et Nietzsche, Paris 1904. [290]

*) Tatsächlich sahen wir, daß er eine Konstruktion à la Hegel war, um, mit Feuerbachs Hilfe, wesentlich – die Religion zu treffen (vgl. oben). [296]

*) Vgl. „Was ich den Alten verdanke“, Nietzsche Werke VIII. [297]

**) Den Humanismus will Stirner bezeichnend genug „Macchiavellismus“ nennen. [297]

*) Nietzsche, „Gesammelte Briefe“ I, 33. [304]

*) Nietzsche Werke VIII, 168. [305]

*) Vgl. Nietzsche Werke VII, 466/73. [309]

*) Vgl. Stirner: „Wie weniges vermag der Mensch zu bezwingen! Er muß die Sonne ihre Bahn ziehen lassen usw. . . .“ [311]

*) Zuweilen erkennt das Nietzsche selbst; man lese „die vier großen Irrtümer“, achtes Stück! [314]

*) Nietzsche Werke VIII, 269. [318]

**) Nietzsche Werke VIII, 285. [318]

*) Nietzsche Werke VIII, 230. [319]

*) Nietzsche Werke VIII, 248. [320]

**) Nach Stirner: Durch den Protestantismus konnte erst herauskommen, daß der „Geist“ eine Lüge. [320]

***) Nietzsche Werke VIII, 228 ff. [320]

*) Nietzsche Werke VIII, 266. [323]



*) Nietzsche Werke VIII, 233. [324]
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