Ana səhifə

Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


Yüklə 0.57 Mb.
səhifə6/20
tarix26.06.2016
ölçüsü0.57 Mb.
1   2   3   4   5   6   7   8   9   ...   20

[87]

II. Teil.

Die Weltanschauung Stirners.

[89]


A. Zur Vorgeschichte und Entwicklung der Stirnerschen Ideen.
Jeder liegt, so leicht blühend

er sich nach oben auftue, noch

belastet mit einer Wurzel in der

finstern festen Erde.

Jean Paul.
Wir suchen den Menschen Stirner als „Menschen“ zu vergessen; er will nur „dieser bestimmte“, „einzige“, nur einmal dagewesene, nie wiederkehrende Mensch wieder sein.

Man sagt uns, daß wir auf der Fläche der Netzhaut die Gegenstände zunächst verkehrt sähen; so ähnlich ergeht es uns, wenn wir Personen abgetrennt von ihrem Denken betrachten wollen. Erst ein Bewußtseinsakt stellt alles auf die Füße – erst der mitgeteilte Gedanke läßt die Person als „diese“ Person vor uns erstehen.

Gewöhnlich glaubt man, in der Schilderung des „Menschen“, seiner Verwandtschaft, seiner Schulmappe, seines Halstuchs, seiner Schnupftabaksdose das Allerpersönlichste zu geben, in seinen Gedanken das Unpersönliche; natürlich verhält es sich umgekehrt. Wenigstens für die Nachwelt tritt das eben bezeichnete Netzhautverhältnis ein; was sonst unser Leben betrifft, so scheint man noch wenig dahintergekommen zu sein, daß es gerade die tausendfach zusammengesetzte Mosaik eines einzelnen Tages mit seinen nahezu unsagbaren unmittelbaren Stimmungen ist, die in uns selber den ganz spezifischen Geschmack von „Dasein“ und „Atmen“ hinterläßt. Uns hiervon wenigstens eine Ahnung später zu erwecken, ist nur Künstlern gegeben; was Philosophen [90] betrifft, so wird am Ende klar, daß wir bei Stirner schließlich nur um ein Bruchteil ärmer daran sind, als z. B. bei Schopenhauer, von dem unzählig viel Biographisches existiert. In ihren Schriften haben wir den ganzen Kant, den ganzen Schopenhauer usw. – tiefer vermöchte man schwerlich zu dringen.

Aber wenn die Lehre nunmehr das Allerpersönlichste, warum betrachtet man überhaupt noch sozusagen „Leiber“ abgetrennt von ihren Gedanken? Das ist es ja eben: Persönlicheres, so viel ist sicher, vermögen wir von Vielen nicht zu gewinnen, als Gedanken; aber eben wenn sie persönlich blieben und bleiben müßten, wenn wir sie nicht unpersönlich machen könnten, so brauchte sich kein anderer, kein Zweiter oder Dritter um sie zu kümmern, und er täte recht daran. Die Frage ist aber für unser gegenwärtiges Vorhaben von höchstem Belang: der Grundbegriff der Stirnerschen Philosophie, das hat Stirner oft und ausdrücklich betont, soll nach dem, was er „meint“, nicht vollständig mitzuteilen sein; er kann nicht restlos definiert, er kann „gesagt“ werden, aber „Namen nennen ihn nicht“; . . . denn er sei Ich, Du, „Jeder“ Lebende selber! Dieser Nachsatz rettet uns; beinahe mußten wir abbrechen: aber „Jeder“ kennt doch wohl sich selbst?

Mit einem lauten Paradoxon springt so dieser Philosoph plötzlich mitten in den Kreis der Zuhörer, die erwartet hatten, ein stilles, bedächtiges Männlein vorsichtig die Stufen des Katheders erklimmen zu sehen, vorsichtig und zaghaft etwas ab ovo explizieren zu hören. Aha! etwas ganz Neues, denkt jeder, und aller Aufmerksamkeit ist gefesselt; es folgt auch wirkl- [91] lich noch eine tönende Rede, lauter neue Worte, an die man sich erst wird gewöhnen müssen . . . Aber nicht lange: die Stimme senkt sich – der feurige Sprecher macht eine Pause. Und jetzt, keine Täuschung mehr, ruhig und sachlich hat er dennoch ab ovo zu reden angefangen, führt uns zurück in seine fernsten Kinderjahre.

