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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Damit stehen wir wieder bei unserem Ausgangspunkt; was hat sich uns aber zunächst für den „Geist“ aus dieser Betrachtung ergeben?

Wie den Alten an der Weltüberwindung, so war den Neuen offenkundig an der Überwindung des Geistes gelegen; aber ohnmächtig bis heute ihr tausendjähriges Ringen! „Fast zweitausend Jahre arbeiten Wir daran, den heiligen Geist Uns zu unterwerfen, und manches Stück Heiligkeit haben Wir allgemach [154] losgerissen und unter die Füße getreten; aber der riesige Gegner erhebt sich immer von neuem unter veränderter Gestalt und Namen. Zwar flattert er längst nicht mehr als eine Taube zu Unsern Häuptern, sondern läßt sich auch von den Laien fangen usw., aber als Geist der Menschheit, als Menschengeist, d. h. Geist des Menschen, bleibt er Mir, Dir immer noch ein fremder Geist“ (113). Wie wird nun der fremde Geist endlich – mein eigener Geist? „Wenn du das Heilige verzehrst, hast du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und du bist sie los!“

Von der Diversität zwischen dem „fremden“ Geist und dem „eigenen“ Geist, zwischen dem, was gerade im Gegensatz zum Ich solange „Geist“ hieß, und nun erst als faktisches „Ich“ die eigentliche Realität uns wiedergewinnen soll, werden folgende Sätze uns jetzt den deutlichsten Begriff verschaffen:

„Sagte dir jemand, du seiest ganz Geist, so würdest du an deinen Leib fassen und ihm nicht glauben, sondern antworten: Ich habe wohl Geist, existiere aber nicht bloß als Geist, sondern bin ein leibhaftiger Mensch“ (39).

„Der Wert Meiner kann unmöglich hoch angeschlagen werden, solange der harte Demant des Nicht-Ich so gewaltig im Preise steht, wie dies sowohl mit dem Gotte, als mit der Welt der Fall war“ (82).

„All unsere Betriebsamkeit war nur Ameisentätigkeit und Flohsprung, Jongleurkünste auf dem unbeweglichen Seile des Objektiven, Frondienst unter der Herrschaft des Unveränderlichen oder ‘Ewigen’“ (82).

„Weil der Geist das Sterben fürchtet, so wird . . . [155] die Größe der Endlichkeit von seinem geblendeten Auge nicht mehr erkannt“ (88).

„Wie haben die Menschen gerungen . . ., durch System auf System den Widerspruch des ‘weltlichen’ Menschen, des sog. ‘Egoisten’, auf die Dauer niederzuhalten. Beweist dies nicht, daß alle jene Ideen zu ohnmächtig waren, Meinen ganzen Willen in sich aufzunehmen und ihm genugzutun?“ (97).

„Als Ich Mich dazu erhoben hatte, der Eigner der Welt zu sein, da hatte der Egoismus seinen ersten vollständigen Sieg errungen“ (113).

„Wer aber wird auch den Geist in sein Nichts auflösen? Er, der mittels des Geistes die Natur als das Nichtige, Endliche, Vergängliche darstellte, er kann allein auch den Geist zu gleicher Nichtigkeit herabsetzen: Ich kann es, es kann es jeder unter euch, der als unumschränktes Ich waltet und schafft“ (87).

Der Geist ist also nach Stirner als ein dem Ich Überlegenes und völlig Fremdes behandelt, mißbraucht worden; andererseits soll sich nach Stirner das Ich mit dem Geist auch keineswegs decken, sondern das Ich den Geist – unter anderen Eigenschaften – nur „haben“. So ist aber endlich notwendig, zu erfahren, was denn nun das „Ich“ ist? Sind wir etwa schon mit allem über unsere erste Voraussetzung „Ich bin“ hinausgekommen – und wie weit?

