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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Die ganze Barbarei völliger Unkultur hat Nietzsche an seinen noch unumnachteten Augen vorbeiziehen sehen und ist so der „Unzeitgemäße“ seiner Tage geworden, wie es vor ihm schon einmal Stirner gewesen ist. Dabei konnte sich aber Nietzsche wenigstens schon mit dem erstarkenden Individualitätsgefühl in außerdeutschen Ländern trösten und ungefähr voraussehen, daß diese Welle endlich auch das Vaterland erreichen werde. Im Ausland hatte längst wieder ein Emerson, ein Carlyle, zuletzt Gobineau jenen Heroenkultus verkündet, der seine tieferen Einwirkungen bereits zu Nietzsches Zeiten auf die anderen Kulturländer auszuüben begann. In Skandinavien, in Dänemark hatte ein Sören Kierkegaard den Boden für jene höhere Individualkultur schon längere Zeit bereitet, die schließlich in Ibsen den größten Dichter des Egoismus und Anarchismus gebären sollte; der Däne Georg Brandes konnte sich rühmen, ein Freund und [285] Vertrauter zugleich von Nietzsche und Ibsen zu sein. Wie sehr aber gerade auch Ibsen Stirnerschen Ideen wieder nahegekommen ist, das mag hier nur die eine Stelle (der leicht viele andere gesellt werden könnten) aus seinen „Kronprätendenten“ beweisen, wo der Bischof Nikolas Arnesson den Egoismus von jenem alten Bild in der Christkirche zu Sideros abliest. „Es ist weder Gutes noch Böses,“ so knüpft er dort an die Schilderung der Sintflut an, „weder Oben noch Unten, weder Hoch noch Niedrig. Ihr dürft weder die Menge noch die Sache hassen, weil die Menge oder die Sache dies will oder jenes; aber Ihr sollt jeden Mann aus der Menge hassen, weil er wider Euch ist, und Ihr sollt alle hassen, die für eine Sache einstehen, weil die Sache nicht fördert, was Euer Wille will. Alles, was Ihr brauchen könnt, ist gut, alles, was ein Stachel auf Eurem Weg ist, das ist böse.“ Aber wenn nun die heimische Literatur der 80er Jahre so gar nichts geschaffen hat, was nur im entferntesten auf Nietzsches und Stirners Wegen gelegen, wenn unser übelberüchtigter „Naturalismus“ im großen ganzen nur der trübe Spiegel noch trüberer sozialer und materialistischer Tendenzen geblieben ist – so dürfen wir doch nicht vergessen, daß gerade dadurch, daß man krampfhaft die Kunst der Selbstentäußerung üben zu müssen glaubte, sich unfrei und kritiklos von der Marxistischen Geschichtsbetrachtung ins Schlepptau nehmen ließ, die statt des überragenden Individuums Milieu und ökonomische Verhältnisse in den Vordergrund rückt, eine erneute und tiefere Sehnsucht nach dem Ich großgezogen werden mußte.

[286] Ein Umschwung gerade der künstlerischen Kultur aber war erforderlich, denn der neue Prophet dieses Ich sprach nicht mit der starren Rede des Systematikers, sondern in der Sprache der Kunst: und von Künstlern ist Nietzsche, von dem nun die Rede sein soll, Anfang der 90er Jahre auf den Schild gehoben worden.

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[287]



