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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Damit können wir die historische Kritik verlassen; sie bietet wenige Anhaltspunkte.



Was uns selber anbetrifft, so haben wir an den Stellen, wo die Stirnerschen Konsequenzen keineswegs als die einzig möglichen uns entgegengetreten sind, bereits darauf hingewiesen. Bevor wir dies jetzt noch einmal zusammenfassen und weiterverfolgen, müssen wir den Wink, der positiv doch auch in Fischers Kritik enthalten ist, uns zunutze machen und deshalb eine ausführlichere Skizze über Stirners Zusammenhänge mit der idealistischen Philosophie, die nun öfter gestreift wurden, hier einfügen.

Den (bewußt- oder unbewußt-)theoretischen Grundlagen nach gibt sich seine Weltanschauung da als eine Synthese von Hegel und Fichte, mit antimoralischer Spitze. An Hegel und Fichte ist auch im „Einzigen“ [218] selber noch am häufigsten, wiewohl meist polemisch, erinnert, wogegen Schleiermacher, dem hier eine wichtige Rolle zufallen dürfte, seltsamerweise nicht erwähnt wird. Auch Hegel war von etwas absolut Bestimmungslosem ausgegangen, vom „Gedanken in seiner reinen Bestimmungslosigkeit“, von „der Bestimmungslosigkeit vor aller Bestimmtheit“. Dieses völlig Bestimmungslose nannte Hegel das – Sein. Wird diese Definition auf den Fichteschen Ausgangspunkt übertragen, auf das Ich, so erhalten wir das „bestimmungslose“ Ich Stirners. Zugleich konnte Hegel selbst darauf führen, wenn er in der noch unbestimmten, ersten, unmittelbaren Natur sich dennoch die Einheit des Begriffs schon verbergen läßt (Encyklopädie). Die weiteren Unterscheidungen Hegels zwischen dem Menschen als denkendem Geist und der Natur macht der Naturalist Stirner freilich nicht mit; aber – vielleicht unbewußt – entnimmt er doch einige Bestimmungen noch den Hegelschen Entwicklungen dieser Natur zum Geiste, um erst von deren höheren Stufen, da nämlich, wo Hegelsche Willkür durchbricht, sich energisch abzukehren. Daß der objektive Geist der im einzelnen Willen sich betätigende vernünftige Wille ist, dessen Zwecktätigkeit darauf gerichtet ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich vorgefundenen Objektivität zu realisieren, sie zur Wirklichkeit einer Welt zu gestalten (Hegel), das konnte Stirner noch durchaus sympathisch sein; ferner, daß dieser freie Wille Dasein und Person zuerst im Eigentum werde: „Die Beziehung von Willen auf Willen ist der eigentümliche und wahrhafte Boden, in welchem die Freiheit Dasein hat“ – diese Fassungen konnten sehr wohl den [219] Stirnerschen Rechtsbegriff aus dem Hegelschen noch gebären. In ähnlicher Weise aber vermochte selbst noch Stirners Moralitätsbegriff aus dem Hegelschen zu fließen, sobald man nämlich in dessen abstrakter Form, die Hegel dann als an und für sich „leer“ bezeichnet, einen Inhalt zu suchen unternimmt. Daß das Gute die realisierte Freiheit, die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens Wurzel der Pflicht ist, das Gewissen aber „die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins ausdrückt, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als das Gute weiß, zugleich in der Behauptung, daß, was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist“ – das brauchte alles gewissermaßen nur als eigentümlicher, für sich bestehender Inhalt gewertet zu werden. Und wer hatte auch strenggenommen jetzt noch das Recht, mir einen ganz bestimmten, fixen Inhalt willkürlich dazuzuschreiben, jenes „objektive System von Grundsätzen und Pflichten im Staate“, wodurch Hegel aus der abstrakten Formel erst die positive Moral gewinnt? Wo liegen hier die logischen Fäden, die diese mit jener verknüpfen? Und gefährlich war es schon von Hegel selber, zu bemerken, daß alle unrechtliche und unmoralische Handlungsweise auf jene abstrakte Art ebenfalls gerechtfertigt werden könne! Gefährlich, daß Hegel selbst einmal (mit Beziehung auf Sokrates) andeutet, daß in Zeiten der Hohlheit der Mensch seinen eigenen Willen als Gesetz aufstellen dürfe! Gefährlich endlich, daß nun bei Hegel – alles gerechtfertigt erscheint, was nur der Staat befiehlt. Daß Gott zu Hilfe gerufen [220] wird, um den Staat „seinen Gang“, seine Verwirklichung in der Welt zu nennen. Diesen Gott hatte Feuerbach später in die Brust des Menschen zurückgezogen; und Stirner folgt nur, indem er auch „die Bestimmung der Individuen, ein allgemeines Leben zu führen“, die Hegel zuletzt für unser göttlich Teil erklärt hatte, verwirft.

