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Hinweis: Sacer Sanguis II ist Teil einer Trilogie. Der Autor empfiehlt die Bücher in folgender Reihenfolge zu lesen


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„Los, weg hier!“, rief der Ägypter seinen Männern zu und zerrte Chess am Arm hinter sich her. Chess versuchte die aufkommende Leere mit einer Erinnerung an das Lächeln ihres Bruders zu füllen, das sie so an ihm mochte. Ihre Emotionen schienen sie bereits zu überwältigen, als ihre Gedanken mit einem Mal klar wurden. Ihr eigener Überlebenswille hatte begonnen, sie dazu zu zwingen, sich nicht länger der vermeintlichen Ausweglosigkeit der Situation auszuliefern. Die Trauer um ihren Bruder wich der Realität ihres eigenen Schicksals.

Das Feuer in der Halle griff schnell auf die Holzkisten über und binnen kurzer Zeit würde die ganze Halle in Flammen stehen. Chess sah ihre einzige Chance darin, zu ihrem Wagen zu gelangen.

„Du fährst ihren Wagen“, wies der Ägypter einen seiner Männer an, als sie die Halle verließen. Er forderte Chess auf, ihm den Schlüssel zu geben. „Der alte Rover bringt uns sicher noch ein paar tausend Dollar extra.“ Geistesgegenwärtig deutete Chess in die Flammen. „Ali hatte den Schlüssel.“

Die drei anderen Männer hatten bereits den ersten Wagen bestiegen und warteten im Fahrzeug. Der Ägypter befahl dem letzten verbliebenen Mann zurück in die Halle zu gehen und den Schlüssel zu bringen. Dieser schüttelte sichtlich irritiert den Kopf. „Geh!“, schrie ihn der Ägypter an. Der Mann zögerte immer noch. Der Ägypter zog seine Waffe und zielte auf seinen Kopf. „Ich werde mich nicht wiederholen.“ Widerwillig drehte er sich um und lief zurück, um von der Leiche den Schlüssel zu holen.

„Heute noch!“, rief er ihm nach. „Wenn die Flammen den Schlüssel zerstören, zieh ich dir den Wagen von deinem Anteil ab.“ Er wusste, dass keine Zeit mehr war, den Wagen, der neben den tropfenden Blechfässern parkte, ohne Schlüssel schnell genug von der Halle wegzubringen.

Die Männer konnten nicht ahnen, wie viel Geld der Wagen von Chess bringen würde. Der Rover stammte aus dem Besitz eines hohen jordanischen Regierungsbeamten. Der Ägypter drehte sich zur Halle, um zu sehen, wo sein Mann mit dem Schlüssel blieb. Chess nutzte diesen Moment der Unaufmerksamkeit und schlug dem Ägypter mit voller Kraft den Ellenbogen in den Rücken. Sie griff in die Hosentasche, wo sie die Fernbedienung des Wagens ertastete und drückte auf den Knopf. Die schweren hydraulischen Türen des Rovers öffneten sich blitzschnell von selbst, während der Motor startete. Mit einem beherzten Sprung hechtete Chess in ihr Fahrzeug und drückte die Paniktaste, mit der sich die Türen sofort wieder verriegelten.

Der Ägypter stand auf und klopfte sich den Staub von seinem Anzug, während einer der Männer aus dem Auto ihm zu Hilfe eilte. Chess kletterte hinter das Lenkrad und stellte den Gangwahlhebel auf D. „Steigen Sie aus - sofort!“, schrie der Mann neben dem Ägypter und richtete seine Kalaschnikow auf Chess. Jetzt wird sich zeigen, ob der Wagen sein Geld wert ist, dachte Chess und drückte das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf und aus den Radkästen prasselten Steine und Geröll auf die Mauer der Halle, ehe sich der Rover langsam in Bewegung setzte. „Stoppt sie!“, schrie der Ägypter zu den wartenden Männern im Auto und begab sich selbst hinter das Steuer des Wagens.

Die Männer stellten sich mit vorgehaltenen Waffen Chess’ Rover in den Weg, der langsam an Fahrt gewann. „Wenn ihr es so haben wollt!“, brüllte Chess und hielt auf die Männer zu. Einer der Männer begann, auf den Wagen zu feuern. Chess sah die Kugeln auf sich zukommen, die wie schwerer Hagel auf die gepanzerte Scheibe prasselten. Zwei der Männer sprangen zunächst noch zur Seite, während der Körper des dritten mit einem dumpfen Schlag auf die Motorhaube des Rovers geschleudert wurde.

