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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Wenn wir also die Originalität des Künstlers Nietzsche ohne weiteres für gesichert halten, so kann in bezug auf das Wichtigste sachlichen Inhalts jetzt auch einzig die historische Frage fallen: hat Nietzsche Stirner gekannt? Wir deuteten schon an, daß man auch sie bis vor kurzem durchaus verneinen zu müssen geglaubt hat; und zwar besonders wohl deshalb, weil Nietzsche selbst den Namen Stirners, wozu Gelegenheit unstreitig vorhanden war, in sämtlichen Werken wie Briefen nicht ein einziges Mal erwähnt hat. Die Schwester Nietzsches, und mit ihr die meisten seiner Freunde, haben denn auch tatsächlich von seiner Bekanntschaft mit dem Stirnerschen Buch nichts gewußt und diese ausdrücklich geleugnet; dagegen ist es einem der Nächsten seines Kreises, Overbeck, nun doch gelungen, die Spur einer solchen ausfindig zu machen. Overbeck ersah 1899 aus einem Leihverzeichnis der Baseler Bibliothek, daß „der Einzige und sein Eigentum“ einmal, im Jahre 1874, an Baumgartner ausgegeben worden war; Baumgartner, gegenwärtig Professor in Basel, gehörte damals zu den Lieblingsschülern Nietzsches, und die nähere Erkundigung ergab denn, daß dieser wirklich auch die Wahl der Lektüre seinerzeit inspiriert hatte. Schon früher hatte Eduard von Hartmann die Behauptung aufgestellt, Nietzsche sei durch seine „Philosophie des Unbewußten“ auf Stirner geführt worden, denn gerade das Kapitel, in welchem von Hartmann Stirner eine Stelle einräumt (s. o.), werde im neunten Paragraphen der zweiten „Unzeit- [303] gemäßen Betrachtung“ ausführlich kritisiert. Man hat nun darin, daß Nietzsche hier die evolutionistischen Theorien Hartmanns heftig angreift, eher den Gegenbeweis erblicken wollen, als habe es gerade nach Hartmannscher Lektüre Nietzsche nicht mehr nach Stirner verlangen können; aber erstens kennen wir nicht alle Wandlungen Nietzsches, und dann hat doch wohl Nietzsche die Werke Hegelscher Geschichtskonstruktion vorher studieren müssen, ehe er so viel Groll gegen sie anhäufen konnte. Hierbei aber kann ihm gerade Stirner angenehm aufgefallen sein: denn daß sein Individualismus nur noch ganz lose mit Hegel zusammenhängt, ihm fast nur die äußere Darstellungsform noch entlehnt, hat wohl Nietzsche am besten herausgefühlt. Dazu halte man nun die positiven Ansichten der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung, das Eintreten für persönlichere, wurzelechte Bildung, die Bekämpfung der Reflexion. Wie bei Stirner wird des modernen Geistübels Anfang im Cogito ergo sum des Descartes gefunden, und die Identifizierung des Ich mit dem Denken heftig abgelehnt: der Mensch ist kein „cogital“, sondern ein „animal“! Erinnern wir uns, was oben über das Verhältnis der Stirnerschen „Person“ zum Geist gesagt ist, und wir werden finden, daß das Nietzschesche „vivo ergo cogito“ an dieser Stelle auch Stirner gesagt haben könnte. Diese zweite „Unzeitgemäße“ ist 1874 erschienen – im selben Jahr wird Baumgartner von Nietzsche auf Stirner gelenkt: man wird wohl zugeben, daß hier ein wichtiger innerer Zusammenhang vorliegen kann.