Wollen wir ihn ganz verstehen, so müssen wir ihn dahin und weiter noch begleiten.



______
Das Geburtsjahr Stirners war das Jahr der Zertrümmerung Preußens durch Napoleon; auf dem Schlachtfeld von Jena starb die alte Friderizianische Garde, starb, kann man sagen, das Friderizianische Zeitalter. Zwei Grundströmungen hatten es scharf und kenntlich durchzogen, und aus der politischen Umwälzung, welche die Jahre 1806-1815 für Deutschland brachten, sind auch sie in etwas veränderter Form wieder hervorgetreten. Die eine war der Rationalismus, das Freigeistertum, die den Namen wenig verdienende „Aufklärung“; die andere, ein Protest dagegen, später aber elementar zum Durchbruch gelangend: der Naturalismus, der „Sturm und Drang“. In vielen Geistern haben sich beide Strömungen gekreuzt, sind mehr oder weniger harmonische Verquickungen entstanden; der Drang, alte Priesterarglist zu zerstreuen und den ursprünglich guten Kern von den Schlacken der Jahrtausende zu befreien und zu reinigen, führte bei manchen zur gefühlvollen Begeisterung für die Ideale der Menschheit, für Humanität und Toleranz; bei andern wieder schlug die anfangs [92] wild und ungebärdig flackernde Lohe der Empfindung in die gedämpfte Glut der Bewunderung für ein mißverstandenes Ideal der Antike um. In ihrer reinsten Form ist die strenge, nüchterne, pedantisch über ihr Ziel wachende Aufklärung in Deutschland zumal von Christian August Wolf, vielleicht noch von Friedrich dem Großen selber vertreten worden; alle seichteren und tieferen Ströme des Naturalismus aber haben ihren gemeinsamen Ursprung von Rousseau genommen, in ihnen verschwanden schließlich auch die kleineren Wässer und Zuflüßchen, die anfangs vom Pietismus gekommen waren. Als Napoleon nach Ägypten aufbrach – wenige Jahre bevor er sich die Kaiserkrone Frankreichs aufs Haupt setzte –, da hatte er das echteste Erzeugnis Rousseauschen Geistes in der Tasche, „Werthers Leiden“, die er „mehrmals gelesen zu haben“ behauptete, und der Liebling und Erbe der Revolution bekundete damit noch deutlich seine engste Zugehörigkeit zum „Sturm und Drang“. Auf den Schlachtfeldern Jenas siegte ungestüme Begeisterung über eine in Etikette und Formelkram –Resten des rationalistischen Zeitalters – erstorbene Kulturwelt.