Nicht ein allgemeines Leben, sagt Stirner, sondern ein Ich-Leben: die Zersplitterung aber des Fichteschen absoluten Ich in die einzelnen individuellen Iche konnte sehr wohl Schleiermacher in ihm vorbereitet haben. Schleiermacher war überhaupt derjenige, der auch das Materielle auf eine viel höhere Stufe der Realität erhoben hatte. Es gebe auch eine Materie des Bewußtseins, sagt er in seiner Einleitung in die Sittenlehre, welche in demjenigen bestehe, was die Seele ohne Bewußtsein sein würde, oder wodurch die Seele auch ein Dingliches sei. Diese, auch „ideale“ Materie genannt, und die gewöhnlich so genannte „Materie“, nämlich die raumausfüllende, könne unter dem Namen „chaotische Materie“ zusammengefaßt werden. Das nun erinnert stark an die Stirnersche „Person“, welche Geist „hat“ – auch ohne eigentliches Selbstbewußtsein, an das Ich, das wir behalten sollen, auch wenn wir das Bewußtsein streichen. Schleiermacher ist auch mit dem ganzen Dualismus nicht einverstanden, der zwei Arten von Dingen, reale und ideale, materielle und geistige nebeneinander bestehen läßt; vielmehr sagt er mit Spinoza, daß dasselbe Eine Sein auf ideale Weise ebenso gesetzt sei wie auf reale, und Ideales und Reales parallel nebeneinander fortlaufen als Modi eines Seins (vgl. [221] oben die Stirnersche Identität). Und so hat auch schon Schleiermacher dieselbe Einheit von Denken und Wollen im Sein, und geschlossen, daß dieser Gegensatz zum Sein überhaupt gehöre; von jedem Sein, sofern es als Kraft betrachtet werde, könne man sagen, es sei ein Wollendes (Dialektik). Nun aber das Wichtigste: worin läßt Schleiermacher diese Einheit von Denken und Wollen besonders vollzogen sein, sich manifestieren? Im Gefühl! „Im Gefühl ist die im Denken und Wollen bloß vorausgesetzte absolute Einheit des Idealen und Realen wirklich vollzogen, da ist sie unmittelbares Bewußtsein, ursprünglich, während der Gedanke derselben, sofern wir ihn haben, uns vermittelt ist durch das Gefühl, nur Abbildung desselben.“ – Damit vergleiche man Stirners „Gedankenlosigkeit“: „Ich will den Gedanken haben, will voller Gedanken sein, aber zugleich will Ich gedankenlos sein und bewahre Mir statt der Gedankenfreiheit die Gedankenlosigkeit“ (405). Auch einen Ausgleich zwischen Freiheit und Determiniertheit finden wir ähnlich schon, wie später bei Stirner. „Freiheit geht so weit als das Leben . . . Auch die Pflanze hat ihre Freiheit“. „Frei ist alles, insofern es eine für sich selbst gesetzte Identität von Einheit der Kraft und Vielheit der Erscheinungen ist. Notwendig ist es, insofern es in das System des Zusammenseins verflochten“ – also allgemeine Kausalität ist (Dialektik). Aus solcher Metaphysik erwachsen, konnte denn auch Schleiermachers Ethik, in ihren Fundamenten wenigstens, noch manches Wichtige für Stirner enthalten. Über das bloße „Sollen“, das bestehen bliebe, wenn auch niemals etwas zu seiner Ausführung geschähe, über das Sitten- [222] gesetz als Gesetz, wenn kein Mensch sich auch nur anschickte, ihm zu gehorchen, geht gerade auch Schleiermacher durchweg hinaus, bringt es vielmehr in die vollständigste Nachbarschaft zum Naturgesetz, das nur von innen heraus alles Seiende bestimmt. Das Handeln nach Zwecken, das der kategorische Imperativ Kants so unsittlich gefunden hatte, hält er vielmehr für das Natürliche, ja, das Vernunfthandeln selbst noch immer für ein „Zweckwollen“ – und sei dieser Zweck eben die Vollkommenheit selber; denn „will ich nichts bewirken, warum handle ich?“ fragt er. Und wenn er sich nicht scheut, darauf hinzuweisen, daß auch „der sittliche Verlauf auf dem physischen ruhe“, so braucht man dies nur damit zusammenzuhalten, daß er schließlich die höchste Sittlichkeit gerade im „vollendeten Einssein von Natur und Vernunft“ findet, um eine individualistische so gut wie eine altruistische Moral infolge hiervon zu rechtfertigen. – Endlich ist auf eine ziemlich ausgebildete Form des Individualismus bei Schleiermacher schon hingewiesen worden (s. o.), deren konsequente Weiterbildung sehr wohl auch zum „Einzigen“ führen konnte. In der praktischen Tugend- und Pflichtenlehre ist freilich Schleiermacher dann doch, wie wir wissen, vom geheiligten Boden der Tradition wenig abgewichen; aber nicht nur, daß auch er dieselbe mit ihren Fundamenten nicht in Einklang zu setzen wußte – die Zeugnisse einer Zeit, da auch er noch für Schlegels „Lucinde“ schwärmte, die „Monologen“ u. a., sie lagen ja noch allen vor Augen.