Chess hätte diesen Vorteil nutzen können, um sich in Sicherheit zu bringen, aber sie wollte die Mörder ihres Bruders nicht ungeschoren davonkommen lassen. Nur von Hass getrieben trat sie mit beiden Beinen auf die Bremse und legte den Rückwärtsgang ein, um gleich darauf wieder das Gaspedal durchzutreten. Der leblose Körper rutschte von ihrer Motorhaube und verschmierte dabei großflächig das Blut, das bereits ausgetreten war. Chess spürte, wie die Räder des tonnenschweren Fahrzeugs gegen etwas Festes fuhren, um es gleich darauf zu erfassen und unter sich zu zerquetschen. Die Stille der Wüste wurde abgelöst von einer bizarren Sonate aus Motorengeheul, Schüssen und dem Schreien verstümmelter Körper.

Während Chess noch einmal über die am Boden liegenden Überreste der Peiniger fuhr, steuerte der Ägypter seinen Jeep mit hoher Geschwindigkeit in die Seite des Rovers. Mit einem lauten Krachen traf er die Fahrertür und versetzte Chess’ Wagen um einen guten Meter zur Seite. Der Wagen des Ägypters hatte dabei so großen Schaden genommen, dass der Vorbau keine fahrzeugähnliche Struktur mehr erkennen ließ. Der Ägypter lag regungslos hinter dem Lenkrad und seine Haare färbten sich rot. Chess setzte den Wagen zurück Richtung Halle, um Schwung zu holen.

Als sie kurz vor der Halle abbremste, um den Vorwärtsgang einzulegen, sah sie im Rückspiegel einen Mann aus der Halle kommen, die sich in eine Flammenhölle verwandelt hatte.

Sein rechter Oberkörper war schwer verbrannt. Nur unter großen Schmerzen war es ihm möglich, seine Kalaschnikow auf den Rover zu richten. Mit einem lauten markerschütternden Schrei feuerte er sein Magazin gegen den Wagen, an dem die Kugeln so leicht abprallten, als hätten sie Kinder mit der Hand darauf geworfen.

Chess sah den Mann mit einem leeren Blick an und verspürte für einen kurzen Moment so etwas wie Mitleid mit dem armen Teufel, dessen rechter Arm nur noch wie ein Stück verbranntes Fleisch an seiner Schulter baumelte. In diesem Augenblick musste ein Querschläger eines der Ölfässer getroffen haben. Wie in Zeitlupe erlebte Chess den Feuerball, der seinen Körper erfasste und ihm zunächst nur den verkohlten Arm abriss. Den Bruchteil einer Sekunde später wurde der restliche Körper von der vollen Wucht der Druckwelle erreicht, der auch der fast fünf Tonnen schwere Rover nur wenig entgegenzusetzen hatte. Die Wucht der Explosion schleuderte den Wagen in die Luft. Eine Wolke aus Staub und Rauch nahm Chess die Sicht. Einige Meter weiter fiel der Wagen wie ein Stein laut krachend zu Boden und ließ das umliegende Erdreich in hohem Bogen wegfliegen.

Als Chess das Bewusstsein wiedererlangte, spürte sie, wie warm ihre Hand sich anfühlte. Ein Riss in ihrer Schulter ließ das Blut über ihren Arm auf ihre Finger rinnen. Sie war beim Aufprall offensichtlich schwer mit dem Fensterrahmen kollidiert. Chess suchte nach dem Verbandskasten unter ihrem Sitz, während sie von ihrem Körper zunehmend Rückmeldungen darüber erhielt, wo dieser noch benötigt wurde. Ich denke, die Schnittwunde werde ich auch ohne Arzt überleben, wenn die Blutung erst gestillt ist. Der Rest sind ohnehin nur Kratzer und blaue Flecken.

Nachdem sie die gröbsten Wunden versorgt hatte, versuchte sie sich einen Überblick über die Situation außerhalb ihrer Festung zu verschaffen. Die Scheiben waren stark verschmutzt und schwer beschädigt, sodass es kaum möglich war, etwas zu erkennen. Es war aber ruhig genug, um den Ausstieg zu wagen. Keiner der Fensterhebermotoren war noch in der Lage, die völlig zersprungenen, aber noch immer haltenden Scheiben zu bewegen. Chess versuchte, ihre Tür zu öffnen, die extrem nach außen gewölbt war. Die Türverriegelung machte zwar ein Geräusch, aber keine Anstalten, das Schloss freizugeben. Auch bei den anderen Türen hatte sie kein Glück. Sie griff zum Hörer des Satellitentelefons und legte ihn kurz darauf enttäuscht zurück. Das Display an der Unterseite des Hörers war zerbrochen und einige Kabel hingen heraus. Damit kann ich keine Hilfe mehr holen.