Den engen Zusammenhang des mächtigsten Kaisertums von Europa mit der Empörung des „dritten Standes“, mit dem Ideal der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hat schon Stirner seinerzeit klar durchschaut.*) Die Rousseausche Saat, die in Frankreich so blutig aufgehen sollte, enthielt Saaten von zweierlei Korn, wie aber weder der Sämann, noch der frisch-keimende Acker, sondern erst die Zeit des Einsammelns [93] gelehrt hat. Ohne der feineren Zwischenstufen zu gedenken, liegt dieses Zweierlei in Rousseaus beiden Hauptwerken versinnbildlicht vor, deren praktischen Widerspruch der Theoretiker selbst noch nicht gefühlt hat und auch nicht fühlen konnte, denn er gab Gedanken, und Gedanken haben ihre eigene Kausalität, die durchaus nicht immer diejenige der „Tatsachen“ zu sein braucht. Wir meinen den „Emil“ und den „Gesellschaftsvertrag“. Was war der „Emil“, der wie ein neues Evangelium, eine neue Offenbarung über den Menschen, auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkte, anders als das Programm des Individualismus? Ein Mensch sollte wachsen, wachsen wie eine Pflanze, alle Anlagen aus sich, aus dem Keime heraus entwickeln, der Erzieher stand nur daneben wie ein Gärtner, wachsam, Schädlinge fernhaltend, behutsam nachhelfend . . . Was enthielt dagegen der „Gesellschaftsvertrag“? Durchaus keinen logischen Widerspruch etwa; es war noch dasselbe Individuum, derselbe Einzelmensch verblieben, den man jetzt bloß notgedrungen aus der Einsamkeit – es war ja nur ein Experiment! – herauslösen und in stete Berührung mit den tausend und abertausend anderen Individuen bringen mußte. Von Natur ist noch jeder ein „Einzelner“; im „Leben“, im notwendigen Verkehr mit anderen wird jeder dieser „Einzelnen“ von selbst so vernünftig sein – zum ersten Male fällt das Wort Vernunft! –, etwas von seinen „angeborenen“ Rechten zugunsten der Gesamtheit preiszugeben. Man tritt zusammen, man einigt sich auf die freundschaftlichste Weise mit dem Nachbar, mit allen, man schließt – den „Gesellschaftsvertrag“. Welch ein kolossaler Unter- [94] schied gegen früher! Früher eine kleine Zahl von Feudalherren und die große Masse der ärmsten, gedrücktesten Leibeigenen; jetzt alle „gleich“ – nämlich vor dem Gesetz. (War nicht eben von der „Ungleichheit“ der Individuen die Rede? – aber die tastet dir natürlich keiner an!) Früher ein einziger schrecklicher, blutdürstiger Tyrann und Despot, dem alle Sklavendienste leisten – jetzt jeder einzelne „frei“. (Auch „frei“ vom Gesellschaftszwang? – Nun, deine Anlagen werden sich doch nicht gegen die Gesellschaft entwickelt haben!) Hierin lag der Keim zu praktischen Widersprüchen enthalten; er lag freilich auch schon in jenem sonderbaren, alle Menschen für geborene Engel erklärenden „Individualismus“. Aber das Volk, von den unerträglichen Lasten der Feudalwirtschaft gepeinigt, stürzte sich natürlich mit Heißhunger vor allem auf das alleinseligmachende Programm der Liberté égalité fraternité, rüttelte an den verrosteten Sklavenketten eines mattherzig und blöde gewordenen régime und wußte natürlich nicht, daß es damit in der eigenen Mitte gerade den kräftigsten Nährboden für eine erneute Unterdrückung, eine noch viel vollkommenere Despotie schuf. Diese allgemeine „Freiheit und Gleichheit“ mußte ein wirklich überragendes Individuum natürlich noch viel rascher überwinden und mächtiger überragen, als einen in tausend Rangstufen zerteilten Staat, von denen jede der anderen aus Egoismus zu Hilfe kommt. Was bei diesem scheinbaren „Umschlag“ der Revolution von je am meisten verwirrte, war wohl auch weniger die Tatsache selbst, daß ein ganzes Volk, das eben für Freiheit geschwärmt hatte, sich abermals unter einem Herrn be- [95] fand; sondern war sicherlich mehr noch die ganz „unlogische“ Schwärmerei und Raserei gerade für diesen neuen Herrn – statt des erwarteten Zähneknirschens der Unterdrückten. Diese Begeisterung kommt denn auch einzig auf Rechnung der Individuums, der kolossalen Größe eines Napoleon.

Jedenfalls aber hatte sich gezeigt, daß dieser Individualismus, der zugleich von „allgemeinen Menschenrechten“, „allgemeiner“ Menschenbeglückung schwärmte, in der Tat – gar kein Individualismus war! Vielleicht war er Vorstufe, indem von den Menschen erst das entwürdigendste Joch äußerer Knechtschaft und äußeren Vasallentums einmal genommen werden mußte, um sie tiefer auch auf ihr inneres Ich zu führen. Und übrigens ist jener Drang nach politischer und gesellschaftlicher Freiheit und Gleichheit als dem Erstrebenswertesten im 19. Jahrhundert auch keineswegs zur Ruhe gekommen, sondern durchzieht es als wohlbekannte Strömung des Sozialismus bis in unsere Tage. Aber schon in Napoleon hatte er gewissermaßen eine lebende Verneinung erfahren, und einer seiner größten Bewunderer, kein anderer als Goethe, war vom Rousseauschen bereits zum Individualismus der Persönlichkeit, des bestimmten, einzelnen Menschen fortgeschritten. Wir stoßen hier auf die Anfänge der Romantik, die ihrem tiefsten Grunde nach ein Kultus des allerpersönlichsten, ja, des schrullenhaftesten, mysteriösen, „abnormen“ Menschen gewesen ist, ein Kultus des Ich, der Originalität. Die ganze Jugendzeit Stirners fällt in die Blüte der Romantik, und wir werden Stirner nie verstehen, wenn wir nicht diese erste Atmo- [96] sphäre, in der er atmete, diesen wichtigsten Nährboden seines Seins bedenken. Es ist nicht die einzige Luft, die er atmet; denn, wie wir schon andeuteten, auch der Rationalismus des 18. Jahrhunderts ist im 19. unter anderem Namen, unter welchem sich aber seine ehemalige Beschränktheit und sein abstrakt-verknöcherter Moralismus noch genau wie früher verbargen, wieder aufgetaucht – als Liberalismus. Wir gehen nicht fehl, wenn wir sagen, daß das Widerspiel dieser beiden Mächte es gewesen ist, das Stirner zu keiner besonders glücklichen Entfaltung, zu Überreiztheit, Negation und Übertreibung kommen ließ. Kein Wunder: es sind andere Große, Heinrich von Kleist und Heinrich Heine, zwischen ihnen überhaupt zerrieben worden.