Der Individualismus Schleiermachers und die Ichreligion Fichtes bilden, sobald man tiefer schaut, schlechthin Gegensätze; nach dem Sturz des Hegelschen Systems [223] war aber vorübergehend auch wieder ein Neu-Fichteanismus aufgetaucht. Schleiermacher lehrte, daß jedes Individuum in seiner unvergleichlichen Art seinen Platz im Weltsystem einnehme, irgend eine Vollkommenheit gerade in der Verschiedenheit von anderen realisiere; Fichte dagegen hatte den Satz aufgestellt: „Ein Vernunftwesen muß schlechthin ein Individuum sein, aber nicht eben dieses oder jenes bestimmte.“ War aber den Zeitgenossen Fichte wieder ins Gedächtnis gerufen, so konnte bei den freieren Geistern und skeptischen Naturen seine Ethik, die also nur scheinbar auf so autonomer Grundlage errichtet war, in den Zeitläuften der 30er und 40er Jahre bloß ein ungläubiges Lächeln hervorrufen. Sieh nur, wie frei ich durch Fichte geworden bin, ruft jeder: mein Ich der alleinige Schöpfer des Ganzen, des Weltganzen! Zwar wird es bald das „absolute“ Ich genannt; aber so viel leuchtet ja doch ein, daß es auch als solches nur der individuellen Vernunft entstammen kann! Ich bin Schöpfer auch des Nicht-Ich: aber wozu erschaffe ich es denn? Ich bin Schöpfer alles Guten um mich, das ich genieße, das ich verzehre, das mir Luft macht: wohl, das wäre begreiflich; aber ich bin nicht auch Schöpfer meiner Ärgernisse, meines Todfeindes, meines Richters, meines Vorgesetzten, meines Gesetzgebers? Gewiß, sagt Fichte, das bist du auch – und weißt du, warum du es bist? Um dich ethisch betätigen zu können! Ein merkwürdiges Ich, dieses Ich; es ist nicht zufrieden mit seiner „angestammten“ Güte, es muß durchaus dazu da sein, dazu in der Welt sein, um seine Tugenden zu bewähren, sie brillieren zu lassen! Das Ich setzt sich selbst das Nicht-Ich, um [224] sich praktisch, d. i. ethisch gegen dieses benehmen zu können . . . In jenen Zeiten aber, als Stirner lebte, da war das Nicht-Ich ein gar undankbarer Geselle geworden. Der Staat, dieses Nicht-Ich, das ich selbst doch nur gesetzt hatte – er fragte wenig danach, daß er Staat doch eigentlich nur von meinen Gnaden, er hetzte mir die Polizeigewalt auf den Hals, er überwachte alle meine Schritte, und dieses Nicht-Ich bewies sich schließlich stärker als sein Schöpfer, das Ich. Dieses mochte beim geringsten Preßvergehen in Gewahrsam schmachten, die Nicht-Iche aber, gegen die es sich ethisch benehmen sollte, triumphierten . . .

