Ana səhifə

Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


Yüklə 0.57 Mb.
səhifə15/20
tarix26.06.2016
ölçüsü0.57 Mb.
1   ...   12   13   14   15   16   17   18   19   20


Dahin ist Stirner gelangt, lediglich, weil er sich den Gedanken des Ich, der Eigenheit, des Eigenseins, um jeder Dogmatik zu entgehen, absichtlich nicht als Begriff, damit aber ohne jede scharfe Umrissenheit vor Augen geführt hat. Ihm schwebten immer nur Skizzen, halb materielle, halb geistige, als „Persönlichkeit“ vor, und von einer im Grunde so unpersönlich genommenen Persönlichkeit konnte es ihm, theoretisch-[233]abstrakt gerade, so scheinen, als müsse sie einen Wahrheits-Dienst, eine Ich-Hingabe, eine Unterwerfung unter das Ideal notwendig als „Dienst“, Knechtschaft, Sklaverei auch immer empfinden! Daß gerade ein und dasselbe einheitlich-bleibende Ich im nämlichen Augenblick Götter ersinnen und sich vor ihnen demütigen könne, ja, Götter erschaffe, nur um sich freudig zu unterwerfen, das schien ihm – logisch, theoretisch allein – so widersprechend, daß er darüber das tatsächliche, tägliche, praktische und wir können hinzufügen: natürlichste Geschehen übersah und im Gegenteil für Zwiespältigkeit, Widernatur ausgeben zu müssen glaubte. Was bleibt aber vom Ich, wenn man ihm seine Ideale, Wünsche, Ziele, Bestrebungen, Hinarbeitungen wegnimmt, viel anderes übrig, als höchstens die formale, tote Einheit ohne allen treibenden, reizenden Inhalt, die man schwerlich gerade als das natürliche Ich erkennen möchte? Stirner hat sich, viel abstrakter, als er selbst ahnt, einen ganz falschen Begriff von Zwiespältigkeit des Seins*) zurechtgelegt. Der Besessene, von einer fixen Idee Eingenommene ist eigentlich der im Grunde am wenigsten Zweigespaltene. Wer begeistert für eine Sache kämpft, ist weit davon entfernt, eine Wahrheit „über“ sich selbst zu stellen und ihr zu „dienen“ mit dem Bewußtsein eines Dienstes. Wir sagen ja selbst vielmehr in solchen Fällen: „er legt sein ganzes Ich, sein ganzes Sein dafür ins Zeug“, und der von einer Idee Beherrschte ist gerade darum so einheitlich, so schmerzlich-einseitig, weil er meinen würde, seine „ganze Natur verleugnen“ zu [234] müssen, wenn er sie aufgeben sollte! In der Begeisterung, in der Besessenheit selbst liegt unter Umständen die ganze Natur, das ganze Ich des Menschen, es ist die „Haut, aus der er nicht heraus kann!“ Aber wer könnte eher als ein recht Bedauernswerter, Unselig-Zwiespältiger erscheinen? Wer, kaum daß er merkt, eine Wahrheit wachse in ihm zur Stärke einer Überzeugung, sofort darauf losschlägt, sich ihrer erwehren will, d. h. doch nur: lauter Zweifelsgründe gegen sie vorbringt, Bedenklichkeiten ausklügelt, usw. Wer sich etwas „aus dem Kopf schlagen will“ – ist er nicht gerade der innerlich Zerrissene? Gerade wer sich etwas aus dem Kopf schlagen will: wissen wir nicht, wie schwer, ja wie unmöglich oft gerade dieses Wollen, und wie gerade mit der angestrengten Absichtlichkeit die Aufmerksamkeit zum alten Gegenstand zurückkehrt? Ein schweres, schweres Gebot hat da Stirner unserer Natur aufgelegt – schwerer am Ende als alle „Soll“ und „Müssen“ der Moral- und Pflichtgebote, die er gerade aufheben wollte: hängt nicht oft das ganze Wesen des Menschen am Ideal – und kann Stirner da sagen, der „eigene“ Mensch sei der Mensch ohne dieses Ideal, und das Ideal sei nur das Fremde, Uneigene, an das das Ich sich wegwerfe, worin es sich „vergesse“? Ist es nicht ein hartes Gebot gerade wider die Natur, die Stirner doch herstellen, befreien will?