B. Nietzsche.
Im selben Jahr, da „Der Einzige und sein Eigentum“ gedruckt wurde, einen Monat, bevor Stirners einziges Werk in der Öffentlichkeit erschien, wurde Friedrich Nietzsche geboren. Vierundvierzig Jahre darauf, da eine Zahl der glänzendsten Werke dieses Mannes geschrieben war, aber ausbrechende Geisteskrankheit die geplanten Bücher von der „Umwertung aller Werte“ unwiderruflich zum Nichtsein verurteilte, fand Mackay den verschollenen Namen Stirner und vertiefte sich entzückt in die Lektüre des „Einzigen“ (1888). Im selben Jahr war auch Nietzsche nur erst einer spärlichen Gemeinde, in Deutschland fast noch gar nicht, bekannt, nachdem vorübergehend die erste der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ einen heftigen Sturm erregt hatte; nun hielt Georg Brandes als erster in Kopenhagen öffentliche Vorträge über Nietzsches Philosophie, und ein anderer Däne, Ola Hansson, trat in den nächsten Jahren werbend für sie ein. Jetzt brachten auch einige deutsche Zeitschriften, zuerst die „Freie Bühne“ (Jahrgang 1890), mehrmals Nietzsches Namen; und Mackay wiederum hatte an Stirner erinnert und seine Aufrufe zu Materialbeiträgen für eine Stirnerbiographie erlassen. Zu gleicher Zeit klangen der aufhorchenden Kulturwelt die Namen Stirner und Nietzsche ins Ohr; und man fand Methode darin, vielsagendes Zusammentreffen, wie es schon manchmal bedrohte Namen noch zuletzt vor dem Vergessen bewahrt hatte. Man verglich, aber man [288] verglich noch nicht sonderlich tief; Äußerlichkeiten gab es freilich genug, an die man sogleich sich halten zu können schien. Da stand bei Stirner so viel von der „Macht“, die unser einziges Eigentum, und bei Nietzsche las man vom „Willen zur Macht“: als Eduard von Hartmann diesen Band der Nietzschewerke in den „Preußischen Jahrbüchern“ von 1891 besprach, da lenkte er unbedenklich von Nietzsche auf Stirner, wo man die – Absurdität wenigstens aus erster und tieferer Quelle schöpfe. Das nächste Jahr bedeutete zumal für Stirner ein Ereignis: Reklams Universalbibliothek entschloß sich zu einer Neuausgabe des „Einzigen“, und wohl erst dadurch wurde ihm jetzt der weitaus größte Leserkreis zugeführt; immerhin waren es aber schon Zeichen der Zeit, die zu solcher Verbreitung überhaupt aufforderten. Und im selben Jahr stoßen wir denn auch bereits auf eine ausführliche Arbeit von Rudolf Schellwien, die ausdrücklich den Vergleich zwischen Stirnerscher und Nietzschescher Philosophie zum Vorwurf hat.*) Verfasser ist Vertreter einer eigenen Metaphysik, einer neuen Lehre vom Allwillen, der er jedoch, bei (hierzu im Widerspruch stehender) größerer Hinneigung zu Stirner und gänzlicher Verkennung der Grundmotive des Nietzscheschen Denkens, kein sonderlich geschickter Fürsprecher wird. Zwei Jahre später neigt dann auch Ola Hansson, der Apostel der Nietzschelehre, in einem trefflichen Aufsatz über Stirner**) fortwährend dazu, das Lebenswerk Nietzsches für „schon einmal dagewesen“ zu er- [289] klären, während er allerdings auch die Verschiedenheit zwischen einem Geist aus der Zeit von Achtundvierzig und einer Fin-de-siècle-Kultur bei Nietzsche nicht übersehen wissen will. Es folgte die Veröffentlichung einiger der kleineren Schriften Stirners durch Mackay (s. besonders: „Neue Deutsche Rundschau“ 1894); leider ist uns nicht bekannt, ob der unstreitig als klassisch zu bezeichnende Aufsatz „Über das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ seinerzeit eine größere Gemeinde gefunden hat. Über Nietzsche erscheint bald (1895/96) das erste umfassende biographische Werk aus der Feder seiner Schwester; erst einige Jahre später Mackays Stirnerbiographie: hierin wiederum die Bemerkung, daß die meisten Stirneraufsätze von Nietzsche ausgingen. Zugleich aber findet nun Mackay, daß nirgends die Distanz für eine angemessene Würdigung Stirners eingehalten worden sei; er selbst entscheidet sich begreiflicherweise für ihn als den Größeren und wendet sich gegen den