Wir suchen umsonst bei Stirner nach einer tieferen Erklärung, Beschreibung unserer Ich-Existenz. Er grenzt nur ab gegen das Nicht-Ich, aber auch keineswegs scharf. Wir werden das Ich lediglich aus seinen realen Wirkungen und „Selbstbehauptungen“ heraussuchen müssen.



[156] Zunächst seine „leibhaftige“ Existenz – was ist sie näher? Wie hat die Person „Geist“? Darüber dürfen wir nichts Näheres erwarten. Genug, daß mein Persönliches noch etwas anderes als mein Geistiges ist; was – das bleibt Mysterium. Ich bin – unter anderem! – auch denkend; ich bin auch sprechend, handelnd usw. Es ist für den Naturalisten gänzlich ohne Belang, warum es so ist, wie es zustande kommt usw.

So aber, wie ich einmal bin, bin ich „einzig“, nicht zum zweiten Male vorhanden, bin Ich „der Einzige“. Es ist unmöglich, daß das, was Ich bin und Ich habe, auch Du bist und Du hast. Wir zwei bleiben ewig Geschiedene, Unterschiedene, bis zum letzten Atemzug. Aber in diesem ontologischen Geschiedensein richtet sich zugleich eine noch viel krassere, unzerstörbare und nie hinwegzuräumende Schranke zwischen uns auf – das ewige Hemmnis der Unmittelbarkeit. Hier könnte ich eigentlich zu reden aufhören, meint Stirner; mein „Prinzip“, meine „Voraussetzung“ ist tatsächlich nicht einmal Gedanke – sie ist durch und durch Leben, Praxis, Tat; schon wenn ich von mir als „Ich“ oder „Einziger“ spreche – diese Worte bleiben notgedrungen Phrase (Kl. Schr. 115). Das und nichts anderes hat der Terminus „gedankenlos“ im Auge, mit dem im „Einzigen“ oft vom Ich die Rede ist; er ist nicht im Hinblick auf das Ich, sondern auf die anderen geprägt, die immer nur Worte, Sprache von mir zu hören bekommen, niemals die „Meinung“, den Gedanken. Einzig ich selbst, als lebende Person, kann auch das Wort Ich, das Wort „Einziger“ beleben, realisieren; außerhalb meiner ist es leerer Klang. Kann Ich, ein [157] Unendlich-Zusammengesetztes, mit tausend blitzartig wechselnden Empfindungen, Wünschen, Wollungen, Gedanken usw. durch einen Begriff ausgedrückt werden? Ich – oder überhaupt ein Seiendes? – Stirner begibt sich damit auf den Standpunkt des alten Sophisten Gorgias, der jede allgemeingültige Erkenntnis geleugnet hatte, weil sie – ihr Vorhandensein selbst angenommen – doch „unmittelbar“, gar nicht festzustellen wäre. Auch dem mittelalterlichen Streit zwischen Nominalismus und Realismus lag die ähnliche Streitfrage zugrunde: was denn die Begriffe nun eigentlich wären – bloße flatus, voces, oder etwas die Realität genau Deckendes. Stirner hat es unterlassen, seinem Standpunkt in dieser Frage eine eigene Untersuchung zu widmen; aber er geht aus den gelegentlichen Äußerungen deutlich genug hervor und steht auch in genauester Konsequenz zu der Grundvoraussetzung einer absoluten Diversität alles Seins. Schon Hegel hatte den Satz der Identität, den die Logik doch fordere (a  a), damit, daß es nicht zwei gleiche Dinge gebe und alles voneinander verschieden sei, bekämpft; auf der gleichen Voraussetzung beruht der Stirnersche „Einzige“. Sie ist ganz offenbar die tiefste und gefährlichste Quelle aller Skepsis und ist es bis in unsere Tage geblieben;*) und nur, weil sein Werk es so vorwiegend mit der Realität des Lebendigen, die nun einmal als eine praktisch zu befriedigende an uns herantritt, zu tun hat, glaubt Stirner selbst den Fußangeln und Fallstricken, die ihm von den Worten schon gelegt werden, entgangen zu sein: wie? wird [158] noch näher zu prüfen sein. Die Sprache ist es, welche immer schon ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen dich heraufführt, so warnt er, denn jeder Begriff ist Vereinfachung, Zusammenfassung des Vielen, läßt gerade die das Einzelne auszeichnenden Merkmale fort. Und doch existiert das Viele nur als Einzelnes, es existiert nur Individuelles. „Für Mich hat die armselige Sprache kein Wort“ (215); und „Ich, der Einzelne, bin auch meine ganze Gattung“ (213).