Nach einer andern Ansicht, die Joël vertreten hat, ist Nietzsche schon viel früher auf Stirner gelenkt wor- [304] den, und zwar durch genau dieselbe Stelle in Langes „Geschichte des Materialismus“, die überhaupt zur Wiedererweckung Stirners führen sollte und auf die wir oben schon hingewiesen haben – jene Stelle, wo Stirner mit Schopenhauer in so enger Verbindung genannt wird. Und diese These hat allerdings die größte Wahrscheinlichkeit für sich, wenn wir bedenken, ein wie begeisterter Schopenhauerverehrer Nietzsche in der ersten Periode seines Schaffens gewesen ist, und nun andererseits aus den Briefen*) ersehen, einen wie günstigen Eindruck Langes Buch auf ihn gemacht hat, u. a. auch deshalb, weil ihm dieser scharfe Kritiker das Entzücken an Schopenhauer nicht zerstört, sondern eher noch gesteigert hat. Wenn Lange also ausdrücklich schreibt, daß Stirner an Schopenhauer erinnere, so kann es beinahe für zweifellos gelten, daß Nietzsche schon damals (1867/68) sich die Lektüre des „Einzigen“ zu verschaffen gesucht hat. – Endlich verkehrte Nietzsche um jene Zeit auch mit Richard Wagner; und auch durch ihn, der an der Bewegung von Achtundvierzig teilgenommen, könnte er sehr wohl den Namen Stirner gehört haben. Bleibt bei allem die auffallende Tatsache gerade bestehen, daß Nietzsche selbst ihn nicht ein einziges Mal erwähnt hat!