Nietzschekult. Von jetzt an ist die Literatur über beide nicht mehr zu übersehen; als allgemeines Signum heben wir hervor (was wohl schon aus dem Vorangegangenen ersichtlich), daß man in diesen ganzen Jahren im Grunde doch nur ungern die Stirnersche Rivalität duldet. Nietzsche ist vor allem als Künstler zuerst ins Bewußtsein gedrungen, und von den Poeten – nicht den Philosophen – ging seine Verkündigung, vor allem die Verkündigung des Zarathustra-Nietzsche, aus; der eigentlich metaphysische Kern, die Lehre von der „Wiederkunft des Gleichen“ in ihrer Bedeutung gerade für die Ethik, ist bis heute noch am wenigsten gewürdigt worden. Das hatte zur Folge, daß man eine behauptete Ein- [290] stimmigkeit zwischen Stirnerschen und Nietzscheschen Ideen selbst ohne weiteres zugeben zu dürfen glaubte – von vornherein überzeugt von der unendlichen künstlerischen Überlegenheit Nietzsches; und dies wiederum war erstens einer tieferen Erfassung von Nietzsches Lehre keineswegs günstig, wie es andererseits dazu beitrug, wesentlich falsche Urteile auch über Stirners Stil und Sprache zu befestigen. Einer der wenigen, der – bei Gelegenheit der Besprechung von Mackays Stirnerbiographie in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ – für eine eigenartigere inhaltliche Wertung sowohl des Stirnerschen wie des Nietzscheschen Lebenswerkes eintrat, Leo Berg, legte doch zu viel Gewicht auf die nur kritisch-negative Bedeutung Stirners gegenüber der schon viel positiveren Nietzsches, übersah, daß es sich wesentlich noch um Parallelformen des Individualismus handelte. Interessant ist die Stirner-Nietzschefrage noch besonders dadurch geworden, daß man, bis 1899 ungefähr, fast einstimmig der Ansicht gewesen ist, Nietzsche habe von Stirner weder je gehört, noch den „Einzigen“ je gelesen. Endlich hat ein Franzose, Albert Lévy,*) überhaupt die Meinung zerstören wollen, als handle es sich um mehr als äußere Ähnlichkeiten zwischen der Stirnerschen und Nietzscheschen Philosophie, und die Grundverschiedenheit im Kern beider Lehren aufzuzeigen gesucht. Leider geht er hierbei einseitig den letzten Feinheiten von Nietzsches Motiven oft mit Sicherheit auf den Grund, während er sich bei Stirner auffallend an Einzelaussprüche und Einzeldefinitionen hält, jeden- [291] falls hier um den letzten Sinn sich keineswegs ähnlich bemüht hat. Das Ergebnis ist denn (in groben Zügen), daß Stirner immer als der Individualist aus demokratischem, Nietzsche aus aristokratischem Gefühl erscheint; wir werden aber zeigen, daß es einen demokratischen Individualismus in keiner Bedeutung geben kann und daß die scheinbar stärkeren aristokratischen Instinkte Nietzsches den Aristokratismus schon des Grundprinzips nicht vertiefen können, während sie seiner Konsequenz eher von Nachteil sind. Der Versuch, Nietzsche im Licht einer Erneuerung, des Fortgangs oder der Umwandlung Stirnerscher Ideen zu betrachten, muß aber sofort bedeutende Einschränkungen erfahren. Zunächst handelt es sich natürlich an dieser Stelle, wo von Stirnerscher Weltanschauung die Rede, lediglich um den Teil der Nietzscheschen Lehre, die – wie übrigens gleich beim ersten Aspekt – einen Vergleich überhaupt nahelegt; die Fläche Nietzsche wird aber gleichsam von der Fläche Stirner zum größeren Teil gar nicht gedeckt – und wiederum die nähere Begründung dafür sowie die bestimmtere Messung dieses Teils müssen wir in der Hauptsache dem Gefühl eines jeden zuschieben. Denn wir sind selbst überzeugt, daß man nach wie vor glühender Nietzschebewunderer bleiben kann, ohne gleichzeitig auch nur den kleinsten Zugang zu Stirner zu finden, so wie andererseits der Stirnerverehrer meist von dem Pathos der Nietzscherede abgestoßen wird; warum aber solche Welten von Stimmungsunterschieden auch nur zu überbrücken suchen, nicht freudig gerade bestehen lassen? – Daß unser Versuch allein die logische Seite einzelner Gedanken in Betracht zieht, das nur rechtfertigt ihn überhaupt.