Die Konsequenzen sind schon von hier aus unübersehbar, und Stirner hat die meisten zu ziehen nicht unterlassen; vorläufig aber bemühen wir uns noch weiter, wie auch Stirner selbst, um die annähernd begriffliche Fixierung seiner Voraussetzungen. Die Bezeichnung „Mensch“ wird folgerichtig für Mich, den Einzigen, in der ferneren Darstellung oft abgelehnt; da „Mensch“ gerade das Typische ausdrücken soll, ich aber in keiner Weise genau genommen etwas Typisches haben kann, so wäre „Unmensch“ oder „übermenschlicher Mensch“ für jeden einzelnen die treffendere Bezeichnung – wobei denn das Thema einer Un- oder Übermoral schon auszuklingen scheint. „Welcher Einzelne hätte seinem Begriffe entsprochen? . . . Wirklicher Mensch ist nur der – Unmensch“ (208). Immer wieder wird durch Variation der Terminologie die Einzigkeit versinnbildlicht: bald ist es der „Namenlose“, bald der „Unsagbare“, „Unaussprechliche“, der „Unnennbare“, „Unbegreifliche“ oder „Absonderliche“, der als Ich auftritt. Nichts zu tun hat der Begriff des „Einzigen“ mit dem des Isolierten, Einsamen; die Isoliertheit oder Vereinsamung haftet dem „Einzigen“ zwar der Natur der Sache nach an, aber das hat [159] mit Weltverkehr oder Weltflucht nicht das mindeste gemein (Kl. Schr. 142). Endlich auf eine Art „Wert“, Bewertung des Einzigen scheint es hinzudeuten, wenn es (319) heißt: „Über meine Einzigkeit läßt sich keine allgemeine Taxe feststellen, wie für das, was Ich als Mensch tue;“ man versteht aber bereits: wegen meiner absoluten Unvergleichbarkeit mit irgend etwas anderem kann ich natürlich auch nicht mit den kursierenden Werten gemessen werden.

So viel vom „leibhaftigen“ Ich, das gerade, indem es den Vorwurf der Phrase – als Wort – sogar mit einer gewissen Genugtuung auf sich sitzen läßt, an das innerste Bewußtsein eines jeden appelliert, wo man schon spüren werde, was „es“ sei. Etwa wie Kant sagte: „Gefühl meines Daseins ohne jeglichen Begriff.“ Indes wir sind nicht befriedigt; wohl, wir sind „Person“ – was soll sich nun daraus ergeben? „Person“ waren wir schon immer: aber gerade daß wir nie einzige Person bleiben konnten, zu bleiben vermochten – das hat von je die Erscheinungen, die Äußerungen, das „Sich-Ausleben“ dieser meiner Person in nachhaltigster Weise bestimmt und bestimmen müssen. Wenn ich auch das Ich als „einziges“ zum Zweck einer theoretischen Untersuchung zu isolieren vermag – was sollte sich praktisch daraus ergeben?

