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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Gerade die Beziehungen zu Hegel und Schleiermacher werden uns indes bei der Besprechung des „Einzigen“ noch genauer zu beschäftigen haben; hier können sie nur berührt werden. Genug, daß eine plötzlich auftauchende Unlust im Studium, die wir zu bemerken glaubten, auch durch die widersprechendsten Einflüsse, die auf den jungen Menschen einstürmen, wahrscheinlich gemacht ist. Es folgt eine längere Reise; er sieht Land und Leute, er lernt vielleicht die politischen Verhältnisse einiger Kleinstaaten kennen, auf denen z. B. die damals noch schwer empfundene allgemeine Wehrpflicht nicht wie in Preußen lastet. Er selbst muß sich bald darauf in Königsberg stellen, kommt aber „als Halbinvalide“ frei. Königsberg ist noch immer, wenn auch nicht die Stadt „der reinen Vernunft“, so doch einer kühlen, wohltuenden Verständigkeit. Krug, ein nüchtern-empirischer Psycholog, und Herbart, der Mathematik in die Philosophie einführen will, sind die Nachfolger Kants. Die Hegelsche Philosophie als reinste, gewagteste Spekulation faßt um diese Zeit dort noch keinen Fuß; man ist stolz, den strengen Geist der Kritik, den Kant geweckt hat, zu bewahren. Und als nach längeren Jahren erst der Hegelianismus u. a. durch Rosenkranz eingeführt wird, da schreibt dieser selbst in seinen „Königsberger Skizzen“, die Stirner rezensiert hat: „auch da, wo [106] man es nicht erwarten sollte, wird in Königsberg eine Opposition laut werden.“ Um diese Zeit – d. i. etwa zwölf Jahre später – erinnert sich zwar Stirner nicht mehr vieler Einzelheiten seines Aufenthalts; aber diesen Zug der Königsberger hat er doch nicht vergessen. – Die fernere Pause seines Studiums scheint Stirner viel mit Geschichte ausgefüllt zu haben; eine Anregung dazu gab ja auch Hegel. Doch, als ob es darauf abgesehen wäre, immer wieder liefert ihm die Gegenwart zugleich die sprechenden Bilder eines Kontrastes: in Kulm, wo er jetzt eine Zeit zubringt, leben sie, die versprengten Flüchtlinge des ruhmvollen Polenreichs, die ihr freies Vaterland nicht vergessen und nicht verschmerzen können; sicher ein Beispiel ethischen Verhaltens von Staat und Geschichte . . . Und eiserner, immer drückender lastet dazu die Hand Metternichs auf Österreich so sehr wie auf Preußen. –



Der Student ist wieder in Berlin, und nach zwei Jahren läßt er uns zum ersten Male in seine Geisteswerkstatt blicken; wir wissen schon, um was es sich handelt, um seine Arbeit zum Staatsexamen: „Über Schulgesetze“. Wir hofften diese noch vollständig erlangen zu können, erfuhren aber mittlerweile, daß es schon dem Biographen nicht möglich gewesen ist, mehr als Bruchstücke davon zu erwerben, indem nur ein Zufall überhaupt die Abhandlung vor der gänzlichen Vernichtung bewahrt hat. So sind wir denn auf jene Stellen beschränkt, deren Hauptinhalt schon Mackay mitgeteilt hat, und die das Eine wenigstens nicht mehr zweifelhaft lassen, daß Hegel auf die Struktur des Stirnerschen Denkens tatsächlich einen großen Einfluß ausgeübt hat, während die Abkehr [107] von Hegelscher Lehre bereits hier wenigstens das Wahrscheinliche ist. Mit Sicherheit läßt sich das letztere nämlich aus folgendem Grunde nicht nachweisen: wenn auch einerseits nicht zu verkennen ist, daß das Resultat, sofern es die abstrakte Freiheit schon für einen Inhalt erklärt, auf ein antihegelsches hinausläuft, so ist dennoch der Anschein erweckt, als sei man bei Hegel durchaus verblieben – und das hätte nur in dem Falle Sinn gehabt, wenn der Aufsatz einen Hegelianer zum Richter gehabt hätte. Trendelenburg aber, der Antihegelianer, brauchte nicht düpiert zu werden, und sein Urteil, daß ihm eine freie Entwicklung ohne Ableitung aus festen Formen und Begriffen lieber gewesen wäre, beweist es. Stirner geht vom Wesen des Gesetzes aus, das er keinem Dinge von außen, sondern aus der eigensten innersten Natur gegeben sein läßt. Ein Schulgesetz ist also die Auseinandersetzung dessen, was wir unter dem Begriff „Schüler“ verstehen, was im Begriff „Schüler“ selbst