[292] Dagegen ist es vielleicht angebracht, schon hier, bevor wir noch die Möglichkeit eines historischen Einflusses Stirners auf Nietzsche näher in Erwägung ziehen, auf Inkongruenzen hinzuweisen, die doch nicht notwendig Inkongruenzen zu bleiben brauchten, darum nicht lediglich nach dem Gefühl beurteilt werden dürfen, sowie auf solche, die uns vielleicht nur durch den Mangel an Material bei Stirner und eine bisher fast immer zu oberflächliche Deutung gerade auch seiner Persönlichkeit nahegelegt und dann gewohnheitsmäßig erblickt wurden. Indem wir also bereits hier das Wichtigste vorwegnehmen, was zu Mißverständnissen Anlaß geben könnte, ohne doch diesem Teil eine Betrachtung bis ins einzelne widmen zu können, lassen wir eben dadurch eher die Aussicht auf eine Synthese offen, die aus der Gegenüberstellung nur einzelner abgetrennter Lehren sich ergeben mag oder nicht – beides ohne innere Notwendigkeit. Das ist zunächst, was man nun bis zum Überdruß schon für das „Positive“ der Nietzscheschen Philosophie erklärt hat: ihr ästhetischer Grundcharakter nämlich, ihr Eintreten für ein höheres, vornehmlich ästhetisches Kulturideal, ihre Weltbetrachtung und Weltwertung nach Gesichtspunkten des Künstlerisch-Schönen. Das nun ist keine Frage, daß sich Stirner um einen letzten Weltaspekt, eine ähnliche letzte Harmonie im Sinne der Schönheit wenig gekümmert hat; aber man darf den innerlichen Zusammenhang des Kunstideals mit dem Thema der Überwindung von Gut und Böse, worauf auch schon bei Stirner hinzuweisen Gelegenheit war und dem gegenüber die zufällig-formale Fassung das viel weniger Wichtige ist, nicht aus den Augen verlieren. Daß auch [293] bei Stirner auf dem Hellenentum, darum weil es die natürlichen Triebe der Menschennatur noch mit keinem lebensfeindlichen Bannfluch belegt hat, der weit stärkere Glanz ruht, kann man nachlesen, und das ist nur die Kehrseite der Polemik gegen das Christentum. Das Christentum wird und muß immer bekämpft werden vornehmlich – vom ästhetischen Standpunkt aus, vom Ästhetiker gerade. Der Künstler ist es stets, der den Verruf des sinnlich-freudigen Menschen als das Gefährlichste, Kulturfeindlichste empfindet; nach dem Künstler blickt darum Stirner selbst einmal so neidvoll, der längst erkannt habe, daß das Gute wie das Böse den gleichen Existenzwert besitze (vgl. oben). Nicht umsonst spielen gerade ästhetische Instinkte bei der Bewertung christlicher Tugenden stets auch eine unmittelbare Rolle; zeigte sich die hellenische Anerkennung der Naturtriebe zugleich in einer herrlichen Pflege und Ausbildung des Leibes, so zieht die christliche Perhorreszierung Erscheinungen wie das Anachoretentum, oder die Unsauberkeit als Verdienst u. dgl. nach sich: Dinge, die auch geistig gedeutet werden können und Bild und Vergleich nahelegen. So spricht denn Stirner, da er aus der christlichen Bewertung erlösen will, von der vermeintlichen Sünde als dem „Kot“ der Sünde und von der „Besudelung“ durch den Geifer der Besessenheit; und so „ekelt“ es Stirner wie Nietzsche vor der heimlichen Unzucht, dem inneren Schmutz gerade, preist jener Laïs und Ninon, dieser die Dionysien. Insbesondere sei nun direkt auf jenen ästhetischen Zug in der Stirnerschen