Stirners Beziehungen zur Romantik sind meines Wissens noch kaum bemerkt, jedenfalls noch nicht genauer untersucht worden; der Grund ist auch nicht so schwer zu durchschauen. Wer sich am ersten oberflächlichen Eindruck des „Einzigen“ genügen läßt, könnte in der Tat auf den Gedanken kommen, er habe es mit einem politischen Tagesschriftsteller zu tun, oder doch mit einem Schriftsteller, der den ganzen sozialen und revolutionären Zeitinhalt von Achtundvierzig vergeblich loszuwerden strebt. Man stößt da auf seltsame Dinge; es kann vorkommen, daß auf der einen Seite in erhobener Sprache Aristoteles zitiert wird, etwa mit dem Satz „Gerechtigkeit ist der Nutzen der Gesellschaft“, und daß man wenige Zeilen weiter liest: „die – Vossische Zeitung präsentiert Uns den ‘Rechtsstaat’!“ Das ist ein typisches Beispiel, wie Stirner gern in kurzem mit der gesamten ungeheuren Ver- [97] gangenheit, die er nun einmal als Feindin heraufbeschworen hat, fertig werden möchte – aber es wird mißverstanden. Stirner selbst fühlt nämlich sofort diese Unzulänglichkeit und macht sich nun doch – gezwungen – systematischer an die Objekte. Aber er windet sich förmlich hindurch; seine Sprache wird schläfrig, langweilig, oft sich wiederholend, um endlich, endlich (man merkt ordentlich das Aufatmen) mit einem letzten feurigen Sprung, einem „Satz“ aus Glut und Flamme auf ein langersehntes, im Grunde einzig gewolltes Ziel zuzufliegen, es dann hastig an sich zu reißen. An diesen Sätzen muß man es wittern, wie öde und trist ihm selbst im Grunde alle Debatten über die in jedes Winkelchen hinein verlogenen Philisterinstitute erscheinen, alle Diskussionen, deren er doch bedarf, um nicht von vornherein überhaupt als Narr abgeschlachtet zu werden; woraus auch jene ihr Urteil entnehmen mögen, die in scheinbarer Großmut Stirner als den Ganz-Überlegenen hinstellen wollen, der sich in der Tat mit den Leuten nur einen Spaß erlaubt habe. Auch spottet er selbst wohl über den brutalen Ernst, mit dem ein Zeitgenosse die Teilnahme an Staat und Politik verlangt hatte; und an diesen Sätzen eben, wo er ihr den Rücken kehrt – und man braucht nicht etwa zu meinen, daß ihrer wenige seien, die Ungeduld geht mit dem Schreiber noch oft genug durch! –, muß man ihm den Puls fühlen. Eine ungeheure Sehnsucht quillt empor; nach einem „namenlosen“, „unsagbaren“, „unaussprechlichen“ Ich, nach einem Ur-Ich, das noch niemals gesehnt und gedacht, noch niemals die erschütternde, lastende Wucht quälender Gedanken verspürt hat, nach einem [98] vegetativen, „gedankenlos-jauchzenden“ Ich; ist es nicht, fragen wir, der ganze Rousseau, der hier spricht, sein leidenschaftlicher Krieg gegen die Verderbtheit der Bildung und des Denkens? Aber Rousseau, da er ein einziges Mal von Stirner erwähnt wird, hat ihm diesen Krieg erst halb und noch zu konventionell geführt; der vertiefte Rousseau – das war aber gerade die Romantik. Und in Bayreuth saß einer, der auch mit Rousseau begonnen hatte, aber aus der Tiefe seines Gemütes das bloß larmoyante Ich des Franzosen mit dem unendlichen Farbenreichtum aller Stimmungen zu erfüllen wußte, der dadurch recht eigentlich der Vater der Romantik geworden ist: kein anderer als der nun mehrfach genannte – Jean Paul. Auch dafür, daß ihn Stirner gekannt, gelesen, verehrt habe, liegt nicht das geringste Zeugnis vor: und trotzdem ist das alles zweifellos. Man muß sich nur vergegenwärtigen, daß Jean Paul damals eine Größe in Deutschland war, die dicht neben den Namen Goethe, Herder, Wieland und Schiller genannt wurde; sollte der Gymnasiast nicht andächtig an seinem Haus vorbeigegangen sein, seine Werke nicht verschlungen haben? Oder wenn seine Lehrer, die Hegelianer, vielleicht wenig von der Clavis Fichtiana*) wissen wollten: übt nicht der „große Dichter“ schon allein als Klang auf den Knaben eine unwiderstehliche Wirkung aus? Kurz vor seinem Abgang zur Universität erlebt er das Leichenbegängnis Jean Pauls (1825), und tiefere Trauer ging nie hinter dem Sarge eines Fürsten her: muß es nicht unverlöschliche Eindrücke in der Seele des [99] Jünglings hinterlassen? Aber welches Wehen Jean Paulschen Fittichs wollen wir etwa in diesem absolut „unpoetischen“ und dann ja auch maßlos alle Jean Paulsche Liebe höhnenden Geiste verspürt haben? Nun, soweit das Mißverständnis hinsichtlich der Stirnerschen Schreibweise nicht schon oben eine Erklärung gefunden hat und über seinen Stil noch an anderer Stelle zu sprechen sein wird: soviel leuchtet ja auch ohne weiteres ein, daß hier zwei individuell-aparte Naturen sich nicht individuell-entgegengesetzter hätten offenbaren können! Und trotzdem, täuschen wir uns etwa, wenn wir noch hier und da selbst Reminiszensen der einstigen Jünglingslektüre bei Stirner wiederzufinden glauben? Ist es nicht wie ein Satz unmittelbar aus Jean Paul, wenn wir in der herrlichen Einleitung zu dem Aufsatz „über das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ lesen: „um den verwesenden Nachlaß der Vergangenheit sammeln sich die Adler des Augenblicks“; oder im „Einzigen“ die sentimentale Stelle: „jetzt kühlt die Gewohnheit der Entsagung die Hitze deines Verlangens, und die Rosen deiner Jugend erblassen in der Bleichsucht deiner Seligkeit“? Treffender Witz, Ironie, Sarkasmus, das Erbteil aller Romantiker, wir finden es noch potenziert bei Stirner. Und doch sind das alles Äußerlichkeiten; daß Jean Paul es war, der der Romantik jenes krause, unsagbare, unheimliche, bald vor sich selbst erschreckende, bald aller Schranken spottende, souveräne „Ich“ gegeben hat, dessen müssen wir uns erinnern! Daß Jean Paul es gewesen, der dem Fichteschen absoluten Ich zuerst das individuelle gegenübergestellt hatte, daran müssen wir denken; und vielleicht endlich auch daran, wie [100] auf den jungen Stirner einmal die autobiographische Skizze seines großen Landsmannes gewirkt haben mag, in der jene seltsame Vision aufbewahrt ist: „Nie vergeß’ ich die noch von keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit genau anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr, und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.“