schon liegt. Damit ist dieser aber im Grunde bereits für autonom erklärt, und wenn andere bei noch mangelnder Icherkenntnis des Zöglings auch dessen Leitung zu übernehmen scheinen, so sind sie doch in dieser gerade völlig an die Natur, die Individualität des Schülers gebunden und verlieren für sich jegliche Autorität, sobald die Wissenschaft selbst als innerlich-erkannte Aufgabe sich dem Menschen vor Augen stellt. „Das Gebiet der Wissenschaft“ aber, ihre „höchste Aufgabe“ ist die Freiheit – damit schließt Stirner; und nur durch diesen vorzeitigen Schluß entfernt er sich ganz zuletzt erst von Hegel, der die „Selbstbestimmung“ und die „Realisierung der Frei- [108] heit“ als abstrakte Formen der Geistentwicklung ebenfalls gelehrt hatte – nur daß sie ohne den positiven Inhalt der Gesetze noch völlig leer seien. Stirner mag nun eine gewisse Genugtuung darüber empfunden haben, daß ihm innerhalb seines Themas die Möglichkeit gelassen war, die Entwicklung des „objektiven Geistes“ gerade nur bis zu jener Stufe zu führen, wo er noch mit keinem ihm von außen aufgelegten Zwange zu kollidieren brauchte; und das glauben auch wir. Aber daß er zuletzt „aus geziemender Bescheidenheit“ von der „Aufstellung eigentlicher Schulgesetze“ abgesehen hat, kann eben auch viel harmloser und natürlicher ausgelegt werden, denn als „köstlicher, scheinbarer Ernst“ (Mackay); es lag dann einfach nicht mehr im Rahmen seiner Arbeit. Und wie weit nun, bewußt oder unbewußt, die „Freiheit“ im Hegelschen oder schon im Stirnerschen Sinne am Schlusse durchbricht: so weit ist jedenfalls, daran kann kein Zweifel sein, die Entwicklung noch hegelisch.

Es ist daher unmöglich zu entscheiden, ob Stirner, wie Mackay annimmt, bereits zu dieser Zeit die Souveränetät des Ich, sein Grundgedanke, irgendwie deutlicher vor Augen geschwebt hat; aber sicherlich schon die nächsten Jahre mußten beinahe mit Notwendigkeit darauf führen. Als der Hegelianismus in der Folge sich stärker zu zersetzen begann, kamen ganz natürlich nach und nach wieder alle Bestandteile zum Vorschein, die nur die große Fertigkeit des Meisters zu einem künstlichen Gewebe zusammenzuwirren verstanden hatte, und so auch wieder das Fichtesche Ich und wandte sich zunächst gegen das – Christentum. Wenn man abergläubisch sein will, wie seligen Ange- [109] denkens Otto III., der zum Grabe des heiligen Adalbert pilgerte, so ist der Antichrist dennoch im Jahre 1000, nämlich des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, erschienen,*) und Nietzsche war nur noch ein Anachronismus. Und natürlich hatte er auch seine Vorboten entsandt, das war aber schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Hegelianer David Strauß entkleidete den Gottessohn seiner Göttlichkeit und machte ihn zum edlen und reinen Menschen; aber er lenkte eben damit den Blick wieder auf Fichte, dessen Ich sich im Grunde bereits einen durchaus ähnlichen Standpunkt auf Erden bereitet hatte. „Das, was sie Himmel nennen,“ so hatte schon Fichte gesprochen, „liegt nicht jenseits des Grabes; es ist schon hier um unsere Natur verbreitet, und sein Licht geht in jedem Herzen auf. Mein Wille ist mein, und er ist das Einzige, das ganz mein ist und vollkommen von mir selbst abhängt, und durch ihn bin ich schon jetzt ein Mitbürger des Reichs der Freiheit und der Vernunfttätigkeit durch sich selbst. Welche Bestimmung meines Willens in die Ordnung desselben passe, sagt mir in jedem Augenblick mein Gewissen, das Band, an welchem jene Welt unablässig mich hält und mit sich verknüpft; und es hängt ganz von mir selbst ab, mir die gebotene Bestimmung zu geben.“