Hauptsache war mir, antwortet Stirner, daß ich nichts Zwiespältiges an mir entdecken konnte, ein durchaus einheitliches Bewußtsein, Gefühl von mir hatte. Ich jauchzte – Ich, der ganze Mensch, jauchzte; Ich dachte – Ich, der ganze Mensch, dachte, und als der Gedanke vorüber war, da war darum doch mein Ich nicht vorüber: mein Jauchzen wie mein [160] Denken war nur ein vorübergehender Zustand Meiner gewesen. Nichts von mir war hinausgeflogen und irgendwo sitzen geblieben, als Ich, der Denkende, meine Aufmerksamkeit davon hinweggelenkt hatte; von euren spukhaften Geistgebilden, den richtigen Gespenstern, habe ich nirgends etwas entdecken können.



Jetzt läßt es sich endlich sagen, von welchem widerspruchsvollen Dritten aus Stirner sowohl gegen jede bisherige Ichauffassung sowie gegen eine verhängnisvolle Verkennung des „Geistes“ zu Felde gezogen ist: von einem doppelten Seinsbegriff aus. Indem wir deutlich dieses Zweierlei nunmehr auseinanderhalten, bahnen wir uns erst den Weg zur Stirnerschen Moral.

Mit dem Cogito ergo sum hatte Descartes den unversöhnlichen Gegensatz in die Natur des Seins getragen, den Gegensatz zwischen dem Realen und Idealen, Materie und Geist. Als nun Stirner – bewußt – von dem einzigen ausgegangen war, worin dieser Gegensatz vereint scheint: vom Ich, in welchem Reales und Ideales in vollkommenster Harmonie und Durchdringung gegeben seien, „mein“ Leib nämlich und „mein“ Denken, da anerkannte er sowohl das reale Existieren des Denkens, der Gedanken, des Bewußtseins, des „Geistes“, wie ebenfalls das reale Für-sich-Existieren einer Körperwelt, der Materie (als nicht bloß in meiner Vorstellung befindlich!). Diesen Standpunkt vertritt er auch schon damit, daß er nicht bloß sein Ich, sondern ebenfalls jedes andere Ich als für sich existierend annimmt. Unvermerkt vertauscht er jedoch diesen seinen ursprünglich und am häufigsten eingehaltenen Standpunkt mit einem andern, den er besonders in seiner Polemik gegen die „Neuen“, gegen [161] den „Geist“ der Neuen vertritt. Da bin plötzlich Ich, Ich als das denkende Subjekt, der „Schöpfer“ der gesamten Gedankenwelt, Geistsphäre; eo ipso dann aber auch der Körperwelt, denn auch das Materielle gehört in erster Linie zu meinen Vorstellungen. Ich, das Subjekt, erschaffe durch mein Denken erst alles, und ohne mich, den Denkenden, in dem alles seinen Ursprung hat, existiert keine geistige – eo ipso, keine materielle Welt! Das ist der Standpunkt der gesamten neueren Philosophie, die in Berkeley und Fichte denn auch diesen extremsten Ausdruck dafür nicht gescheut hat. Um beide Standpunkte nebeneinander als verträglich auch nur erscheinen zu lassen, so führt sie uns Stirner selbst schon meist in der Vereinigung durch einen dritten vor Augen, den wir den naturalistischen nennen könnten und der freilich – rein erkenntnistheoretisch gesprochen – eine Unmöglichkeit darstellt. Danach wird zwischen dem bloß in mir befindlichen Denken, dem gar kein Äußeres entspricht, und der sinnlichen Vorstellung noch geschieden; nur diese letztere überzeugt mich von dem Vorhandensein eines selbständig außer mir existierenden Gegenstandes, während der „unsinnliche“, „rein-geistige“ Gedanke nur in mir und durch mich Wesenheit empfängt. Wie schwer das durchzuführen, das zeigt schon der Konflikt, den Stirner selbst, indem er dies theoretisch zu Ende zu denken versucht, gefährlich gestreift hat. Er sagt einmal, da er vor einer Überschätzung der Sinnenwahrheit warnt: „Das Gedachte ‘ist’ so gut als das Nichtgedachte, der Stein auf der Straße ist und meine Vorstellung von ihm ist auch. Beide sind nur in verschiedenen Räumen . . .“ (399). Danach ist doch [162] aber der Stein oder überhaupt jedes Sinnenobjekt offenbar zweimal, nämlich als Realität draußen und Realität in mir, vorhanden, und die Frage ist gerade, welche von beiden die Realität sei, in welchem Verhältnis diese „beiden“ Realitäten zueinander ständen usw. Diese Frage, die noch jeder Erkenntnistheoretiker sich vorlegen mußte, war aber für Stirner um so wichtiger zu entscheiden, als ja gerade hier die Einzigkeit jeder Realität, die in der Sinnenwahrnehmung plötzlich verdoppelt erscheinen könnte, auf dem Spiele stand. In der Tat kommt nun auch bei Stirner heraus, daß er eben die Einzigkeit in etwas Geistiges, Gedankliches setzen muß: denn nur der Gedanke ist es, der wirklich bloß „in mir“, einem in sich beschlossenen Sein, sich befindet, der nicht wahrgenommen, gleichsam nicht nachgeahmt, „verdoppelt“ werden kann. Wenn also auch Stirner sich der irreführenden Unterscheidung zwischen der den Geist bloß „habenden“ und der Geist (Gedanke, Ich)-seienden Person sprachlich bedienen zu dürfen scheint, so stellt sich nun heraus, daß, wenn man der „Person“ oder dem Ganz-Ich einmal den „Geist“ wirklich wegnimmt, nicht etwa noch ein Ich, ein materieller Leib oder dergleichen übrigbleibt, sondern in der Tat – nichts, zum mindestens nichts, was den Begriff der „Einzigkeit“ noch mit irgend welchem Fug anzuwenden berechtigte; die „Einzigkeit“ besteht tatsächlich strenggenommen nur in einem „einzigen“ Bewußtsein, Denken, Fühlen usw. Ist dem aber so, so ist ein Monismus, ein metaphysischer – nicht mehr rein-erkenntnistheoretischer – Standpunkt bei dem Naturalisten Stirner die unausbleibliche Folge: es existiert nur Geist-Körperliches, es existieren nur [163] Geist-habende Körper. Materiale und ideale Einflüsse sind bei Stirner keineswegs zu einer logisch vollkommenen Durchdringung gelangt; bald ist der Verstand der Schöpfer aller Dinge – bald existiert vor allem das Sinnlich-Wahrnehmbare. Aber allen bloß logischen Anfechtungen entgeht nun eben der Naturalist durch seine Metaphysik: diese ist Monismus, ist Identitätsphilosophie, die als solche zweifellos, wie nur sonst ein metaphysisches System, ihre Berechtigung hat und deren praktische Konsequenzen sich uns bald ergeben werden.