Jenes zügellose, willkürliche, „das Recht einer reizenden Verwirrung“ für sich in Anspruch nehmende Ich, wie es Jean Paul sozusagen als leibhaftiges dann in seine Dichtung aufgenommen hatte, das er meist mit direkter Rede einfallen, urplötzlich bei der spannendsten Erzählung gerade dazwischenfahren läßt – dieses Ich, das bei Jean Paul innerste Natur war, haben ihm die Romantiker erst abgeguckt, und künstlerisch hat es bei ihnen keine Steigerung erfahren, leichter dagegen in Manier und Übertreibung ausarten können. Dafür aber stoßen wir bei den Brüdern Schlegel, den Theoretikern der Romantik, bereits auf das Charakteristische jener Moral, deren engste Zusammenhänge mit der Betonung des individuellen Ich und der Persönlichkeit uns noch viel beschäftigen werden. Wir rücken absichtlich nicht Goethes Übermenschentum in den Vordergrund: bei Geistern wie Goethe finden sich die reifsten Keime zu fast allen philosophischen Gedanken der Welt; aber [101] auch bei einem Friedrich Schlegel lesen wir zu jener Zeit Worte, die wie Ahnung fernster Revolutionen klingen. „Die erste Regung der Sittlichkeit ist Opposition gegen die positive Gesetzlichkeit und konventionelle Rechtlichkeit . . . Nichts ist toller, als wenn die Moralisten Euch Vorwürfe über den Egoismus machen. Sie haben vollkommen unrecht: denn welcher Gott kann dem Menschen ehrwürdig sein, der nicht sein eigener Gott ist!“ Dieser „eigene Gott“ ist aber natürlich gleich dem launischen, regellosen Ich von nicht viel ständigerem Charakter: er wird, wo „Stabilität“ so gering im Werte steht, auch wenige der geheiligten „stabilen“ Verhältnisse zu schützen länger ein Interesse haben; und in Schlegels „Lucinde“ finden wir die ganze Hohlheit der modernen Ehe schon so unbarmherzig aufgedeckt, wie nur später in der interessanten Entgegnung Stirners auf die Rezension Feuerbachs, wo Kuno und Kunigundes Musterehe vorgeführt wird. Ein begeisterter Verehrer der Brüder Schlegel war der fromme Theologe Schleiermacher; und bei ihm hat dann Stirner in Berlin gehört.