So war denn auf die Allmacht des Ich der Blick gerade wieder zu einer Zeit gelenkt worden, da man anfing, die anderen Vermächtnisse der Romantik, Reaktion und mittelalterliche Frömmigkeit, in den Kreisen der Aufklärung mit einer Leidenschaft, einem [110] Haß zu verfolgen, der als spät ausbrechende Flamme der Revolution sich zuletzt gegen die Person des preußischen Königs selber wenden sollte, gegen den romantisch-pietistischen Friedrich Wilhelm IV. Die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit gebiert in den dreißiger Jahren zunächst die Anfänge des modernen Sozialismus, damals noch vorwiegend in der unklareren Form des Kommunismus vertreten; auch hier ist es ein ehemaliger Hegelianer, Karl Marx, der das allzu luftige Gebäude Hegelscher Geistentwicklung mit derber Materie zu füllen, es auf die Füße berechenbarer, ökonomischer Lebensbedingungen herunterzuziehen sucht und – dadurch natürlich den ganzen Bau ins Wanken bringt. In Frankreich schreibt Proudhon um diese Zeit in aufreizendem Tone das Grundbuch des „Anarchismus“ – gebraucht diesen Terminus zum erstenmal für eine neue Lehre, welche die Unabhängigkeit des Menschen von jeder und jeglicher Herrschaft fordert. Auf dieses Werk hat Stirner im „Einzigen“ oft Bezug genommen, aber immer, wie man sehen kann, in polemischer Absicht; sollte nun nicht doch Stirners souveränes Ich mit dem Proudhonschen im einfachsten Zusammenhang gestanden haben? Proudhon ist Nationalökonom, und Stirner – Philosoph; beide sind von grundverschiedenen Voraussetzungen ausgegangen und dementsprechend zu grundverschiedenen Konsequenzen gekommen: und doch hat gerade auch Stirner die Philosophie in gewissem Sinne ebenfalls abgelehnt – wie sollen wir das nun verstehen? Stirner ist fraglos nicht mehr Philosoph im absoluten, abstrakt-idealistischen Sinne – er bezeichnet den Übergang zu einem neuen, weniger [111] spekulativen, darum den „Gedanken“ doch nicht eben loswerdenden Stadium der Philosophie. Um das zu erkennen, bleibt noch ein Rest von Einflüssen, fast der wichtigste, zu betrachten, ohne den wir niemals zum vollen Verständnis der Natur des Stirnerschen „Ich“ gelangen.

Die Überwindung des Hegelschen Systems scheint allmählich in einer Reihe nachhegelscher Systeme vor sich gegangen zu sein; „scheint“ sagen wir mit Recht: es war nur die glänzendere Außenseite! Es gab wohl noch eine ganze Reihe von „Hegelianern“, Hegelianer der „Rechten“ und „Linken“, und endlich findet man in jeder Geschichte der Philosophie die Reihe der „Junghegelianer“ aufgeführt, die Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer, denen gewöhnlich als letzter Stirner angehängt wird. Aber wohin wir sonst in der Geschichte der Philosophie blicken, da wird ja unter „Richtung“ oder „Fortsetzung“ etwas ganz anderes verstanden, als hier; so waren die megarische und die elische Schule „Schulen“ des Sokrates, denn sie übernahmen direkt Elemente seiner Dialektik oder Ethik, verschmolzen sie mit anderen, bildeten sie fort usw. So war Spinoza noch ein echter Cartesianer, Wolff noch ein echter Leibnizianer. Im letzteren Fall haben wir allerdings ein Beispiel, das man uns auch entgegenhalten könnte: Wolff selbst wollte durchaus nichts von seiner Übereinstimmung mit Leibniz wissen, nur leider, die Geschichte hat hier das Urteil nicht mehr revidieren können, wo er Neues gebracht, da hatte er Leibniz höchstens verwässert. So aber liegen doch die Sachen keineswegs hier, wenigstens nicht bei den „Junghegelianern“. Sie haben sich aufgelehnt, em- [112] pört, den Sturz des Lehrers herbeiführen wollen: daß ihnen dabei leider keine anderen Waffen als – Hegelsche zu Gebote standen, daß sie nicht eigenkräftig und eigengeistig genug waren, um System mit System zu bekämpfen, dafür kann man doch Verdienst oder Schuld nicht mehr Hegel beimessen! Und bei Stirner liegt die Sache überhaupt anders; daß er bei „Philosophie“ gewöhnlich nur immer das Hegelsche System im Auge hatte, damit ging’s ihm ungefähr so, wie dem nächsten „Nachfolgern“ Kants mit Kant: sie knüpften an ihn an, weil er eben das letzte große Geistesereignis war, und doch wird niemand daran denken, unter die typischen Kantianer gerade Fichte, Schelling, Schopenhauer zu zählen. Die echten, wirklichen Kantianer – die leben heute, so wie es heute auch schon wieder Hegelianer gibt. Aber Stirner ist so wenig Hegelianer, wie „Junghegelianer“: er bezeichnet schon das nächste, wenn man will: das ermattete Stadium der Philosophie in Deutschland, er bezeichnet mit einem Wort – die wieder erwachte Freude am Sinnlichen . . .