Diese letzten Einwände hätten wir hier nicht noch einmal wiederholt, wenn sie nicht gerade auch der einzigen tieferen Erkenntnis, in der sie aufgehoben erscheinen: nämlich der Stirnerschen Lehre vom Mitte- und Maßhalten in allen Dingen, mit neuer Gefahr [235] drohten. Gut, so sagen wir jetzt, Stirners „Eigenheit“ besteht gerade auch in einer neuen Aufgabe, einer neuen Pflicht, auch wirklich „eigen“ zu bleiben. Stirner hat offenbar den Kultus der heiligen Wahrheit als Besessenheit und Ichverleugnung auch schon darum bekämpft, um zu zeigen, daß das Prinzip eines echten Naturalismus auch keineswegs nach der anderen Seite zur Zügellosigkeit führe. „Mein eigen bin Ich erst, wenn nicht die Sinnlichkeit, aber ebensowenig ein Anderer, Gott, Obrigkeit, Gesetz, Mich in der Gewalt haben, sondern Ich selbst“ (199). Von einer bloßen Wiederherstellung eines Naturzustandes kann da gar nicht die Rede sein. Wenn ein Sinnlicher seinen Begierden Einhalt tut, verleugnet er da etwa nicht seine Natur? Ist er denn da noch wortgemäß ein Eigener, ein ganz „natürlich“ sich verhaltendes Ich? Wenn dem aber so ist und alles in der Tat auf ein letztes Inderhandbehalten der eigenen Ichheit hinausläuft – war es da noch angebracht, immerfort vom absolut bestimmungslosen Ich zu sprechen, nicht wenigstens die Handhabe eines Versuchs zu bieten, wie es gerade auch möglich sei, individuell das Maß der eigenen Eigenheit zu finden? Denn daß dieselbe eben nicht einfach auf dem Wege ethischer Intuition zu bestimmen, das beweisen doch alle Mahnungen der Selbstbesinnung und des Beisichbleibens – beweist übrigens auch eine tausendjährige Vergangenheit, gegen die Stirner doch wohl nur kämpft, weil sie das Wichtigste, das Ich, nicht hochzuhalten „verstanden“ hat. War nun Stirner ein solcher Ichprophet, wie er unumgänglich auch zu neuen Aufgaben und Zielen ruft, dann hätte er es [236] eben nicht unterlassen dürfen, ein bestimmteres Maß für das Ich, eine tiefere Andeutung, wie weit unsere Eigenheit nun reiche und wie weit nicht, zu geben. Wir haben es gerade gerühmt, daß er nicht einseitig den Standpunkt, der lediglich das „Erkennen“ als die das Ich vollständig konstituierende Eigenschaft ansieht, in seiner monistischen Theorie vertreten, sondern durch seinen Kampf gegen das Stabilitätsprinzip, gegen die leidige „Konsequenz“, auch dem Willen eine so wichtige Rolle eingeräumt hat. Aber was das Ich anbetrifft, das doch nun in seiner Ganzheit, als Erkenntnis und Wille zugleich, zu entscheiden hat, wie weit es die Wahrheiten, wie weit die Leidenschaften als „noch eigene“ für zulässig halte, so leidet seine ungenaue Fassung darunter natürlich noch mehr. Ich habe morgen etwas anderes für gut befunden als heute und handle so –: wie weit „darf“ dieser proteische Wechsel vor sich gehen, um noch Ich – mein Ich zu bleiben? Wenn ich gar zu schwankend, zu widerrufend sein werde – welches von diesen sich täglich anders betätigenden Ichen war oder ist denn nun mein Ich? Antwort: das stets wechselnde, das aufbauende und auch zerstörende Ich . . . Soll denn nun aber dieses Ich nicht überhaupt willkürlich sein, soll es Grenzen, Schranken anerkennen – und welche? Schranken im Wahrheitsdienst und Schranken in der Leidenschaft? Da es unmöglich wissen kann, welches sein eigenes, echtes und ursprüngliches Ich ist, so wird es nicht anders können, als – jedes Handeln mit sich vereinbar zu finden!