Psyche hingewiesen, der möglicherweise selbst auf eine innerste Grundverwandtschaft mit der Nietzscheschen hindeuten dürfte: nur daß sich dafür [294] eben der Mangel an ausführlicheren Belegen so empfindlich fühlbar macht. Es ist die gesteigerte Sensibilität im Wittern von Unreinheit; was ist es denn andres auch bei Stirner, was ihn gegen den düpierten Egoismus, die heimliche Unsauberkeit und Unlauterkeit der Motive zu Felde ziehen läßt? Auch für ihn hat sicherlich die Welt einen schlechten „Geruch“ gehabt, vieles vornehmlich schlecht „gerochen“ – wie Nietzsche sagt. Wenn nichts an Stirner so auffiel, wie (bei aller Schlichtheit) die peinliche Sauberkeit seiner Kleidung und die auf die äußere Erscheinung verwendete Sorgfalt – wer denkt nicht an den jungen Baseler Professor, der gegen alle Gelehrtentradition wie ein Gentleman immer zu seinen Vorlesungen kam und Schlafrock und Pantoffel so ingrimmig gehaßt hat? Erinnern wir uns vor allem auch an jenen Zug, der aus Stirners erster Ehe erzählt wird; bedarf es nicht einer tiefen, tiefen psychologischen Deutung, um zu verstehen, wie der Mann, dem eine sicherlich ästhetisch begründete Reizbarkeit den Ekel am Weibe einflößt, nachher Abend für Abend in wüster Lärmgesellschaft, am Spiel- und Zechtisch es aushält? Hier gerade muß bereits seine absolute Unnahbarkeit, die Unverletzlichkeit und unzerstörbare Einsamkeit seiner Seele, das feine, aber unzerreißbare Häutchen, das ihn vor jeder eigentlichen Berührung mit etwas Niedrigem und Gemeinem zu allerletzt bewahrt, sichtbar werden. Der stille, heitere, undurchdringliche Mann unter lauter Lärmenden, Redseligen –: offenbar nur eine andere Phase des absolut einsam, absolut für sich und unberührt bleibenden [295] Mannes, wie wir das auch oben schon deutlich zu machen suchten. Denn die Sehnsucht nach menschlicher Umgebung, Erlösung vom Alp des Alleinseins, gar nach Freundschaft eignet solchen Naturen womöglich noch tiefer als den anderen; aber ihrer Instinkte wegen, deren sie schließlich nicht Herr werden, geraten sie doch gerade in immer schauerlichere Vereinsamung – sehr wohl möglich, daß hierdurch selbst das Dunkel, das über Stirners letzten Lebensjahren schwebt, seine Erklärung findet und auch der „Einsiedler von Sils-Maria“ schon hier seinen Vorläufer hatte. Aber bei Stirner eben alles Hypothese, und nur bei Nietzsche die documents humains dafür. Der schreibt Herbst 1888 die bekannten Worte: „Darf ich noch einen letzten Zug meiner Natur anzudeuten wagen, der mir im Umgang mit Menschen keine kleine Schwierigkeit macht? Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeitsinstinkts, so daß ich die Nähe, oder – was sage ich? – das Innerlichste, ‘die Eingeweide’ jeder Seele physiologisch wahrnehme – rieche . . . Ich habe an dieser Reizbarkeit physiologische Fühlhörner, mit denen ich jedes Geheimnis betaste und in die Hand bekomme: der viele verborgene Schmutz auf dem Grunde mancher Natur, vielleicht in schlechtem Blut bedingt, aber durch Erziehung übertüncht, wird mir fast bei der ersten Berührung schon bewußt.