Einheit, Monismus, das muß man erkennen, ist die ganze Seele des Stirnerschen Denkens – Zwiespalt gilt ihm überall als das eigentlich Naturwidrige, Ichmordende, Lebensfeindliche. Da dies die Menschen nicht einsahen, so schufen sie den Gegensatz zwischen Sein und Denken, Realem und Idealem im Ewig-Einheitlichen: aus ihm erwuchs dann weiter der Gegensatz zwischen Kraft und Kraftäußerung. Ein ungeheurer Fatalismus und Quietismus paßt sehr wohl zu der monistischen Grundidee und, wie wir bereits wissen – zum Stirnerischen; damit brechen wir aber auch schon hier dem Mißverstand die Spitze ab, als könne die große Ichbetonung am Anfang nur notwendig in eine habgierig aggressive Sucht des Sichaneignen- und Überwindenwollens auslaufen. Erst muß das Ich eben – wollen; wo es aber will, da will es so von Natur, wie der Baum das Blühen „will“. Die alte Anschauung, die Stirner bekämpft, läßt die Kräfte im Menschen „schlummern“; regt sich nun in ihm irgend der „freie“ Wille, so übt derselbe auf sie jenen Druck aus, der als Tat oder Hand- [164] lung sich nach außen (bzw. als Gedanke  innere Tat) offenbart. Dagegen soll es nun heißen: „Kraft ist nur ein einfacheres Wort für Kraftäußerung“ (383). Es ist ganz die monistische Ansicht, die auch der Metaphysik Spinozas zugrunde liegt; was uns innerlich als Wille bewußt wird, hat seinen äußeren, körperlichen Repräsentanten in der parallel gehenden Armbewegung oder dergleichen, die der Dualismus erst „auf Grund“ (causa) des (geistigen) Willens entstanden denkt. Wieviel da von „freiem“ Willen, eo ipso von Verantwortlichkeit die Rede sein kann: darauf antwortet die mechanistische Weltanschauung!