Man hatte genug der leidigen Abstraktionen. Von all den Ideen, vom Wesen, vom Geist, von der Freiheit, nun gar von den krauseren Begriffen: vom Anderssein und Zurückkehren der Ideen, von der Thesis der Antithesis und Synthesis, endlich vom Absoluten – von alledem hatte man genug! Ein Heißhunger entwickelte sich, nach etwas, das man packen, greifen, wohl gar zwischen den Zähnen zerbeißen konnte – ein Heißhunger nach Leib und Fleisch und Materie. Immer wenn der Gedanke zu seinen höchsten Gipfeln emporgeklettert ist, bemerken wir [113] diese Ermattung, verbunden zugleich mit jenem Hunger nach dem Derb-Sinnlichen. Als in Plato und Aristoteles die Adlerhöhe des griechischen Geistes erflogen war, da baute sich der Materialismus der Stoiker und der Naturalismus der Epikuräer wieder in der Niederung an. Und abermals, da in der Neuzeit das europäische Denken die gewaltigen Systeme eines Descartes, Spinoza und Leibniz geboren hatte, da predigte der Materialismus der Lamettrie und Holbach, sowie der Naturalismus Rousseaus wieder einfachere Erkenntnis und naivere Bildung. Auch bald nach Hegel treffen wir in den Denkmälern der Zeitgenossen auf die materialistische Sehnsucht. Der zweite der großen idealistischen Philosophen, Schelling, der nach Hegel noch einmal eine kurze Blüte erlebte, konnte hierbei gleichsam das Gewissen beruhigen; er hatte mit Spinoza immer die absolute Identität des Realen und Idealen gepredigt, und wenn auch der Volksverstand das jetzt einfacher nahm und immer nur von vollkommenster Harmonie des Leibes und der Seele hören wollte – im Grunde war es doch dasselbe. Besonders ein Theodor Mundt, wütender Hegelfeind, fabelte in diesen Jahren viel von der „Wiedereinsetzung des Bildes“, worunter er den absolut-einheitlichen Menschen, in dem Kopf und Herz, Blut und Empfindung, Nerv und Gedanke, Leibliches und Geistiges in unlöslicher Verschmelzung sich befänden, verstanden wissen wollte. Aber der größte Anstoß für diese Gedanken kam wieder, wie im 18. Jahrhundert, von Frankreich; und allerdings fand sich ein deutscher Apostel, dem ein guter Teil der Wirkung zugeschrieben werden muß: kein anderer als Heinrich Heine.