So ging es nicht weiter. Und so konnte man gerade auch von dem größten Ethiker Fichte zur Antimoral und Amoral kommen. Und dahin ist Stirner gekommen – zuletzt freilich aus seiner Natur heraus; und Fichte war zur Ethik gekommen – auch nur aus seiner Natur heraus, nicht aber, wie er sich einbildete: vom Ich aus.

Wir kehren jetzt zu Stirners Lehre zurück.

Vor allem gilt es zu sagen, ob er, in solcher Weise freilich auch noch von der idealistischen Philosophie herkommend, nun doch am Ende nichts anderes versucht hat, als eine neue Idee – ein neues Ideal – eine neue oberste Wahrheit auf den Thron zu setzen? Und da werden wir denn in gewissem Sinn nicht umhin können, Feuerbachs Witterung – wenn dieser auch sicher unrecht hat, sein eigenes Menschheitsideal für persönlicher, gewissermaßen irdischer und erfüllbarer zu halten – recht zu geben: um ein Ideal, ein neues Ideal, das, nach Stirner selbst, immer seinen Bekenner und Aufopferer verlangt, ist auch er nicht herum- [225] gekommen! Es werden uns genug Gebote auferlegt, die man wohl oder übel doch als uneigene, unegoistische, fremde empfinden könnte; wir „sollen“ wieder . . wir „dürfen nicht“ . . wir „müssen“ eine gewisse Mitte halten . . „dürfen“ uns nicht hinreißen lassen . . . Ja, aber wenn wir doch, wie immer wir auch sein mögen, „Eigene“ bleiben, aus unserer Haut nicht herauskönnen – was soll „uns“ das alles? – So weit hatte Feuerbach recht gewittert.

Und damit wäre Stirner für sich selbst erledigt. Denn gerade er will kein neues Ideal, keinen neuen Himmel bringen, er will sich selbst bringen. Möglich nun, daß er nach seinem Werke nur noch sich selbst erfüllt, verzehrt, „vertan“ hat; im Werke dagegen noch nicht – d. h. in jenem Sinn nicht, den er selbst dafür in Anspruch genommen hat. Hier kämpft er für etwas, ist begeistert für etwas, sorgt für das Seelenheil einer ganzen Welt – während er sich fortwährend vorspricht, daß derlei im Grunde unwichtig und das Beste sei, allem Treiben der Menschen ruhig und teilnahmslos, „voll Ataraxie“ zuzuschauen. Aber ob nun Stirner vielleicht sich selbst damit erledigt wäre – er ist es darum nicht für uns. Und wir wollen ja gerade „egoistische“ Kritik üben: wiederum in Stirners Sinne.



Ganz natürlich ist es da unsere erste Sorge: läßt sich der Stirnersche Wahrheitsbegriff halten, der ihm selbst hier anscheinend mit so böser Gefahr droht?