Aber es war auch absurd, sagt Stirner weiter, so zu sprechen: eben hiermit wird alles hinfällig, was man soviel von meiner „Aufgabe“, meinem „Beruf“, dem Beruf meines Lebens gefabelt hat. Du gibst mir Aufgaben, zeigst mir Ideale, steckst mir Grenzen: was soll mir alles dies von dir, dem Fremden? Daß ich Grenzen habe, und welche, weiß ich, d. h. ich weiß es „an“ mir, „da Ich nicht aus meiner Haut fahren kann, sondern an meiner ganzen Natur, d. h. an Mir mein Gesetz habe“ (190). Du verlangst von der Sonne nicht, daß sie morgen statt im Osten im Westen aufgehe, du verlangst von keinem Tier, welches Eier legt, daß es statt dessen einmal lebende Junge zur Welt bringe: nun, so verlange denn von mir nicht, der ich, ob du eiferst oder still bist, mich schurigelst oder in den Himmel hebst, ohnedies und ohne dein Zutun stets „Mensch“ bleibe: daß ich ein „rechter“ Mensch sein oder werden soll! Ein „rechter“ Mensch – was ist das? Sprichst du auch von einem „rechten“ Hund, einem „rechten“ Pferd oder etwas Ähnlichem? In [165] mir, dem Einzigen, liegen zugleich alle Möglichkeiten und Fähigkeiten dieses Einzelnen, seines Seins und Wesens, abgeschlossen vor, und wenn es gewisse andere – die du lobenswürdig oder tadelnswert finden magst: was geht’s mich an? – nicht äußert, so wird es sie wohl auch nicht äußern können! So viel in mir ist, so viel kann auch nur heraus; ein Narr, wer mehr begehrt! (380/382).

Dagegen ist nach Stirners Weltbild gerade eine solche Ansicht von der inneren Einheit des individuellen Seins, das nicht über sich hinaus-, sich gewissermaßen nicht selbst überspringen will,*) berufen, an die Stelle des alten, starrklötzigen, unbeweglichen Seinsbegriffs zu treten, der bewußt oder unbewußt in allen unseren Vorstellungen vom Physischen und Sittlichen noch spukt. Sein ganzer Hohn trifft im Gefühl gerade jener Einheit, die der ängstlichen Behütung spottet, den spießbürgerlichen Charakter, den „starren“, den „gesunden“, der nach Prinzipien handelt, sich selbst nicht untreu werden will und eben dadurch, das so natürlich-Wechselnde der eigenen Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Wünsche usw. einfach negierend, die Natur verleugnet, die Unnatur zur tatsächlichen Richtschnur seines Wesens macht. Das ist sie, darin besteht sie ja, die so vollkommene Einheit und Ungespaltenheit meines Ich, daß es bauen und niederreißen, schaffen und zerstören, behaupten und verneinen kann – und alles aus einer Quelle, alles in einer Person! (Wenn hier Stirner weiter nachgedacht hätte, [165] so wäre er schwerlich bei der meist nur zu äußerlich gefaßten „Person“ stehen geblieben, wäre auf die Kantische Synthese gekommen, die das Ich denn tatsächlich nur im Bewußtsein entdeckt; hätte dann auch die innigeren Brücken zwischen dem Ich und dem Ideal gesehen.) Bin ich darum ein anderer geworden, weil ich morgen das Gegenteil will von dem, was ich heute will? Meine Natur, mein Dasein, mein Gefühl beweist’s eben, daß beides aus einer und derselben Wurzel kommen kann – mein heutiger wie mein gestriger Wille! Und Vergewaltigung Meiner wäre es gerade, wenn ich durch die vielberühmte „Konsequenz“ mich gebunden hielte. „Bist du an deine vergangene Stunde gebunden, mußt du heute plappern, weil du gestern geplappert hast, kannst du nicht jeden Augenblick dich umwandeln: so fühlst du dich in Sklavenfesseln und erstarrt. Darum winkt dir über jede Minute deines Daseins hinaus eine frische Minute der Zukunft, und, dich entwickelnd, kommst du ‘von dir’, d. h. dem jeweiligen Du, los“ (48).