Hätte Stirner schon überall Erkenntnis und Willen als zwei das Ich gleichzeitig konstituierende Faktoren [237] berücksichtigt, so wäre er schließlich dahinter gekommen, daß es überhaupt eine schwierige, wenn nicht unmögliche Sache ist, vom Ich aus, von der „Eigenheit“ aus als etwas Unmittelbar-Bekanntem, als von einem festen Mittelpunkt aus eine physische und moralische Welt zu begründen. Was ist, was enthält denn die Eigenheit? Es klingt so bekannt, wenn man „Ich“ sagt, es scheint so klar zu sein, wenn man „seine Natur zu Rate ziehen“ will: aber welches ist denn diese Natur? Da stehen wir ja gerade vor dem großen Rätsel, dem Mysterium! Ja, wenn das so eine einheitliche Sache wäre, wie man nach Stirner meinen könnte, wenn „Eigenheit“ als solche schon wirklich alles enthielte und wir sie eben nur zu befragen brauchten in jeder „rechten“ oder „unrechten“ Sache – da wäre es freilich nicht genug zu verwundern, daß die Menschen immer draußen gesucht haben, nach „fremdem“ Gebot sich gerichtet haben! „Eigenheit“ ist leider durchaus nicht der so selbstverständliche, stetsvorliegende Inhalt, der ihr – im Gegensatz zur Freiheit z. B., nach Stirner – innewohnen soll; ja, wenn man näher zusähe, Eigenheit wäre immer schon eine so unentrinnbare Komplikation, eine so unauflösliche Durchdringung mit tausend fremden Außenwelt-Einflüssen, die nur zu „eigenen“ schon gemacht worden, daß man von absolut selbstangehörigem Ich, von vollständiger Eigenheit, schwerlich auch nur in einem Falle zu sprechen vermöchte! Wenn Stirner, sagen wir, hier an diesem Punkte weiter nachgeforscht hätte, so wäre er, um eine Richtschnur für unser Tun und Handeln zu finden, wahrscheinlich auch vom Ich weggedrängt worden, denn es ist wohl so gesagt: „Du“, [238] „du selbst“, dein Ich als Maß aller Dinge, aber wer, was bist du? Man braucht keineswegs mit dem Christentum zu antworten: ein Abgrund von regellosen Trieben, ja, man darf es nicht, denn zweifellos ist jeder etwas anderes; man kann auch mit Stirner nicht sagen: absolute Vollkommenheit – denn Vollkommenheit ist inhaltleer, es fehlt ja gerade noch dasjenige, von welchem die Vollkommenheit ausgesagt wird und was in der Tat ein einziges großes Mysterium bildet, dessen Schleier Stirner keineswegs gelüftet, das er im inneren Selbstgefühl vielmehr jederzeit als enträtselt schon vorausgesetzt hat . . . Aber gerade im innerem Selbstgefühl kämpfen seit Adams Zeiten zwei Mächte um die Seele des Menschen; Stirner kommt nun und redet vom Ich, es bilde sich nur ein, daß da ein Kampf existiere – und das Ich soll es ihm glauben. Aktivität, wechselnd-bewegtes Interesse, mag des einen Weisheit in diesem Kampfe sein, Ataraxie die des andern; aber was nun eigentlich das Ich, die Wurzel unseres Seins, unsere Eigenheit sei – wie weit sie reiche oder nicht reiche, wie weit wir nachgiebig sein dürfen, wie weit nicht, wie weit wir uns hinreißen lassen sollen, wie weit nicht: das bleibt Mysterium! Und indem Stirner nur ein solches, nicht aber, wie er noch mit der gesamten neueren Philosophie annimmt: die bekannteste Sache von der Welt zum Eck- und Grundstein seiner Weltanschauung gemacht hat, ist auch er aus dem Bannkreis und Zauberring dieser selben Philosophie nicht herausgetreten, hat er uns im Subjektiven nicht das Reale, und so auch nicht, indem er einfach an „uns“, „unsere Natur“ appelliert, unser einzig mögliches reales Verhalten aufzeigen können.