Der Mann, der Schopenhauer und Wagner so begeistert seine Erzieher genannt hat, der in der herrlichsten der unzeitgemäßen Betrachtungen an Schopenhauer nichts so zu rühmen fand wie seine Wahrhaftigkeit, der Stendhal und Emerson, Rochefouceauld und Voltaire und hundert andere mit höchster Ehr- [305] furcht genannt hat, er kann nicht kleinlich-absichtlich Stirner übergegangen haben. Zwar Joël meint, Nietzsche, der Philologe, der Schwärmer für Alt-Hellas, „er hat seinen Plato gelesen und fand dort durch den Sophistenmund des Kallikles, auch des Thrasymachos, die Lehre vom Übermenschen, von Herren- und Sklavenmoral so klar und rein verkündet, daß alle Analogie mit Stirner daneben lächerlich zusammenschrumpft.“ Nun, wir können Joël mit Joël antworten, daß „Zehntausende die Sophistenweisheit bei Plato gelesen haben und doch kein Nietzsche geworden sind“; daß aber allerdings kaum noch „Hunderte Stirner gelesen“ hatten, als dieser Nietzsche kommen konnte und gekommen ist. Um aber Nietzsche herauszustreichen, verblendet sich dieser Gelehrte so weit, daß er nicht sieht, wie notwendig der Protest gegen das Christentum, den natürlich erst die Jahrtausende heraufbeschwören konnten, zur Stirner-Nietzschelehre gehört und daß Plato für Nietzsche gerade ein Überwundener ist, da die Verwandtschaft mit Stirner hervorbricht: „ich finde Plato so abgeirrt von allen Grundinstinkten des Hellenen, so vermoralisiert, so präexistent christlich . . . daß ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort ‘höherer Schwindel’ . . . als irgend ein anderes gebrauchen möchte . . . Und wie viel Plato ist noch im Begriff ‘Kirche’ . . .!“*) Und selbstverständlich fehlt, wie wir gesehen haben, bei Stirner in der Darstellung der Antike – Plato! – Overbeck hat eine andere Deutung für Nietzsches Schweigen: ein einziges Mal soll Nietzsche bei einen Besuche (1879) von Stirners [306] Buch als sehr merkwürdig ihn beschäftigender Lektüre gesprochen haben (woran sich aber nur Overbecks Gattin erinnert), um nie im Leben wieder darauf zurückzukommen. Es sei dies aber die Art gewesen, wie er sie gerade bei allerstärksten Eindrücken an ihm beobachtet habe: gerade was ihn am tiefsten beschäftigte, trug Nietzsche jahrelang verschlossen mit sich herum und suchte einsam damit fertig zu werden. – Indes dies ist, wie man sieht, eine Deutung für den persönlichen Freund; dagegen Nietzsches Werke, sie sind doch wohl Bekenntnisse des Einsamsten gerade, in ihnen haben wir uns doch gewöhnt, das allerheimlichste Ringen der Nietzscheseele gerade wiederzufinden, die Stadien jenes „Fertigzuwerdensuchens“ einzeln verfolgen zu können. Wir glauben noch an etwas anderes. Nietzsche waren Stirners Lehren sympathisch, aber die Art, in der sie verkündet wurden, fand er zu skrupellos, zu wenig den Sinn für die Gefahr weckend, die im Problem des Gut und Böse – ihm selber das tiefste! – nun einmal unvermeidlich schlummerte, und daher, so wie sie war, für die Vielzuvielen – untauglich, allzu gefährlich. Er selbst war ein Leser Stirners, etwa im ähnlichen Sinne wie Albert Lange – er fühlte, daß hier eine „positive Philosophie“ noch dringend nach dem Leben verlangte, und wenn diese nicht wieder im Sinne einer fixen, bornierten Moral ausfallen durfte, so galt es doch vor allem auch, das Versucherische, das Wagnis, die erhöhte Aufgabe denen näherzubringen, die nach Stirner vielleicht annehmen könnten, es handle sich um Rechtfertigung auch ihrer kleinlichen Verbrechen und ihrer feigsten Missetaten. Denn das eben las wohl Nietzsche zugleich tiefer als [307] alle Leser, daß auch Stirners Buch sich nur an das Große wendet – wird doch der Dieb auch von dem Egoisten so verächtlich befunden und dagegen Napoleon, der Räuber im Großen, so bewundert und gepriesen! Aber redete nicht dennoch der „Einzige“ scheinbar zu jedem? Von der Schwierigkeit gerade, ein wirklich Eigener, ein wahres Ich zu sein, in allen Handlungen wahrhaft nur sich, sich selbst, darzustellen, davon schien ihm in Stirners Buch noch wenig die Rede – dadurch verschob sich aber in einer Hinsicht der ganze Schwerpunkt der Nietzscheschen Philosophie, schien seine Aufgabe: vornehmlich das Gefühl für echteste Moralität mitzuteilen, wesentlich überhaupt eine andere als die Stirnersche zu werden. Und dadurch nun wurde das Stirnersche Werk zugleich die schlechteste und gefährlichste Voraussetzung für sein ganzes eigenes Schaffen: es mit diesem zu verwechseln, den „Einzigen“ aufzunehmen, ohne zugleich das Erlebnis „Nietzsche“ hinzuzubringen, schien ihm die eigene wie insbesondere auch die einzig echte Wirkung Stirners für alle Zeit in Frage zu stellen. – Das Schicksal hat es gefügt, daß Stirner tatsächlich erst zusammen mit Nietzsche ins Bewußtsein gedrungen ist; wir werden wahrnehmen, daß wirklich die Lehren Nietzsches noch ganz andere als die Stirners, aber daß sie zueinander nicht im Verhältnis von Feindschaft oder Widerspruch, von Höherem oder Niederem stehen, sondern daß sie die Möglichkeit einer Synthese ergeben, die teils für Nietzsche breitere Voraussetzungen zu schaffen, teils in Stirners Weltanschauung die von uns angedeutete Spitze besser erkennen zu lassen geeignet ist.