Wir haben zweierlei zu unterscheiden: die Worte „Wahrheit“ und „Vernunft“ hat Stirner (auch das mußte oben schon berührt werden) doppelsinnig gebraucht! Gewöhnlich, wenn er von einer „ewigen [226] Wahrheit“, oder von einer „Herrschaft der Vernunft“ spricht, hat er nichts anderes im Auge, als was er sonst mit „Prinzip“, „Ideal“ oder „neues philosophisches System“ bezeichnet. „Wahrheit“ soll da eo ipso schon „vorübergehende Wahrheit“, „Vernunft“ etwa die von der französischen Revolution zur Göttin erhobene Vernunft bedeuten – und indem viele Stellen diesen näheren Wortverstand weglassen, so erscheint es wirklich, als kämpfe Stirner gegen die Wahrheit und die Vernunft (vgl. 125/126, 177 u. a.). Kurz dagegen: er kämpft hier keineswegs gegen „Wahrheit“ oder „Vernunft“ – er kämpft hier wie überall nur gegen das Heilige. Diesem gegenüber erkennt Stirner die „unheilige“ Wahrheit an, worunter er aber deutlich das ganze große Gebiet der Logik gerade versteht. Er ist selbst mit Vorliebe Logiker, ein vorzüglicher Dialektiker, gerade der zähe Scharfsinn, nicht der ahnende Tiefsinn ist seine starke Seite. Ihm gefällt die „unumstößliche mathematische Wahrheit“ des Zweimalzweigleichvier, denn, so meint er: derlei betet man nicht an, weil es nicht „geoffenbart“ ist (49); es gilt nicht als heilig. Aus demselben Grunde – als starrer Logiker nämlich – ist er ein ausgesprochener Feind jedes Konkordats, jeder Lauheit und Halbheit, jeder Vermittlung zwischen Wahrheiten (355); Gegensätze müssen nach ihm in aller Schärfe bestehen bleiben, oder höchstens in einen letzten und entschiedensten Gegensatz, wie den des Einzigen gegen den Einzigen, aufgenommen werden (243). Möglichkeit und Wirklichkeit fallen nach Stirner immer zusammen (Unmöglichkeit mit Unwirklichkeit); aber scharf zu trennen sei zwischen Denkbarkeit und Wirklichkeit, zwischen dem [227] logischen Denken und der Realität, und die Gesetze des einen seien nicht die Gesetze der andern (385). Aus all dem erhellt jetzt, wogegen im Grunde auch der große Exkurs gegen die Wahrheit am Schlusse des „Einzigen“ gerichtet ist (401-418): gegen nichts als die „heilige“ Wahrheit, die besessen macht und gerade darin irrt, ein Spiel mit Begriffen, eine nur nach immanenten Gesetzen verfahrende Logik immerfort für das Wirkliche, die Realität zu nehmen. Trotzdem kann man hier – ohne jede nähere Einschränkung – Sätze lesen wie: „Wahrheiten sind Phrasen, Redensarten, Worte (óo); in Zusammenhang oder in Reih’ und Glied gebracht, bilden sie die Logik, die Wissenschaft, die Philosophie.“ Aber gleich darauf sieht man, daß wieder nur gegen den Denkgläubigen, also gegen den „herrschenden“ Gedanken, der uns nicht zum Diener machen soll (also gegen Idee, Ideal), geeifert wird (407). Die Logik selbst ist nirgends angegriffen. Vielleicht am ehesten noch in folgenden beiden Sätzen: „weder die göttliche noch die menschliche Vernunft, sondern allein deine und meine jedesmalige Vernunft ist wirklich, wie und weil Du und Ich es sind“. (239/240). Und: „es wird nun behauptet, daß nicht der Mensch das Maß von allem, sondern daß Ich dieses Maß sei“ (412). Wirklich gebraucht Stirner (nämlich in ähnlichem Sinne wie „Unmensch“ für den eigentlich realen Menschen) für meine, deine usw. Vernunft auch das Wort „Unvernunft“ (239). Wie nun aber der „Unmensch“ lediglich ausdrücken sollte: Mensch ist das Geringste an mir, so besagt „Unvernunft“ nur: „Vernunft“, die allgemeine, allgemein- [228] menschliche, ist gerade das Geringste, worüber ich verfüge, und über sie hinaus vermag ich eben als dieses bestimmte Ich noch zu besonderen, persönlichen, gerade von mir gefundenen Wahrheiten zu kommen. Es wäre freilich wünschenswert gewesen, daß Stirner diese Spielerei mit „Wahrheit“ und „heiliger Wahrheit“ gelassen hätte; denn da es ihm nirgends in den Sinn kommt, gegen die allgemeinmenschlichen, subjektiv-objektiven „Denkformen“ (im Sinne Kants) anzukämpfen, weil seine Skepsis, wie gesagt, überhaupt nicht so weit reicht – darum ist es um so irreführender, daß einzelne Sätze, die im Grunde etwas ganz anderes treffen wollen, sich dem Wortverstande nach jenseits von Kant begeben. Daß „Ich das Maß der Dinge sei“ – damit scheint implicite auch jedes objektiv-gültige Denkgesetz über den Haufen geworfen zu sein: in Wirklichkeit ist nur von den moralischen Gegensätzen zwischen Gut und Böse die Rede.