Aber um diese Zeit sind freilich daneben auch wieder ganz andere Mächte die „treibenden“ in Deutschland geworden; und das muß nun vor allen Dingen deutlich werden, daß das letzte Resultat der Stirnerschen Individualität auch nicht aus einer einzigen Quelle geflossen ist, sondern aus einem Anprall, einem Bruch und Riß mitten durch eine Welt der Ideen sich ergeben hat. Wir können hier noch nicht alle Zeugnisse dafür ins Feld führen; aber das wichtigste liegt wohl in den tiefschlummernden Widersprüchen vor, an denen die Romantik selbst innerlich krankte [102] und in denen sie sich selbst verzehrte. In Bayreuth atmete Stirner noch ganz jenen berauschenden Duft der Romantik ein, wie er in vollkommenster Verklärung über dem harmonischen Sterben Jean Pauls webte; in Berlin stößt der Jüngling hart und unvermittelt plötzlich auf die finstere Kehrseite derselben Romantik, auf Reaktion und Despotismus. Hätte er schon das Souveränetätsgefühl der vierziger Jahre in sich gehabt, wo in der Tat der geborene Romantiker noch einmal in maßloser Übertreibung bei schon innerlicher Geschwächtheit zum Durchbruch kam, er würde diese Paarung zwischen extremstem Individualismus und Aristokratismus begreiflich gefunden haben, begreiflich, daß der Romantiker nicht für den erdrückenden Volkswillen, sondern gerade für die Glorie eines Absolutismus schwärmte, die er ja kraft seines Selbstbewußtseins leicht in sein eigenes Ich projizieren konnte. Jetzt aber, in den zwanziger Jahren, waren die „Karlsbader Beschlüsse“ noch in zu frischer Kraft, war die Regierung als das rückschrittliche Element überhaupt zu sehr in das allgemeine Bewußtsein (zumal das studentische!) übergegangen, als daß sich neben dem noch gänzlich unbestimmten Freiheitsdrang im Jüngling ein tieferes Verständnis für diese Zusammenhänge hätte bilden können. Als dann aber später die innere Aussöhnung zwischen den widersprechenden Elementen seinen Jahren nach wohl hätte eintreten können (man vergleiche nur den Tyrannenhasser und Räuberdichter Schiller mit dem weimarischen Hofdichter), da war dieses ursprünglich-romantische Ich schon zu hart mit der Prosa staatlicher Ordnungen zusammengeraten, da hatte sich schon zu gräßlich die [103] Gefahr der Verkümmerung individueller Anlagen im Staate bei ihm herausgestellt, als daß es nicht über ihn selbst und jede ichfremde Despotie überhaupt hinauszudrängen begehrt hätte.