Als wir bei Stirner schließlich nach der Ursache [308] seiner heftigen Angriffe, seiner maßlosen Negationen, seiner aufrührerischen Sprache fragten, da ergab sich uns als letzte und tiefste Triebfeder: höhere Moralität, Kampf gegen den düpierten Egoismus, gegen Verlogenheit und Heuchelei – Motiv der Wahrhaftigkeit! Derselbe Stirner bekämpft aufs unerbittlichste die „Wahrheit“: aber da wir dem Skeptiker, der sich uns durch jenes, sowie seinen ganzen Kampf für eine Idee schon verdächtig gemacht hat, auf den Zahn fühlen, da ergibt sich, daß er nicht die Wahrheit bekämpft, sondern den – Glauben, die ichfremde, fesselnde „fixe“ Wahrheit, noch besser: die Wahrheiten! Die Wahrheit, die zum inneren Ich eines Menschen keine andere Beziehung hat, als daß sie ihn beherrscht, die Wahrheit, die nicht aus der Tiefe seines Selbst gekommen ist, oder doch „zur Welt seines Selbstes sich nicht ausgebaut“ hat. Alle Wahrheit ohne ihren Schöpfer und Denker ist tote, abstrakte, unwirksame und unwirkliche Wahrheit, nur im Ich kann die Wahrheit Leben erlangen, in ihm allein ruht Quelle und Herz der Wahrheit: also verlangt Stirner, daß „die“ Wahrheit sterbe, nur – um einer höheren, lebendigeren Platz zu machen. – Bei Nietzsche wird heute niemand mehr zweifeln, daß nichts sein ganzes Streben und Trachten so charakterisiert, wie der Drang gerade nach Wahrheit, heiße Sehnsucht, die Wahrheit zu erfahren vor allem über die Moral, über das Gute und Böse des Menschen – während auch er den Glauben an die Wahrheit bekämpft, während auch er zum „Immoralisten“ wird! Denn wie bei Stirner ist es nur der dogmatisch festgehaltene „Wert an sich“ der Wahrheit, der metaphysische Glaube an sie, der aufs engste mit [309] dem „Gott des asketischen Ideals“ zusammenhängt, kurz, eine Wahrheit, die nicht das quellende, strömende Leben selber ist, die verworfen wird.*) Dagegen läßt der viel persönlicher redende Nietzsche auch plötzlich erkennen, was ihn in Wirklichkeit quält: „dieser Hang und Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen, wie bin ich ihm böse! Warum folgt mir gerade dieser düstere und leidenschaftliche Treiber! Ich möchte ausruhen, aber er läßt es nicht zu.“ Hier nun aber zeigt sich, wie das viel tiefere persönliche Erleben, das Künstlertum Nietzsches, in das Wesen der neuen Wahrheit, sie so innig mit dem Ich gerade identifiziert wird, zugleich viel tiefer eindringen muß. Mit dem Ich als „Maß aller Dinge“ kann für den abstrakt denkenden Stirner die Sache erledigt sein; für Nietzsche, den Künstler und Psychologen, beginnt gerade hier erst das Gefährliche des Erlebnisses „Wahrheit“. Stirner kämpft gegen die fixe Wahrheit – denn Narrheit, Besessenheit, Fanatismus seien ihre Begleiter; damit wird an psychologische Urtiefen gerührt, wird an die festeren Wurzeln auch alles Irrtums gestreift – aber Stirner kümmert sich nicht weiter darum! Eigner „muß“ ich werden auch der Wahrheiten, „darf“ sie mir nicht über den Kopf wachsen lassen; aber schon haben wir die Frage aufwerfen müssen: wie? auf welche Weise? Woran erkenne ich, daß wirklich ich noch die Wahrheit in der Gewalt habe und nicht umgekehrt längst sie mich? Muß ich nicht dazu eben schon ein vollständiges Ich sein, d. h. selbst die vollendete Wahrheit sein, um mich also souverän den [310] Wahrheiten gegenüber verhalten zu können? Ein seiner selbst sicheres Ich wird vielleicht einmal sagen können: „alle Wahrheiten unter Mir sind Mir lieb“ (415); psychologisch aber liegt die Sache doch meist so, daß gerade jene Wahrheiten über uns am meisten – geliebt, verehrt und angebetet werden! Wie werden wir nun solche Eigner und Eigentümer unseres Selbst? Hier eben setzt Nietzsche ein, um uns wenigstens den Sinn, den Blick für das Versucherische und Gefährliche aller Wahrheiten schon bedeutend tiefer aufzuschließen; man kann den Menschen keineswegs mit einem Machtspruch befreien, ihm einfach alle Götter, Ideale, alles Höherstehende wegstreichen und sein eigenes nacktes Selbst statt dessen als einzige Autorität an die Stelle setzen. Für Nietzsche steht zu befürchten, daß die meisten nicht wissen werden, was mit dem Ich anfangen, und einer neuen Borniertheit nur um so sicherer in die Arme rennen werden; auch er sieht das neue Glück der Freiheit, entzückend findet er die Freiheit des Gottlosen, aber ebenso – furchtbar und gefährlich zugleich. Und hier setzt sein Schwanken ein – ein Schwanken, das Stirner nicht kennt und das Nietzsche schließlich dazu führt, das Ich, die Eigenheit als noch nicht vorhanden zu sehen, sie in die Zukunft zu rücken, damit aber ein neues – Ideal zu bringen, das im Grunde seiner ebenfalls Gegenwart und Sinnenfreudigkeit lehrenden Philosophie zuwiderläuft. Mit der Lehre vom „Übermenschen“ entfernt sich Nietzsche am bedeutendsten von Stirner – ja, es scheint, als ob sie nicht mehr zusammentreffen könnten; aber er hat auch die Lehre vom „Willen zur Macht“ und „der Wiederkehr des Gleichen“: das beweist, daß [311] Nietzsche die Motive seines Denkens nur weniger untereinander in Einklang zu bringen wußte als Stirner.