Und trotzdem kommt Stirner gerade für die Zwecke seiner praktischen Philosophie nirgends ganz von dem Individual-Erkenntnisprinzip der gesamten neueren Philosophie los, dem nur Kant eine Richtung aufs Objektive zu geben gewußt hatte, und das ihm zuzeiten vielleicht als wichtige Stütze seiner Moral erscheinen mochte, ohne daß er sich doch genügend um seine konsequent theoretische Durchführung bemüht hat: von dem Gedanken der Welt als „seiner Vorstellung“. Daß ich die Wahrheiten denke, sie erschaffe – das fließt ihm fortwährend zusammen mit dem: daß ich eo ipso ihr Herr sein und bleiben müsse. Das Bewirkte kann nicht größer als die Ursache, das, was ich aus mir herausgestellt habe, nicht mächtiger als [229] der Schöpfer sein; merke ich, daß das Geschöpf gegen mich aufsteht, mich verschlingen will – rasch ziehe ich es in mich, seinen Ursprung, zurück und vernichte es so. Wohin zurück? – hat Stirner hierüber einmal nachgedacht? Die Idealisten der neueren Philosophie, vor allem Berkeley und Fichte (aber auch Condillac, Leibniz u. a.), haben schließlich die Außenwelt nicht überhaupt geleugnet: jener läßt sie am Ende als Wirkung Gottes in uns, dieser als notwendigen Gegenstand ethischer Betätigung weiterexistieren; und weiterexistieren läßt sie Stirner natürlich auch – im Gegenteil, so theoretisch hat er’s nie gemeint. Ja, so muß er sich doch aber klar werden, wohin er denn die „Wahrheiten“, die er schafft und auch wieder zerstört, zurücknehmen will! Also in sich, die Person, die leib-geistige Person, wie wir oben feststellten. Wenn er aber derartig idealistisch beginnt: was will er da mit seiner leiblichen Person noch? Von diesem Standpunkt aus ist sein Leib so sehr „äußerliche“ Wahrheit, wie nur sonst irgend eine, denn nicht „seine Person“ hat die Wahrheiten erschaffen und kann sie wieder zurücknehmen, sondern lediglich sein Denken, sein synthetisches Ich – und daß dieses mit einem Leibe bekleidet sei, davon hat er kein ursprüngliches Gefühl, kein ursprüngliches Wissen. Nicht „sein“ Leib denkt, sondern „er“ denkt, und wie jener denkt, das bliebe ein ewiges und undurchdringliches Mysterium. Erkennt er aber die Realität seines Körperlichen von vornherein an, wie er das ja tut, so ist die idealistische Ausdrucksweise überhaupt verwirkt: da beweist allein schon diese Realität, daß es von meinem Denken unabhängige, selbständig existierende Realität gebe, die [230] ich nicht beliebig „in mich“ – z. B. schon meinen Leib nicht – zurückziehen und auflösen kann. Warum sollte es aber da nicht noch Tausende solcher selbständigen Realitäten geben, die ich zwar alle „denken“, „schaffen“ d. i. nur nachschaffen – keineswegs aber beliebig in mich, den „Schöpfer“, zurücknehmen könnte! Sie würden ganz unabhängig von meinem Denken existieren, wiewohl ich, für mich, sie freilich erst denken müßte; aber Macht hätte ich darum keineswegs über sie, und ihr Herr, Herr der „Wahrheit“, wäre ich darum noch lange nicht! Es ist eben noch die große Frage, ob dadurch, daß gerade ich diesen Gedanken habe, ihn also scheinbar erst in die Wirklichkeit rufe – ich eo ipso auch sein vollkommener Verfüger, Herr und Verwalter werde. Gedanken können sehr wohl außer dem, daß ich, der Denkende, sie denke, noch eine selbständige, für sich bestehende Macht sein, die mit der meinen in durchaus reale Beziehungen und – Kämpfe zu treten vermag. Gedanken sind nicht, wie für die unklare Vorstellung, der auch Stirner verfallen ist, etwas Unwirkliches, Luft- oder Gasartiges, sondern Gedanken haben immer eine bestimmte Bedeutung, einen Inhalt, und mit diesem allein müßte ich, der Schaffende, mich messen, um zu erfahren, ob ich ihn in mich zurückziehen, ihn auflösen kann, oder ob nicht gerade er als der Stärkere mir gegenübersteht. Hinsichtlich der Sohnschaft, einer Delegiertenversammlung usw. hat Stirner das viel richtigere Verhältnis erkannt und ausdrücklich befürwortet: die Mutter ist die „Erzeugerin“ des Sohnes, die Delegiertenversammlung hat ihren „Berufer“, ist also zunächst nicht ohne ihn. Darum, wenn der Sohn ein- [231] mal losgelöst vom Mutterschoß, die Versammlung getrennt von ihrem Berufer ist: so beginnt die natürliche Selbstbehauptung des Sohnes, die Unabhängigkeitserklärung der Versammlung von ihrem Berufer – die Macht der Schaffenden hat aufgehört! Meint man, das gelte natürlich nur von Personen, von selbständigen Ichen, und hier sei gerade von Begriffen, Allgemeinem, d. i. „Unwirklichkeiten“ die Rede: so fehlt eben bei Stirner, da ich nun einmal hinsichtlich aller meiner Vorstellungen auf diesem Standpunkt der Denkende, Schaffende bleibe, jede nähere Bestimmung und Unterscheidung, wie weit ich das Reale außer mir anerkenne und wie weit nicht. Verlasse ich einmal den Boden des Subjektivismus, erkenne auch nur ein Materielles neben mir, dem Denkenden, als selbständig an, dann ist der Bannkreis meiner Schöpfermacht überhaupt durchbrochen, und ich kann keineswegs übersehen, wieviel selbständige, für sich ihr Recht fordernde Realität mir noch entgegentreten werde!