“ – Von diesem Boden nun müssen wir uns, was Stirner anbetrifft, nun weiterhin möglichst entfernen; aber man versteht vielleicht schon hier, warum gelegentliche Äußerungen über Kunst oder selbst der Aufsatz „Kunst und Reli- [296] gion“, in dem Stirner eine ästhetische Theorie gegeben zu haben scheint,*) nicht so sehr zum Vergleich mit Nietzsche (wie dies z. B. Lévy tut) herangezogen werden dürfen, wie dasjenige, was – im Zusammenhang mit seiner Philosophie – seinen allgemeinen ästhetischen Instinkten als das Wohlgefälligere und Höherstehende unmittelbar entgegenkommt. Ein unwiderstehliches Gefühl hat auch Stirner durchaus zum Klassizismus gezogen, während er den Widerspruch, in den er damit zu seiner Zeit und den sog. „Neuesten“ tritt, gleichzeitig peinlich empfindet und unter „echterem Realismus“ gewissermaßen nur dem Wort nach versteht, was sie damals sicherlich eher einen weltfremden Idealismus genannt hätten. Der Aufsatz „Über das unwahre Prinzip unserer Erziehung usw.“ spricht viel klarer über Stirner, den heimlichen Ästheten, als der Aufsatz über „Kunst und Religion“! Und doch neigt gerade hier Stirner den Realwissenschaften mehr zu, als hellenischer Bildung – wird man sagen, und so hat z. B. auch Lévy gelesen. In der Tat ist hier aber, wie wir behaupten, Stirner, indem er der leeren Formalbildung des „Humanismus“ die „Realien“ noch vorzieht, Vertreter eines klassischen Ideals! Gegen den sog. humanistischen Geist auf den Gymnasien ist nämlich auch Nietzsche aufs schärfste zu Felde gezogen und hat wohl erkannt, daß gerade dieser ein Antipode des antiken Ideals, „eine jämmerliche Schönfärberei der Griechen“ sei und die Bevorzugung gerade von [297] Decadencewerten bedeute.*) Dagegen ist das, was Stirner an die Stelle von „Humanismus“ und „Realismus“ setzen will (vgl. oben), ganz offenbar eine Erneuerung echt hellenischer Werte gerade!
Auf, bade, Schüler, unverdrossen

Die ird’sche Brust im Morgenrot . . .


Mit diesen Worten charakterisiert Stirner, was er unter der Läuterung des Wissens und seinem Übergang zum „einfachen menschlichen Trieb“ versteht. Nicht sterben soll das Wissen, aber, indem es wieder „Wille“ wird, den freien, persönlichen Menschen schaffen. Der ganze Aufsatz ist überhaupt ein Protest gegen das Sklaventum, insbesondere der Gesinnung, der inneren Erniedrigung vor festgestempelten Begriffen der „Bildung“ und „Wissenschaftlichkeit“: selbst beim Mangel spezieller Gelehrsamkeit ein „geschmackvoller Beurteiler“ zu sein – das würde er Humanismus nennen! (Kl. Schr. S. 30.) Und wenn das Wissen einmal in Form der „Bürde“, als „Ballast“ aufgehört hat, das Kind lediglich zu beschweren, dann wird aus ihm, dessen Oppositionsgeist und Freiheitsdrang durch kein Schreckgespenst der Autorität unterbunden ist, dessen natürlicher Wille vielmehr vom ersten Tage an die stärkende Reibung und Betätigung findet, offenbar hervorgehen –: der schöne, kräftige, griechische Mensch! – Ganz ähnlich aber verhält es sich nun mit dem Ideal der Renaissancekultur, dessen Bevorzugung gerade auch bei Stirner zu erweisen wäre;**) aber wenn wir [298] auf fernere Einzelheiten hier nicht eingehen, so geschieht es, um nicht den Anschein zu erwecken, als habe hier tatsächlich ein größeres, persönlich-künstlerisches Interesse bei ihm vorgelegen, während wir nur vor einer Suche nach sozialen Instinkten, einer Mißdeutung