[114] Auch von Heines Einfluß auf Stirner bei Stirner selbst keine unmittelbare Spur; und doch zweifellos: vielleicht hatte Heine in ganz Deutschland damals nur einen Freund, und das war Stirner. In den kurzsichtigen Haß, mit dem damals fast alle Parteien Heine verfolgten, konnte Stirner unmöglich stimmen; im Gegenteil: beide hatten sie fast dieselben Feinde, haben dasselbe bekämpft, standen auf gleich hoher Geisteswarte, wo man von tausendjährigem Wahnwitz, Fanatismus und Aberglauben gepeitscht die Menschen wie Blinde zu seinen Füßen jagen sieht. Freilich war Stirner noch radikaler; aber Heine war auch der größere Poet, der sich nicht allein am Verwüsten der Heiligtümer genug sein lassen konnte, sondern andere, immer neue und schönere brauchte, sein Herz an neue Ideale hängen mußte, so die alten verblichen waren. Wenn bei Stirner die gesamte bisherige Weltgeschichte ein Irrtum gewesen, – nämlich ein Haschen nach Geistern, Phantomen, so muß bei Heine die volle Liebe wenigstens auf einer der Vergangenheiten ruhen. In der Darstellung des Christentums treffen beide zusammen; es ist ihnen die Abtötung des wahren, sinnlich-freudigen Menschen. „Einst, wenn die Menschheit ihre völlige Gesundheit wiedererlangt, wenn der Friede zwischen Leib und Seele wiederhergestellt und sie wieder in ursprünglicher Harmonie sich durchdringen, dann wird man den künstlichen Hader, den das Christentum zwischen beiden gestiftet, kaum begreifen können. Die glücklicheren und schöneren Generationen, die, gezeugt durch freie Wahlumarmung, in einer Religion der Freude emporblühen, werden wehmütig lächeln über ihre [115] armen Vorfahren, die sich aller Genüsse dieser schönen Erde trübsinnig enthielten und durch Abtötung der warmen, farbigen Sinnlichkeit fast zu kalten Gespenstern verblichen sind“ (Heine). Wie Stirner sieht Heine im Kommunismus die Gefahr einer furchtbaren Gleichmacherei und erneuten – Tyrannei heraufziehen; wie Stirner geißelt er den Nationalitätsdusel, den Menschen, der die Rückenlehne „Deutscher“ oder „Franzose“ usw. braucht, um sich überhaupt erst als Menschen zu fühlen. Heine war es nun auch, der um diese Zeit den St. Simonismus nach Deutschland brachte; der St. Simonismus aber war recht eigentlich die Lehre von der „Rehabilitation der Materie“. Äußerlich gab sie sich zunächst etwa als eine Erneuerung des Baconschen Ideals: „Wissen ist Macht“; der Baron St. Simon wies zum ersten Male dem 19. Jahrhundert die Wege, auf denen es seine gewaltigsten Triumphe feiern sollte. Er gab eine „industrielle Religion“; er sah die ganze Bedeutsamkeit und Zukunft der Technik voraus und erhoffte bereits von einem Zeitalter der Industrie eine vollständige Umwälzung auch der Gesellschaft, eine Lösung der sozialen Frage. Dazu aber war nun der schrankenlos in die Luft hineinspekulierende „Geist“ mit seinen „Ideen“ zu nichts mehr nutze; dazu war auch Leib, waren Fäuste und Muskeln wieder erforderlich. Die Naturphilosophie Schellings fabelte von lauter „Kräften“, die keinen Stein aus seiner Lage bringen konnten; nun war das Zeitalter der Eisenbahnen erschienen. Und Heine schrieb: „das deutsche Volk ist jener Spiritualist, der mit dem Geiste endlich die Ungenügbarkeit des Geistes begriffen und nach materiellen [116] Genüssen verlangt und dem Fleische seine Rechte wiedergibt.“

Endlich kam nun auch der Positivismus Comtes um diese Zeit aus Frankreich mit seiner klaren Tendenz, den Geist von den metaphysischen Problemen ab- und der „realen“ Welt der „Tatsachen zuzukehren; der „cours de philosophie positive“, der so großes Aufsehen erregte, daß er von vielen wie eine vollständige Umwälzung aller früheren Wissenschaft begrüßt wurde, erschien gerade während dieser Jahre von 1830 - 1842. Ob Stirner Comte schon in dieser frühen Zeit kennen gelernt hat (vgl. S. 76), wann er ihn kennen gelernt hat, ist nicht bestimmt zu sagen; immerhin lagen ja alle diese Ideen damals in der Luft. Daß Stirner an mehreren Stellen so auffallend Baco und Hume vor den spekulativen Metaphysikern den Vorzug gibt, ist jedenfalls kein Zufall gewesen; den Beweis aber, wie sehr dann gerade auch im „Einzigen“ die Brücken zur vorwiegend empirischen, implizite physiologisch-materiellen Weltanschauung geschlagen werden, liefert bald darauf Feuerbach. Da Stirner ihm den Widersinn, für eine „abstrakte“ „allgemeine Menschheit“ zu schwärmen, klar genug aufgedeckt hat, interessiert sich plötzlich auch der so „humane“ Feuerbach nur noch für den Einzelmenschen, den „leibhaftig-wirklichen“, den körperlichen Menschen – denkt Feuerbach seinen „dritten und letzten Gedanken“: er ist Sensualist und Materialist geworden. Das war ums Jahr 1845, bald nach dem Erscheinen des „Einzigen“.