Hier ist der Punkt, wo Stirner wirklich eine wunde Stelle der gesamten neueren Philosophie aufgedeckt hat, wo er zugleich mit seinem Einheitsstreben über jeden früheren Monismus hinauszuwachsen im Begriff ist, indem er seine beiden Klippen: die kahle, leere, nichtssagende Nivellierung sowohl wie seine verschwommene Gefühlsverhimmelung, vermeidet. Er war nur der Mann nicht, dies theoretisch noch fester zu begründen; er hatte zu viele Himmmelseinstürze miterlebt, um den Mut für ein Hegelsches System zu haben: auch lag ihm die Moral noch zu sehr am Herzen . . . Stirner hatte recht gehabt: die gesamte neuere Philosophie [167] hatte sich doch einem Abstraktum gegenüber anbetend verhalten – zwar nicht dem „Geist“ in seiner ganzen umfassenden Sphäre, wohl aber einem seiner durch Abstraktion gewonnenen Vermögen gegenüber: dem Erkennen! Wir sind aber nie bloß Erkennende, wir sind auch Fühlende und Wollende, wir sind es aber, und hierauf ist der doch viel größere Nachdruck zu legen, immer zugleich: Erkennende und Wollende zugleich! Spinoza bringt seine Identität des Realen und Idealen, die all-eine Substanz, in der wir Iche nur noch wie die fernsten Lichtpünktchen verschimmern, mit der Miene des Olympiers, er lehrt absoluten Kausalzusammenhang, Fatalismus, eherne Willensbestimmtheit – aber er bleibt heiter! Was ficht das alles ihn, den Weisen, an? Er erkennt ja doch alles! Hat nicht solch eine grandiose Notwendigkeit eigentlich im Anschauen etwas Wunderschönes? Man denke, ob ich meinem Arm erhebe, ob ich sieben Jahre lang im Gebet vor Brahma verharre: das ist so gänzlich mir selbst entrückt! Lasse ich denn mein Wollen vollständig aus dem Spiele, beschränke mich aufs Anschauen und sei im übrigen froh und guter Dinge: über den Erkennenden haben die Affekte ihre Macht verloren! – Schon gut, könnte man antworten – wenn nur der Narr nicht mein wäre. Das ist alles sehr schön und herrlich im Anschauen; aber schwer ist’s doch zu denken, daß ich möglicherweise schon die nächste Minute auch nicht mehr anschauen darf – daß sie mir im Gegenteil vielleicht nach dem Leben trachtet! – Schopenhauers Monismus dagegen war ehrlich genug, zum ersten Male nicht ein so geordnetes, sich gesetzmäßig verhaltendes Ding wie die Vernunft als das [168] Primäre hinzustellen, sondern etwas so Dunkles, Blindes, Regelloses, Chaotisches wie den Willen. Er sah, daß wir nur zum geringsten Teil im Leben uns als Erkennende verhielten, und dagegen sah er den fürchterlichen Abgrund unserer Triebe, Leidenschaften, der uns regellos nach keinem Vernunftgesetz peitschenden Begierden; aber er sah eigentlich auch wieder lediglich ein Überwiegen der letzteren, und was ihn jede frischgelebte Minute des Daseins hätte lehren können – den ganz natürlich zu schauenden Kompromiß zwischen beiden, den sah er nicht! Der Wille, die Wurzel unseres Daseins, ist durchaus Unhold, durchaus beklagenswert; er läßt das große Heer der Affekte gegen uns los. Aber warum bloß Unhold? Die Vernunft freilich, das sieht er klarer als Spinoza, rettet nicht; sie ist es ja, welche gerade die absolute Willensunfreiheit im tiefsten Grunde erst erkennen läßt. Aber der Wille selbst – benimmt er sich nicht eigentlich, zwischen Scylla und Charybdis eingeschlossen, noch possierlich genug? Rede ihm doch nur tausendmal ein, er sei unfrei – er tut, als ob er dich gar nicht hört, ja, als ob du gar nicht daseist, lacht, weint, jauchzt, jubelt und ist auch wieder traurig, erholt sich wieder, alles auf eigene Faust, als ganz selbständig sich benehmende Kreatur. Soll man darüber weinen, daß er gar so unfolgsam und ungelehrig ist? O nein; denn das muß man ja bald merken: er ist unser ganzer Retter, unser Heiland, ja preise ihn nur! Was wären wir ohne ihn! Aber Schopenhauer, dem der Intellektualismus wie allen Neuen noch im Blute sitzt, kann auch darüber nur weinen. Wie unvollkommen und hinters Licht geführt, wie verschleiert [169] und zwiespältig ist unser Leben! Er wird Pessimist und – aus solchen Voraussetzungen – konsequenter als Spinoza.