Stirners, warnen wollten. Was er „Personalismus“ nennen möchte, ist hohe Personalkultur, die ihm vorschwebt – nur deren notwendige Beziehungen auch zur Kunst werden von ihm nicht deutlich berücksichtigt; und nur zuweilen, wo es sich um eine Beurteilung des Zeitgeschmacks handelt, sieht man auch hier ein überragendes sicheres Feingefühl sich kundgeben. Er fühlt schon den ästhetischen Tiefstand seiner Tage, aber verspricht sich hier nur wenig Abhilfe durch Predigen. „Unsere Kunst mag herzlich schlecht sein,“ meint er spöttisch, „darf man aber sagen, wir verdienten eine bessere zu haben und könnten sie haben, wenn wir nur wollten?“ Eine hohe Überlegenheit beweist er den Zeitgenossen gegenüber im Urteil über die ästhetische Seite des Eugène Sue’schen Romans: er findet darin „Kunstfertigkeit im Abschildern der sozialen Kontraste und Charaktere“, aber „über das Abschildern selbst denkt er nicht groß genug“, und „feineren Kunstkennern sei damit schwerlich Genüge getan“. (Kl. Schr. S. 89.) Hierin kann man also selbst den Protest gegen den Naturalismus wiederfinden; und doch kommen solche nicht zufälligen Einstimmigkeiten fraglos schon darum im Lebenswerk beider nur undeutlich zum Ausdruck, weil nun eine letzte und wichtigste Differenz womöglich noch verschärft ins Auge gefaßt werden muß: Nietzsche ist selbst, als Schaffender, Künstler durch und durch, und Stirner ist selbst, als Pro- [299] duktiver, Philosoph durch und durch. Die Inspiration, mit anderen Worten, geht bei beiden auf weltfern-verschiedene Weise vor sich; bei Nietzsche alles in Klängen und Bildern, „gemalte Gedanken“ nennt er selbst einmal seine Schriften; bei Stirner alles durch Infragestellung, Sagazität, Zersetzung, Analyse. Man irrt nun aber ganz allgemein, wenn man glaubt, daß überhaupt die „gleiche“ oder „selbige“ Idee das eine Mal im künstlerischen, das andere Mal im philosophischen Gewande ausgesprochen werden kann. Das Persönlichste, das aus Nietzsches Sprache uns anweht, ist in keiner anderen Sprache wiederzugeben; damit schaffen wir aber notwendig eine Reserve, indem wir einerseits, selbst wo wir Ähnlichkeiten finden sollten, das Gefühl für eine letzte, feinste, aber undefinierbare Differenz voraussetzen, andererseits eine Wandlung andeuten, die dem Gedanken vielleicht nur aus der künstlerischen Fassung erwachsen ist. Was nun den Stirnerschen Stil betrifft, so war es sicherlich ungerechtfertigt, ihn unkünstlerisch oder langweilig und trocken zu finden: es sind dies nur irrationale Bezeichnungen, die gar nicht auf ihn angewendet werden können! Gehobenheit, Getragenheit, echt philosophischen Geist finden wir überall, wo es sich um historische Entwicklung oder begriffliche Auflösungen bei ihm handelt; revolutionär, rebellisch und damit – in wachsender Leidenschaft – auch bilderreicher, d. i. unversehens im einzelnen wohl selbst an Nietzsche erinnernd, wird dann der Naturalist, der Kämpfer gegen Un- und Widernatur. Hieran knüpft z. B. Ola Hansson an: beide, sagt er, lieben das Paradoxon, die kurze, wuchtige Behauptung statt [300] langen Räsonnements, die Antithese. Aber das ist die Sprache naturalistischer Philosophie zu jeder Zeit gewesen und gemahnt noch keineswegs an den besonderen Nietzscheklang; vor allem für die Sprache des Zarathustra, doch wohl Nietzsches eigentlichste und abgründigste Seelenschöpfung, findet man kein Pendant bei Stirner. Dafür findet man bei ihm „Stil“ in anderem Sinne und, wie schon Joël erkannt hat, manchen Beweis, daß auch Stirner „zu den Meistern gehört, die in Erz zu schreiben wissen“. Über dem ganzen Aufsatz „Das unwahre Prinzip usw.