[239] Weil ihm aber unbewußt diese letzte Erkennbarkeit unserer Natur immer vorgeschwebt hat, weil er ihr als dem Wandelbar-Ewigen die beinahe wichtigste Rolle in seinem Kampf gegen die erstarrten, ethischen „Wahrheiten“ eingeräumt hat: darum nun hat man an Stirner gestraft, was eigentlich die neuere Philosophie seit Descartes „verschuldet“, hat man ihn entgelten lassen, was eigentlich schon die Berkeley und alle bis auf Fichte „verwirkt“ haben. Wie lange noch wird die Philosophie glauben: im Ich, im Innenbewußtsein, da habe sie was Rechtes, was Erkennbares, da ergreife sie die Realität schlechthin, die ihr niemand wegdisputieren könne! Gewiß, daß ich bin, das kann mir niemand wegdisputieren – aber damit hat es auch sein Ende; was er ist, das weiß niemand von sich aus zu sagen, das bleibt so Geheimnis wie nur das Innere eines Felsens, einer Wolke. Ich erlebe mich selbst nicht tiefer, innerlicher, als ich den Felsen, die Wolke erlebe; „Erlebnis“ bleibt freilich beides, aber daß ich hinzusetze: Erlebnis Meiner, das fügt gleichzeitig meiner Erkenntnis keinen Pfifferling hinzu. Da aber soll ich Sonne und Zentrum des Welterlebens sein, soll Mittelpunkt von allem sein. Die Erlebnisse geben sich indes keineswegs so „mit“ mir, einschließlich meiner Existenz als Sonne des Erlebens! Deswegen ist es besser, ich lasse diese gekünstelte, reflektierte Seite des Erlebens an ihnen selber weg, denn eine höhere Erkenntnis ihrer erlange ich dadurch doch nicht, und so, unabweislich, instinktiv, wie sie auftreten, sind sie immer noch glaubwürdiger, als in „Abhängigkeit von mir“! Statt dessen heißt es denn: das Subjekt schafft erst die Dinge, indem [240] es sie denkt; unabhängig vom denkenden Subjekte existieren sie nicht usw. usw. Ein schönes Schaffen – eine Vogel-Strauß-Weisheit: wenn der Strauß seinen Kopf unter die Flügel steckt, ist der Feind verschwunden! Was weiß ich denn von diesem Schaffen? Wie wenn jemand ein Weib beschläft, dann aber von sich sagt, er habe einen Menschen geschaffen. Sind es wirklich meine Gedanken, die ich denke? Schon Lichtenberg sagte, man solle entsprechend sagen, wie „es blitzt“, „es donnert“: „es denkt“. Ich brauche freilich mein Auge nicht auf diesen oder jenen bestimmten Fleck zu richten und sehe ihn dann auch nicht; wenn ich es aber hinwende: wieviel bin dann eigentlich ich noch der Sehende, oder ist „mein Auge“ das sehende!? Hieraus erhellt denn zugleich, inwiefern ich auch nach Stirner „Herr des Denkens“ oder „Schöpfer der Wahrheiten“ genannt werden kann: man ist es, wie man gerade Stirner entgegenhalten darf, lediglich in einem sehr gekünstelten, sehr unnatürlichen Zustande der Reflexion, bei welchem man im Gegenteil oft bemerken kann, wie wenig man eben unter Umständen „Herr“ seiner eigenen Gedanken zu werden vermag, oder aus der Verwunderung, selbst der Denker gewisser Dinge zu sein, manchmal gar nicht herauskommt.

Da aber war Berkeley aufgetreten und hatte gesagt, die Materie existiert nur in meinem Geiste, und Fichte verkündete, nur das Ich setzt zugleich auch das Nicht-Ich; und alle priesen ihre Konsequenz (zwar bei Berkeley fand man sie anfangs doch ein bißchen absurd), aber niemandem fiel es ein zu sagen, daß das doch eigentlich eine – ganz gefährliche Konsequenz sei. Es [241] waren Theoretiker, und vor allem – herrliche Glaubensmenschen, und niemand wäre es in den Sinn gekommen, sie als Ketzer zu verdächtigen. Es blieb alles so hübsch theoretisch, schmeichelte auch dem subjektiven Empfinden so gewaltig. Ich – Schöpfer der Welt, welch ein Bewußtsein! Da aber kam Stirner und zog zum ersten Male auch die durchaus noch zugehörigen praktischen Konsequenzen, vor denen noch jeder schaudernd zurückgebebt war (ja, Fichte konnte sich in seiner Ethik gar nicht genug tun mit Ehrenbezeugungen vor der von ihm selbst erschaffenen Realität!), und endlich gingen der Welt die Augen auf. Er will die Moral angreifen, die Fundamente der sittlichen Weltordnung untergraben – steinigt ihn! Er war aber nur ein echtes Kind der neueren Philosophie und hatte nichts getan, als was man vor ihm, wäre man nur so ehrlich wie Stirner gewesen, auch schon hätte tun können. Was wollten sie eigentlich? Ist die Welt nur meine Vorstellung, dann ist es das Gute, das Wahre, die Tugend, die Sittlichkeit, das Recht, die Pflicht, die Loyalität, die Sünde, der Schmutz, das Laster auch: es sind alles meine Vorstellungen! Erlaubt schon, daß ich mit ihnen verfahre, wie es mir gefällt! Mit ihnen – meinen subjektiven Schöpfungen!