Drei Jahre früher ist Stirner, soviel wir wissen, zum ersten Male an die Öffentlichkeit getreten, und [117] zwar als Mitarbeiter an der „Rheinischen Zeitung“, später als solcher an einem Buhlschen Unternehmen, der „Berliner Monatsschrift“. Da er jedoch nicht bloß mit dem Pseudonym seines „Einzigen“ zeichnete, sondern auch zur Vertauschung seiner Vornamen sowie zur Chiffre griff, die ihrerseits nicht feststeht, so mag außer den von Mackay in einem Bande „Kleinere Schriften“ (Berlin 1898) gesammelte Aufsätzen noch manches Stirnerische in der Welt verstreut liegen, vergessen bis zum jüngsten Tage. Es sind im ganzen fünf Einzelabhandlungen, an die wir uns halten können, von denen uns jedoch hier, um die Entwicklung bis zum eigentlichen Werk zu kennzeichnen, nur die ersten vier zu beschäftigen haben; die fünfte, eine Rezension der Eugène Sueschen „Mysterien von Paris“, scheint uns bereits vollständig und unverhüllt auf dem Boden des „Einzigen“ zu stehen, ja erst unmittelbar nach ihm geschrieben zu sein, weshalb sie am besten ihre Stelle als Anhang dazu findet.

Mit einem pädagogischen Thema sehen wir, charakteristisch genug, Stirner zuerst sich befassen: ist es nicht eine individualistische Religion, die Stirner bringen wird, und muß er nicht bei den noch Zukunft Bergenden, ja, den noch ungeborenen Geschlechtern beginnen? „Das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ – dieser Titel sagt’s auch sogleich, daß es sich nicht um Brockenratschläge eines „tüchtigen Fachmanns“ handelt, sondern daß es auf das Ganze der Pädagogik abgesehen ist. Nicht ein Kathedersystem, wie sich bald herausstellt, nicht Stundenpläne oder dergleichen bekommen wir zu hören, sondern Stirner knüpft nur an die Schrift eines anderen an, dem „Humanismus oder Realis- [118] mus“ noch die ganze Schulweisheit, der noch harmlos in allem Bestehenden sitzt und zwischen Gymnasial- und Realbildung gern vermitteln möchte – um das Fundament der modernen Erziehung überhaupt ernstlich in Frage zu stellen. So oder so: „bildet man unsere Anlage, Schöpfer zu werden, gewissenhaft aus, oder behandelt man uns nur als Geschöpfe, deren Natur bloß eine Dressur zuläßt?“ Man hört sogleich aus den ersten Sätzen, worauf er hinaus will. „Sei ‘Jeder vollendet in sich’, so wird eure Gemeinschaft , euer soziales Leben, auch vollendet sein.“ Prinzip der Einzelheit; was macht man mit den verkrümmten, verbogenen, verballhornten Erwachsenen, solange es auf Verballhornung, öde Prinzipienreiterei, vom ersten Tage der Bildsamkeit an überhaupt abgesehen ist! Das Übel muß an der Wurzel gepackt, an der Quelle verstopft werden. Der Humanismus hat uns mit leerem Formelkram gespeist, die Realerziehung (der „Realismus“) gibt Material – „Stoff“ ohne jegliche Durchdringung, nur mit der Anweisung, sich ihm abkommodieren, sich in ihn zu schicken. Und nun folgt ein Satz, der im „Einzigen“ nicht mehr stehen könnte: „Beides führt nur zur Macht über das Zeitliche. Ewig ist nur der Geist, welcher sich erfaßt.“ Um über beides hinauszukommen, beides hinter sich zu lassen, muß eine Idee im Mittelpunkt stehen (horribile dictu – scheint wenig später der Egoist auszurufen). „Danach ist ja doch alles zu beurteilen, ob es sich zu der Idee bekennt, welche die Zeit als ihr Teuerstes errungen hat, oder ob es hinter ihr einen stationären Platz einnimmt.“ Dennoch dürfte sich bei näherem Zuschauen ergeben, daß im Grunde vielleicht [119] nur die Terminologie noch eine andere;*) denn nicht auf dem „Bekenntnis“, sondern auf Aktion, Trieb, liegt gleich darauf der Nachdruck, und auch sonst sind alle Gedanken mindestens auf dem Sprunge, die Larvenhülle abzustreifen. Das Wissen hat uns befrachtet als unfruchtbarer Ballast; darum muß es jetzt sterben, um als „Wille“ aufzuerstehen. „Das rechte Wissen vollendet sich, indem es aufhört, Wissen zu sein, und wieder ein einfacher menschlicher Trieb wird, – der Wille.