Der Künstler Nietzsche krankt gewissermaßen viel tiefer an dem Problem „Stirner“, als Stirner an sich selbst; der mutige Stirner schleudert den Alpdruck der Jahrtausende von sich und findet die neue Freiheit nicht gefährlich. Unverzagt ruft er alle, zu Beginn der neuen Periode „Ich“, von der halben und teilweisen Freiheit zur ganzen und vollständigen, zur Eigenheit, und diese hinwiederum wird durchaus eine „Freude über uns selbst“ sein. So kann Nietzsche seinen Weg, den Weg zum „schaffenden“ Menschen, zum vollkommen Eigenen, von der „Herde“ Unbeeinflußten, nicht gehen; im ersten Teile des Zarathustra lesen wir die Stelle, die beinahe wie seine Entgegnung auf den „Einzigen“ gedeutet werden könnte (S. Werke VI, 91 ff.):

„Welches ist der Weg zu dir selber? So zeige mir dein Recht und deine Kraft dazu!

Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, daß sie um dich sich drehen? . . .*)

Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, daß du einem Joche entronnen bist.

Bist du ein solcher, der einem Joche entrinnen durfte? Es gibt manchen, der seinen letzten Wert wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf.

[312] Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?

Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?“

Man bemerkt die fast wörtliche Übereinstimmung der Fragestellung – vor Beginn der neuen Zeit; der Zeit, in der der „Einzige“ ist, und der Zeit, in der der – „Übermensch“ erst sein wird: in der Antwort aber liegt nun zugleich die ganze Differenz.

Nietzsche zweifelt hier an der Kraft, den Weg zum Selbst zu finden. Wie mancher nennt sich „frei“ – aber er ist nur „von“ bestimmten Dingen frei, die mit seinem Selbst im Grunde nichts zu tun haben. Eine Freiheit, die zugleich einen Inhalt verkörperte – sie wäre erst erlangt, wenn das Ich sich selbst sein Böses und sein Gutes gäbe. – Nach Stirner: frei „wovon“? Von allem, was Nicht-Ich ist; frei „wozu“? Um Mich Meiner als des Eigenen freuen zu können: freudig aber ist, wie wir wissen, nach Stirner der Unverantwortliche, der vom Sündenfluch des Christentums erlöst ist.