Da liest nun vom Katheder Schleiermacher; was liest er? Entzückt werden wir dem Evangelium des Individualismus lauschen; das ist ja doch noch derselbe, wiewohl schon alternde Schleiermacher, der die feinste Blüte Athens, den Extrakt einer ganz persönlichen Kultur vor Augen zu führen weiß! „So ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstellen soll, in eigener Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und alles wirklich werde in der Fülle des Raumes und der Zeit, was irgend Verschiedenes aus ihrem Schoße hervorgehen kann. Mich hat vorzüglich dieser Gedanke emporgehoben und gesondert von dem Geringeren und Ungebildeten, das mich umgibt; ich fühle mich durch ihn ein einzeln gewolltes, also auserlesenes Werk der Gottheit, das besonderer Gestalt und Bildung sich erfreuen soll.“ Schrieb er so nicht in seinen Monologen? Aber in welcher Beziehung soll das nun Folgende zu dieser Heiligkeitserklärung jedes Menschen als eines „einzeln gewollten“ stehen? Spricht er jetzt nicht von den vollkommenen ethischen Formen, die nur im Staate ihre Verwirklichung finden? Doch kein Zweifel, er meint den Idealstaat, jenen Staat, in welchem gerade die einzelne, sich nie wiederholende Form des Individuums ihren gebührenden Respekt finden werde. Doch – o nein, nicht von der Zukunft, nicht einmal von einem antiken, vergangenen Staat war die Rede; von Deutschland ist [104] die Rede! Von Preußen wie von einem Eck- und Grundstein aller Hoffnung ist die Rede! Nun, daß Preußen um diese Zeit nicht „ethisch“ ist – es braucht ihm nicht einmal widerlegt zu werden! So der eben flügge gewordene Student.

Aber nun erst Hegel! Auch in Hegel lebte eine Menge romantischer Reste und Fragmente, ohne daß der kluge Mann, der sich in der Folgezeit als der brauchbarste Hort des preußischen Staatswesens entpuppte, es auch nur für nötig gehalten hätte, sie aus einem System mit vollständig rationalistischer Spitze nachträglich auszuscheiden. O nein; er läßt vielmehr den Geist Stufen auf Stufen beschreiben, und während er lange Zeit mit der „sich selbst realisierenden Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ fesselt und hypnotisiert, nahen sich diesem unbemerkt auf den höheren Stufen immer erstickender, enger und gefährlicher die eisernen Ringe der Staatsgewalt, um es schließlich ganz einzuschnüren und jede eigene Bewegung ihm fortan unmöglich zu machen. Unbemerkt, sagen wir; und denken daran, wie dieser mächtige Zauberer es in der Tat verstanden hat, die Suggestion bis auf die Spitze zu treiben und den meisten bei Lebzeiten das Prokrustesbett, in das hier nach und nach die Begriffe gelegt werden, hinter einem Vorhang zu verbergen. Aber wie viele doch schon damals im Kolleg gesessen haben mögen, voll geheimen Ingrimms und die Faust in der Tasche gegen den Heiliger von Kabinettsbeschlüssen ballend – wer hat es uns überliefert? Jedoch die eilige Zerbröckelung des Systems nach seinem Tode spricht deutlicher als alles. Hegel verkörperte noch einmal den Rationalismus des 18. Jahr- [105] hunderts in seiner krassesten Form; er war ein echt „Liberaler“ geworden, als sich ihm die auch in der Romantik enthaltenen Keime der Reaktion für ein wohlgeordnetes System als zu unlogisch erwiesen, um den Begriff eines unantastbaren, allein-ethischen Staatswesens zu begründen.

1   2   3   4   5   6   7   8   9   ...   20


Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©atelim.com 2016
rəhbərliyinə müraciət