“ Echt naturalistische Sehnsucht schon; aber noch hegelisch geläutert: die vorhergehende Stufe, indem sie „aufgehoben“ wird, verschwindet nicht etwa, sie verharrt auch im aufgehobenen Zustande. „Nicht der Wille ist von Haus aus das Rechte, wie uns die Praktischen gerne versichern möchten, nicht überspringen darf man das Wissenwollen, um gleich im Willen zu stehen, sondern das Wissen vollendet sich selbst zum Willen, wenn es sich entsinnlicht und als Geist, ‘der sich den Körper baut’, sich selbst erschafft.“ Der Geist, die Idee ist also zuletzt der – Wille selbst, ist Aktivität und erschafft erst als solche „den persönlichen oder freien Menschen“, wie es auch hier schon heißt. Der „Einzige“ macht nur noch den weiteren Schritt, den Willen lediglich in der Form des Geistziels fallen zu lassen, ihn vielmehr jederzeit in der – selbstverständlich ungehemmten – Entwicklung des Individuums von vornherein betätigt und verwirklicht zu finden. Und trotzdem wird, wer tiefer blickt, die aufgehobene Geiststufe in aller Form auch noch im „Einzigen“ wiederfinden, wird die Stellen, wo Stirner gegen Beruf, [120] Ziel und Aufgabe kämpft und Pflanze und Tier in ihrem mustergültigen Wachstum zu preisen scheint, mit anderen, die das Gegenteil in sich hegen, kombinieren müssen.

So könnten wir von diesem Aufsatz Abschied nehmen, wenn wir auch nur von fern schon das Entzücken angedeutet hätten, das jeden ergreifen wird, der diese herrlichste Schöpfung der Stirnerschen Feder zum ersten oder zehnten Male auf sich wirken läßt. Sie ist in der Tat die Blüte seines Stils – wenn nicht seiner Gedanken; da diese in seinem Sinn jedoch noch eine Fortbildung erfahren haben, so müssen wir auch seinen eigenen Maßstab dafür behalten. In den Ansichten werden wir gerade hier an die „Levana“ des Jean Paul immer wieder erinnert. Die ursprüngliche Natur des Menschen zu bewahren, nicht mit plump-zutappender Hand ihre geheimnisvollen Kreise zu stören, das ist auch ihm hier heiligstes Anliegen. Alle Kindererziehung ging bisher darauf aus, den natürlichen Oppositionsgeist des Menschen schon im Keim zu ersticken, und so wurde an der Wurzel gerade der selbstschöpferische Charakter, der wirklich freie Mensch von je bereits abgeschnitten. Er eifert gegen die Brutalität der starren Konsequenz schon genau wie im „Einzigen“; „soll der Charakter ein vollendeter sein, so muß er zugleich ein leidender werden, zuckend und schaudernd in der seligen Passion einer unaufhörlichen Verjüngung und Neugeburt.“ Die spießbürgerliche Borniertheit des sog. „praktischen Menschen“, den man gern „haben“ möchte, bekämpft er wie nur je ein Idealist und Höhenmensch. „Die wahre Praxis ist nicht die, sich durchs Leben durchzuarbeiten, und das Wissen ist mehr wert, als [121] daß man es verbrauchen dürfte, um damit seine praktischen Zwecke zu erjagen.*) Vielmehr ist die höchste Praxis die, daß ein freier Mensch sich selbst offenbart, und das Wissen, das zu sterben weiß, ist die Freiheit, welche Leben gibt.“ Die hohe Bildlichkeit des Ausdrucks, der echt philosophische Geist, der uns hier entgegenweht, der zauberhafte, keineswegs leichte Fluß der Sprache, der aber geschmolzenes Gold am Grunde zu wälzen scheint – stellen diesen Aufsatz neben das Höchste, das in deutscher Zunge geschrieben worden ist.

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