Und dazu kam nun noch seine Skepsis hinsichtlich der Worte, in welcher Stirner ebenfalls Vorgänger hatte; und wir heute wissen am besten, daß das keine frivole, leichtfertige Skepsis ist, sondern daß es gar gewichtige und schwerwiegende Gründe sind, die zu einer Erneuerung auch in unseren Tagen wieder geführt haben. Was sind denn Vorstellungen? Vor- [242] stellen kann man nur in Begriffen, Worten; Worte aber sind Sammelbezeichnungen für etwas Gemeinsames, das nicht wie ein wirkliches Ich sich benehmen kann, das keinen Leib hat, nichts Persönliches ist. Also Berechtigung für mich, sie auszulösen, zu zeigen, daß nichts Wirkliches (Eigenes, Persönliches – Macht) hinter ihnen steckt, zu zeigen, daß in der Tat nur ein Spuk von je uns genarrt hat! Ist der „Staat“ etwas anderes als ein Begriff? Die Vielheit vollständiger Einzel-Iche aber kann ein Begriff, z. B. „Volk“, niemals ausdrücken, wiewohl er es glauben machen will; denn diese eben würden der Zusammenfassung unter einen Begriff widerstrebt haben; jedes Ich ist total verschieden vom andern, wie will man einen Hut für alle finden? Konsequenz: das „Volk“ ist kein Ich, hat kein Ich, existiert nicht! Recht, Gesetz, Liebe – wohin man blickt, lauter Unpersönliches. Wer ist es denn nun aber gewesen, der sich zum Anwalt aller dieser Begriffe hergegeben, der ihnen Körper, Fleisch und Blut einmal verliehen hat, ohne welches sie doch überhaupt machtlos geblieben wären? Es sind offenbar die einzelnen gewesen, die ihrerseits einmal ein Interesse daran gehabt, welche die Macht und die Kraft ihres Arms in diese Gebilde hineingelegt hatten – offenbar zu ihrem persönlichen Nutzen! Nun denn, ich nehme mich ihrer ebenfalls an, sagt Stirner, und tu’ es ebenfalls, soweit dies mein Nutzen: ich sage „mein“ Recht, „mein“ Gesetz, „meine“ Liebe usw. usw. Mögen es alle bedenken; nur das Ich ist Schöpfer und vermag es zu bleiben, Begriffe vermögen nichts wider es.