Aber Stirner hält sich innerhalb seiner Einheitslehre von jeder Einseitigkeit frei. Er kann trotz seines Determinismus, bei uns nur wie Pflanzen wachsen und Früchte treiben läßt, viel natürlicher Optimist bleiben und von „Lebensgenuß“ sprechen: denn man sehe doch, wie Ich, der Einzige, mich gerade ursprünglich und von Natur verhalte. Da denke ich offenbar an keinen Determinismus; da wachse und blühe ich wirklich wie die Pflanze, deren Duft und Farbe niemand geringer schätzt, auch wenn man auf das Samenkorn weist und meint: nun – daraus mußte eben dieser Duft und diese Farbe entstehen. Ein Samenkorn derselben Gattung, das ich daneben halte, dünkt mich unscheinbar und wertlos gegen die einmal erschlossene Blume. – Werde ich mich also von einer einmaligen Äußerung meiner Denkkraft, einem vorübergehenden Vernunftgebrauch, einer Tätigkeit meiner Person (die aber daneben, wie ich sehe, noch viele Tätigkeiten üben kann und doch durch alle zusammen noch nicht ausgedrückt wird) so abhängig machen und z. B. die erkannte Determiniertheit für höher und wichtiger achten, als etwa eine gegenwärtige Lust zum Tanzen? Darum hat Stirner recht, wenn er in bezug auf alle vorangegangene Philosophie sagt: „Idee folgte auf Idee, Prinzip auf Prinzip, System auf System, und keines wußte den Widerspruch des ‘weltlichen’ Menschen, des sog. ‘Egoisten’, auf die Dauer niederzuhalten. Beweist dies nicht, daß alle jene Ideen zu ohnmächtig waren, Meinen [170] ganzen Willen in sich aufzunehmen und ihm genugzutun?“ (97/98).

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