“, von dem nun mehrfach die Rede war, lagert ein gedämpfter, klar-ernster Ton, eine metaphysische Reinheit und Ruhe, wie nur über den besten Schöpfungen Schopenhauers. Wunderbar weiß Stirner ferner sowohl über die Darstellung der Lebensalter, wie über seinen Abriß der Antike klassische Stimmung auszugießen; und wiederum wird sein Ton mahnend-eindringlich, beinahe feierlich, da er von der Freiheit zur Eigenheit ruft. Endlich hat er wohl das Meisterhafteste echt philosophischer Entwicklung in den Ausführungen über seine Stellung zur Wahrheit, zur Kritik und zum Denken niedergelegt, wie überhaupt der gesamte Abschnitt „Mein Selbstgenuß“ die Resultate und Konsequenzen aller vorangegangenen Erschütterungen in wahrhaft mustergültiger Weise zieht. Hier umfängt uns wirklich, von den verkündenden Worten an: „Wir stehen an der Grenzscheide einer Periode – –“ (374) bis zur tragisch-optimistischen Resignation: „Lächelnd werde ich den Schild auf die Leichen meiner Gedanken und meines Glaubens legen – –“ (420), das Flügelschlagen eines ein- [301] zigen fortreißenden, gewaltig webenden Geistes, der aber gerade hier am allerwenigsten auch auf zusammenhängende Logik verzichtet und eifriger sogar als je bestrebt ist, etwa früher entstandene Lücken noch möglichst vollständig zu füllen. – Nietzsches Logik dagegen, wenn der Ausdruck erlaubt ist, ist vor allem auch musikalisch inspiriert, ist wortgewordene Musik: nur an dies eine, das Stirner so fremd bleibt, braucht man schließlich noch zu erinnern, zu erinnern, wie Nietzsches Umwertung gerade auch „aus dem Geiste der Musik“ erfolgen konnte – um schon von hier aus a priori notwendige Differenzen entstehen zu sehen.

Der Künstler Nietzsche ist es vor allem auch, der die drei großen Wandlungen erlebt, die „drei Perioden“: mit welchem Nietzsche sollen wir vergleichen? Wohl steht auch hier wieder die naturalistische Grundidee mit der Feindschaft gegen die Starre der Konsequenz in tiefstem inneren Zusammenhang; auch der Logiker Stirner kann aus seiner Philosophie heraus erklären, es werde ihm vielleicht gefallen, morgen andere und selbst entgegengesetzte Wahrheiten anzuerkennen. Indes – der eine festgefügte Bau blieb doch „das“ Werk Stirners, und kaum jemals, wir täuschen uns nicht, sprach eine Persönlichkeit so ganz gerade nur aus einem Buche. Aber so ist wohl heute, da wir die gesamte Produktion Nietzsches überblicken, auch die Erkenntnis schon angebrochen, daß wir es auch bei ihm im wesentlichen um einige Kern- und Grundlehren, die sich zu einer im Mittelpunkt ruhenden Sonne wie deren Ausstrahlungen verhalten, zu tun haben –: um diese allein, indem wir zugleich von [302] den Schwankungen des Künstlers aus Gründen, wie oben, von vornherein absehen müssen, kann es sich nunmehr für uns handeln.

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