Was tut aber Stirner damit? Er macht nur [243] einen großen geschichtlichen Prozeß wieder rückläufig und zeigt, wie Begriffe im Bewußtsein der Menschen Macht erlangt haben: auch hier war es aber darum zu viel behauptet, sie seien „nichts“, und das Allgemeine sei eben darum gar nicht, weil es nicht ein individuelles Ich, ein persönliches Wesen sei. Wiederum Fichteanismus in letzter Konsequenz! Wie aber Stirner selbst zu Eingang seines Werkes von „den“ Lebensaltern spricht, die doch nur als Lebensalter des A oder B oder C verstanden werden können, mithin auch alle so verschieden, wie die total verschiedenen Iche von A und B und C, verlaufen müßten – wenn es nicht eben doch etwas allen Gemeinsames gäbe: so natürlich mit allen vom Individuellen losgelösten Begriffen. Natürlich haben wir in „Staat“ und „Recht“ usw. überall von der Individualität der einzelnen schon abgelöste Willensäußerungen, ursprüngliche Ichbetätigungen, in diesem Fall näher wohl Kompromisse vor uns, so ähnliche etwa, wie sie dann Stirner selbst von neuem bei seinen – Vereinen im Auge hat (vgl. oben). Ganz gewiß auch, daß die tausendjährige Geschichte in jenen selbstverständlich alles schon viel mehr versteint und unpersönlicher gemacht hat, die ehemalige Absicht der „Wohlfahrt Aller“ undurchdringlicher überdeckt hat! Darum kann natürlich nicht von Irrtum oder Lüge, am wenigsten aber von einem „Nichts“ so ohne weiteres gesprochen werden, weil selbst mit der genauesten Ableitung unserer Begriffe nicht das Geringste über ihr Wahr- oder Falschsein ausgemacht wird. Das einzige, was wir vielleicht daraus lernen können und was uns gerade auch Stirner noch schließlich im richtigsten Lichte zeigt, [244] ist: ihn gleichsam in den Evolutionsprozeß der Begriffe mitaufzunehmen und sie so gewissermaßen von sich selbst aus zu anderem Inhalt und neuer Wahrheit kommen zu lassen. Darum nämlich ist gerade die Stimme des Predigers, der gleichsam zu neuen, noch einmal ursprünglich-werdenden Bündnissen aufruft und zunächst für sich die Unbotmäßigkeit des Individuums in Anspruch nimmt, man möchte sagen von Zeit zu Zeit so unvermeidlich: weil eben tatsächlich die Zeiten kommen, wo das Individuelle selbst solche Wandlungen erfahren hat, daß die Decke, die es ehemals deckte, an allen Ecken zu klein und zu kurz geworden ist! – Eine natürlichere Auffassung des „Allgemeinen“ hat sich denn auch bei Stirner selbst später eingefunden; in der Antwort auf Kuno Fischers Rezension, Kleinere Schriften S. 182, heißt es (1847): „Ist etwa gesagt, daß Stirner“ (er spricht von sich hier in der dritten Person) „mit seinem ‘Egoismus’ alles Allgemeine negieren, als nicht vorhanden hinstellen, alle Eigenschaften unsrer Organisation, der sich also kein einzelner entziehen kann, durch bloßes Wegleugnen hinwegräumen will? Daß er alle Gemeinschaft mit Menschen aufgeben, selbstmörderisch sich in sich verpuppen will? – Es wäre ein plumpes Mißverständnis.“