Nun aber bei Nietzsche die tiefere psychologische Einsicht: es gibt manchen, der seinen letzten Wert wegwirft, wenn er seine Dienstbarkeit wegwirft; es gibt nach Nietzsche m. a. W. solche, die nie frei werden dürfen und auch nicht können! – Das scheint Stirner nicht einzuräumen; wendet er sich doch an alle!

Und doch, müssen wir sagen, ist es bei Nietzsche nur das Schwanken – philosophisch gesprochen – hin- [313] sichtlich der Richtigkeit eines Prinzips, als eines allgemeingültigen: damit begibt es sich aber (logisch) strenggenommen überhaupt der Richtigkeit. Auch das „Eigensein“ Stirners enthält natürlich eine ethische Aufgabe; und daß nun die wenigsten trotz des Appells an ihr Ich doch imstande sein dürften, auch wirklich Eigene zu werden – niemand hat es vielleicht besser gesehen, als Stirner! Auch nach ihm gehören die „kräftigen Menschen“ dazu: „kräftige“ Menschen haben es von je so gemacht – die Gewalt aus ihrem Olymp verjagt, sagt er. Sie sind also natürlich die Vorbilder; und wie bei Nietzsche bald die Borgia und Napoleon – ganz so bei Stirner. Aber voraussetzen, daß ein Teil der Menschen nicht einmal „eigen“ werden dürfte: es ist doch wieder ein Zweifel an der Güte dieser Ethik, dieser Moral! Der Philosoph Stirner sieht unbeirrt, unerschüttert die Konsequenzen sich ergeben: bei dieser Losung wird es sich gerade zeigen, was das Vorzügliche ist und wie nur das Große, Überragende überhaupt ein „Recht“ hatte, sich zu behaupten und geltend zu machen. Der Künstler Nietzsche aber plaudert gleichsam das Geheimnis aus; denn warum wird den Tugenden der Demut, der Selbstverleugnung, des Mitleids die Heiligung, der Nährboden entzogen? Um der großen Persönlichkeit, der freien Entfaltung genialischer (d. i. Ich-) Naturen die Überwindung des Kleinen, Niedrigen, der-Anlehnung-Bedürftigen noch vollständiger zu ermöglichen! Die Herde aber bleibt konstant, für sie bleiben die alten Tugenden weiter am Platze; nun – wer wird bewußt zur Herde gehören wollen? Unbewußt aber bleibt das Volk nach wie vor als niederziehendes Gewicht (mit seiner Sklaven- [314] moral) an den Großen hängen; die Großen aber auffordern, rücksichtslos hinwegzuschreiten? Sie taten es von je – und auf einen Kampf des Ich mit den Vielen wird es wieder hinauslaufen!