Das alles ist offenbar nur die Folge davon, daß Stirner von einem so gänzlich „bestimmungslosen“ Ich ausgegangen ist, das er „Ich“, „Du“, „Er“ – näher: Person nennt, daß er diese „Person“ nirgends genauer definiert, präzisiert oder auch nur umschrieben, abgegrenzt hat; er durfte es tun, dann aber nicht einen Standpunkt übernehmen, der sichtlich ein anderes Ich im Auge hat. Aufs engste hängt damit die Unbestimmtheit des (in der subjektivistischen Erkenntnistheorie ganz anders verstandenen) Ausdrucks „in mir“ zusammen. Das Stirnersche „Inmichzurücknehmen“, „Auflösen“, „Vernichten“ (der Wahrheiten usw.) denkt lediglich daran, daß dann außerhalb Meiner nichts [232] mehr existiert, vor dem ich mich zu demütigen brauche: aber in mir existiert es nicht? Wo sitzt denn die Hierarchie, die Gedankenherrschaft? Saß sie anfangs nur in meiner an sich gedankenlosen Person, und habe ich sie durch mein Denken nun daraus vertrieben, so daß sie mir nichts mehr anhaben kann? Nein, sie sitzt in eben dem Denken, das Stirner mit der Aufgabe betraut, sie daraus zu verjagen, und in welchem allein auch nur – mein Ich sitzt! Denn mein Ich ist kein bloßer Gedanke neben anderen, sondern es ist überhaupt nur dieses ganze Denken selbst, es ist die Vorstellung, die mehr oder weniger bewußt alle meine Gedanken begleitet und gleichzeitig bewirkt, daß sie nicht auseinanderfallen, daß sie in der Einheit meines Selbstbewußtseins ( Ich) zusammenhalten. Welche Aufgabe stellt also Stirner dem Ich? „Sich“ fortwährend zu überwachen, daß nur ja kein „sich“-demütigender Gedanke darin vorkomme! Wer aber hatte gerade erst den „demütigenden“ Gedanken? Natürlich dieses selbige Ich, das sich so etwas aber ja nicht getrauen soll! Mit einem Wort: das Ich soll sich selber bekämpfen, was eine neue Zwiespältigkeit und so gerade auch nach Stirner: Unnatur, nicht Natur bedeuten würde!

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