Wenn wir uns aber auch auf der äußersten Spitze und den eisigsten Gipfeln der naturalistischen Philosophie nicht zu halten vermochten, lediglich deshalb, weil es nun einmal nicht gelingt, auf eine einzelne Basis – und sei sie auch die proteischste – Alles zu stellen: so soll nun zum Schluß auf das unsterbliche Verdienst und die seit Lessings Tagen folgenreichste [245] ethische Tat hingewiesen werden, die auf diesem Wege lag und von Stirner selbst auch in aller Deutlichkeit als Aufgabe schon erkannt wurde. Nach Lessings und Reimarus’ Toleranzethik gab es in der Moral nur noch eine große Tat zu vollführen: dahin zu wirken, daß nicht mehr bloß „toleriert“ werde! Daß nicht bloße „Duldung“, die dem Ich noch immer wie ein fremder Kleiderfetzen anhängt, unser sittliches Urteil bestimme, sondern daß wir so vollständig Individuelle ( Ungeteilte) werden, so absolut mit dem Bewußtsein, nicht Richter zu sein über das Tun des Nächsten, verwachsen, daß wirklich nur noch die Sorge für die Vollendung der eigenen Ichheit übrigbleibt! Indem Stirner an die Begriffe selbst Hand anlegte, indem er auf die menschliche Schöpferbrust wies, dahin auch sie, die großen allegorischen Figuren, die längst wieder zum Range von Göttern und Göttinnen aufgestiegen waren, gehörten – legte er noch einmal ein Macht- und ein Kraftbewußtsein in die Seele des Adamiten, wie er es seit Jahrtausenden nicht gefühlt hatte und wie es ihm soeben schon unter dem erdrückenden Sündenbewußtsein christlicher Kultur völlig zu schwinden drohte! Seit Stirners Tagen erholen wir uns sichtlich; denn es braucht nicht immer oben am Tage zu liegen, was uns in der Wurzel kräftigt und erhebt. Stirner hatte doch recht gehabt: Wir waren allesamt Anbetende geworden, wir hatten uns erniedrigt und gedemütigt vor Begriffen, Zoll und Tribut jahrtausendelang geheiligten Götzen entrichtet! Nahm ein Christ das Wort „Liebe“ in den Mund, so erstarb er vor heiligen Schauern, und sprach er von Gerechtigkeit und Vergeltung und Erbsünde, so verdrehte sich [246] sein Auge in frommer Entzückung, auch wenn er nichts davon verstand und nichts davon begriff. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß Stirner nicht überall den geschichtlichen Werdeprozeß in seiner Notwendigkeit erkannt und daß er allzu rationalistisch mit den Deisten des 17. und 18. Jahrhunderts als Lüge und Heuchelei gebrandmarkt hat, was im Grunde nicht jüdische, nicht christliche oder buddhistische Religion, sondern das Ewig-Unbegreifliche und -Unzugängliche in uns als Heiligkeit an den Stand der Sitte getrieben hat. Aber wenn, wie er klagt, dieses Heilige nun bald den Rand der Welt erfüllte? Wenn für das Individuum bald nichts Profanes zum Abgrasen mehr übriggeblieben, wenn es in den Abgrund gestürzt zu werden drohte von dem durch Geschichte Geheiligten – war er nicht berechtigt, da das „Göttliche“ seinem Zweck jedenfalls nicht mehr diente, dem nur noch durch Alter Heiligen den Glorienschein abzureißen? Ja, wenn er unschädlich wäre, dieser Schein; wenn er sich begnügte, zu strahlen und zu funkeln nur! Aber der Glorienschein zeigt den Gott an und – mich, das fluchbeladene Geschöpf der Sünde, drückt er in den Staub. Mir nimmt er die Macht, zu handeln, mit Argusaugen überwacht er mich und macht aus mir, dem Lebensdurstigen, einen Todesfürchtigen, einen – Sehnsüchtigen!

Von dem Stoß, mit dem Stirner eine tausendjährige in Heiligkeit erstarrte, mit Blut und Tränen beladene christliche Moral getroffen hat, wird sich diese nie wieder erholen. Mögen sie jetzt flicken und ausbessern an einzelnen Sätzen und Sätzchen – ihre Heiligkeit ist für ewig dahin. Ihre Heiligkeit aber [247] galt es anzutasten, galt zu zeigen, daß nur im Menschen Anerkennung und Verachtung, Heiligsprechung und Unterwerfung ruhen, daß kein äußeres Soll das Individuum zwingen und daß es keine für alle Individuen gültige Satzung geben könne, um den Zauberkreis der Christlichkeit, der Gefangengebung unter ein Ewiges, für alle Zeiten zu durchbrechen. Nichts soll hier noch einmal gesagt sein über das Positive der neuen Moral bei Stirner: wer tiefer blickt, wird ein neues Ideal des „weisesten Menschen“ aufgestellt finden. Aber wenn dieses Positive selbst fehlte: es wäre gleichgültig im Verhältnis zu der einzigen Tat, durch welche die so lange für unfehlbar geltende, „unantastbare“, „heilige“ Moral aus ihrer gefährlichen Selbstzufriedenheit aufgerüttelt, ihrem „dogmatischen Schlummer“ für alle Zeiten ein Ende bereitet wurde! Und darum ist Stirner wie ein kräftiger Sturmwind, wie ein reinigendes Gewitter über die Menschheit gekommen; der Himmel verfinsterte sich wohl einen Augenblick – aber nur, um den Horizont weiter, lichter, unendlicher aufzureißen. Und riesige Zypressenhaine am Rande der Welt hat es weggefegt, den Blick ins Ungemessene dehnend. Die Fixheit, die Besessenheit hat es weggefegt und jegliche Sanktion der Sündigsprechung des Menschen durch den Menschen in ihr Nichts aufgelöst.

1   ...   12   13   14   15   16   17   18   19   20


Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©atelim.com 2016
rəhbərliyinə müraciət