So bewußt oder unbewußt nun dem Begriff des Stirnerschen „Eigenen“ und „Einzigen“ genau wie Nietzsches „Übermenschen“ der Gedanke einer höheren Spezies „Mensch“ vorschwebt, so wichtig war die Betonung des Gegenwärtigen gegenüber dem Zukünftigen im Hinblick auf die Erlösung vom asketischen Ideal, auf die „Umwertung der Werte“: und hier hat Stirner sicherlich die richtigere Witterung gehabt. Wohl ging Stirners Philosophie im äußerlichen Sinne dadurch des idealen Schimmers bedeutend mehr verlustig; die Selbstrechtfertigung gegenüber dem „Bösen“ unterschiedslos in die Hand eines jeden gelegt – die Perspektive von Zügellosigkeit oder Lethargie – kein Kulturausblick: das alles scheint nicht unbeträchtlich hinter dem Zukunftsbild Nietzsches zurückzubleiben. Aber ebenso sicher ist, daß nur Stirner den tieferen Zusammenhang zwischen dem egoistischen Prinzip und dem Problem von Gut und Böse erblickt hat. Der „Übermensch“ Nietzsches – er wäre in der Tat der neue Gott, das neue Ideal, das – als Ideal – freilich auch notwendig beseitigt werden müßte, wenn wieder Vertrauen zum eigenen Ich, Gefühl der „Unschuld des Werdens“, der Unverantwortlichkeit vor etwas Höherem, dem gedemütigten Individuum die natürliche Stärke und Schöpferfreude wiedergeben soll.*) Ab- [315] gesehen davon, daß Stirner von dem Gedanken einer „Züchtung“, der Nietzsche durch Darwin nahegelegt worden, so fern wie möglich ist: diese „Züchtung“ stellt Aufgaben, sie gibt ein Ziel, das außerhalb der Betonung der eigenen Persönlichkeit liegt, sie muß auch das Gut und Böse in aller Form als „fremde Gebotentabelle“ wieder über dem Individuum aufhängen. – Und doch würden wir wiederum viel zu früh die Brücke zu Stirner versperrt glauben, wenn wir nicht gerade hier noch einmal die Stellung des Künstlers Nietzsche zu seinem Selbst, zum Ich bedächten. Er hat es eben von vornherein niemals als factum brutum genommen, zu nehmen vermocht. Sehr, sehr bezeichnend ist für Nietzsche die Philosophie einmal – „Sehnsucht nach einem Eigentum“; Stirner aber, dem alle Sehnsucht gerade Anzeichen der Christlichkeit, lehrt: ich bin jederzeit mein einziges und ganzes Eigentum. Einzig dieses psychologisch-verschiedene Verhalten zum Ich, das muß man erkennen, trennt nun aber auch lediglich Nietzsche von Stirner in der Beantwortung der wichtigsten Frage: – was nun eigentlich die Grundnatur des Selbst sei und was mit ihm als dem wahren Eigentum denn zugleich gesetzt sei! Stirner antwortet: „Macht“; Nietzsche charakteristisch genug: „Wille zur Macht“. Den Willen als Sehnsucht spricht Stirner nicht von dem Vorwurf frei, eigentlich schon über das „Eigene“ hinauszuwollen; Nietzsche, der tiefere Psychologe, erkennt in ihm gerade unser wahrstes Selbst und damit allerdings auch: „unser“ Eigentum! Vom Ich aus, als dem „Willen zur Macht“, hat bei Nietzsche einzig der Angriff gegen das Christentum erfolgen und damit [316] ein neuer Begriff des moralisch Wertvollen aufgestellt werden können; daß unser eigenes Selbst jederzeit im bewußten Wollen zugleich ein bestimmtes Können, ein bestimmtes Maß von Kraft und Macht verkörpert – das nimmt Stirner zum Anlaß, um jeden Eingriff in diese Sphäre, jedes fremde Gebot, insbesondere wenn es als christliches die Ichverleugnung gerade predigt, abzuwehren. Hier kommen sich denn auch Stirner und Nietzsche am nächsten, und hier gehen die Parallelen oft bis ins einzelne. Wie Stirner die Geschichte in großen Zügen an uns vorbeiziehen läßt und zeigt, wie sie eigentlich einen einzigen großen Kampf, den Kampf gegen die Grundnatur des Ich, darstelle, so nimmt Nietzsche an, daß unsere Moral und unsere sämtlichen „Werte“ aus einer Decadenceperiode der Kulturgeschichte stammen, der eine Zeit des Jasagens zum Leben, ein „Menschheitsegoismus“ vorangegangen ist. Diese Decadence hat schon mit Sokrates begonnen; aber erst mit dem Christentum ist sie vollständig geworden, das ein Ideal gerade aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungsinstinkte des starken Lebens gemacht hat. Die Griechen vor Sokrates kannten noch den Starken, Tapferen, Herrischen, Stolzen, sie schieden zwischen Herren- und Sklavenmoral – aber auch bis zuletzt entweicht ihnen nicht der Instinkt zum Leben, noch Aristoteles erkennt das Mitleiden als krankhaften, gefährlichen Zustand. So Stirner: „Der antike Scharfsinn und Tiefsinn liegt so weit vom Geiste und der Geistigkeit der christlichen Welt entfernt, wie die Erde vom Himmel.“ „Stark und männlich“ betragen sich die Alten gegen die Welt der Dinge, sie suchen das „wahre Leben“. Und be- [317] deutsam wird auch bei Sokrates innegehalten: „darum ist Sokrates der Gründer der Ethik“, und sein Krieg erreichte erst „am Todestage der alten Welt“ sein Ende – damals, als das Ich zum ersten Male vollständiger „Eigner“, Eigner der Welt geworden war und nun um „diesen seinen schönsten Sieg durch die Neuen, die Christen, wieder betrogen wurde“. Wäre Sokrates ein wirklich Eigener gewesen, heißt es an anderer Stelle bei Stirner, er würde sich dem Gesetz des athenischen Staates nicht unterworfen haben und geflohen sein, da er selbst ja des Prytaneums sich für würdig erachtet habe. Mit den „Alten“ stellt Stirner zwar die Juden auf eine Stufe, er findet ihre Instinkte ähnlich, die Instinkte für Volksabsonderung und Lebenserhaltung um jeden Preis. Aber auch für Nietzsche sind die Juden ein „Volk der zähesten Lebenskraft, welches aus der tiefsten Klugheit der Selbsterhaltung die Partei aller Decadence-Instinkte nimmt – nicht als von ihnen beherrscht, sondern weil es in ihnen eine Macht errät, mit der man sich gegen ‘die Welt’ durchsetzen kann“; dieses „Sichdurchsetzen“ ist nach Stirner aber recht eigentlich ein Charakterzug der Antike. Das Rühmenswerte am Christentum, seine Klugheit (Adler und Schlange – die Tiere Zarathustras), findet auch bei Stirner Hervorhebung: „in der christlichen Schlangenklugheit und Taubenunschuld sind die beiden Seiten der antiken Geistesbefreiung, Verstand und Herz, so vollendet, daß sie wieder jung und neu erscheinen“ („Der Einzige“ 28). Man fühlt es, mit welcher Sympathie Stirner oft bei der Figur des Pilatus, die noch antik anmutet, verweilt; und bei Nietzsche die übertriebene Behauptung, [318] den einzigen Wert des ganzen neuen Testaments – nämlich seine Kritik und Vernichtung – enthalte dieses eine Wort des Pilatus: „was ist Wahrheit!“ Auf Christus selbst fällt bei Nietzsche so gut wie bei Stirner das günstigste Licht; es ist also vornehmlich das paulinische Christentum, gegen das sich beide wenden. Für Stirner ist Christus selbst der „revolutionäre Neuerer“ und „respektlose Erbe“, der sich eigene Gesetze gab, der „den Sabbat der Väter entheiligte“, ein ganzes Ich, ein ganz „Eigener“; nach Nietzsche ist er ebenfalls vornehmlich der Empörer gegen die herrschende Ordnung, der für seine Schuld (eine politische) starb, und nicht für die Schuld anderer. Jesus selbst hat nach Nietzsche die Schuld gerade abgeschafft, jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet;*) bei Pilatus war es dann ein wesentlich anderes „Bedürfnis nach Macht“, und zwar kam durch ihn der Priester zur Macht, der nun herrscht „durch die Erfindung der Sünde“.**) Die ganze Arbeit der Antike umsonst! ruft das Nietzsche aus; und noch einmal, fährt er fort, hat uns das Christentum um eine Kulturernte gebracht, die der Renaissance, und zwar durch Luther und den Protestantismus: und wieder wie bei Stirner fallen auch bei Nietzsche die ungleich härteren Vorwürfe auf diesen gerade.
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