Chess war sich sicher, dass außer ihr niemand überlebt haben konnte bei einer Explosion, die in der Lage war, den Rover so zuzurichten. Der Vorbesitzer des Wagens hatte ihn mit einer B7-Panzerung bestellt, die selbst den Beschuss mit einzelnen Granaten überstehen konnte. Chess erinnerte sich an die abschließenden Worte des Vorbesitzers, als er ihr den Wagen übergab. „Wenn das Fahrzeug einmal so zerstört ist, dass Sie es nicht mehr über die regulären Ausstiege verlassen können, dann bleibt Ihnen nur noch eins zu tun.“ Chess erinnerte sich auch an den roten Schalter in der Mittelkonsole, den ihr der Mann damals gezeigt hatte. „Ich hoffe, Sie werden ihn nie brauchen.“

Sie öffnete die Mittelkonsole und blickte auf die zwei Knöpfe, der rechte betätigte den Feuerlöscher unter dem Rover. Kann nicht schaden, fand sie und hörte für einige Sekunden das Gas unter dem Fahrzeugboden ausströmen. Und jetzt raus hier. Ihre blutverschmierte Hand drückte den roten Knopf. Sie presste die Augenlider zusammen und wartete - nichts. „Verdammt!“, fluchte sie. Da hörte sie ein Piepsen, das immer schneller wurde, an den Türen begannen rote Lämpchen im Takt des Piepsens ebenfalls immer schneller zu blinken.

Sie begab sich sofort in die Mitte des Wagens, um möglichst weit von allen Türen entfernt zu sein. In diesem Moment sprengten mehrere gezielte Explosionen fast gleichzeitig die Türen aus dem Rover.

Chess stieg aus dem Wagen und glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Der verkohlte Haufen Schrott, aus dem sie geklettert war, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit ihrem geliebten Auto.

Vorsichtig begann sie die Umgebung abzusuchen. Vereinzelt brannten noch kleinere Stücke, die die Explosion in großem Bogen verteilt hatte. Das Blechdach der Halle war eingestürzt und ein erheblicher Teil der Wand, vor der die Fässer gestanden hatten, war nicht mehr da. Sie beschloss später mit Hilfe wiederzukommen, um die Überreste ihres Bruders zu bergen.

In den Trümmern vor der Lagerhalle entdeckte sie zahlreiche verbrannte menschliche Gliedmaßen, deren Gestank sich mit dem beißenden Brandgeruch mischte, der in der Luft lag. Sie fand eine Pistole, die offenbar noch funktionsfähig war und steckte sie ein. Einer der Geländewagen war komplett ausgebrannt und nur dort, wo einmal das Armaturenbrett gewesen sein musste, dampfte es noch ein wenig.

Chess ging zum Wrack des zweiten Wagens, den sie hatte rammen wollen, bevor die Explosion sie erfasst hatte. Er war nur knapp außerhalb der Reichweite der Explosion geblieben. Seine Frontscheibe war zwar noch in einem Stück, aber überzogen von kleineren Einschlägen brennender Teile, die darauf herunter geregnet waren. Chess öffnete mit der Waffe in der Hand die Tür und erschrak. Das Fahrzeug war leer. Auf dem Beifahrersitz lag ein geöffneter Verbandskasten. Dort, wo offensichtlich einmal das Funkgerät gewesen war, standen abgerissene Drähte aus einem Loch. Auf dem Lenkrad und dem Armaturenbrett trocknete Blut, doch von dem Ägypter fehlte jede Spur. Chess sah sich im Fahrzeug genauer um und fand unter dem Sitz einige lose Blätter. Bei näherer Betrachtung war sie sich sicher, Seiten des schwarzen Buchs gefunden zu haben. Sie mussten wohl herausgefallen sein, bevor der Ägypter sich mit dem Buch und ihrem Geld aus dem Staub gemacht hatte.

Chess blickte sich besorgt um. Irgendwo da draußen in der Wüste war der Mörder ihres Bruders. Dem Blut im Fahrzeug nach zu urteilen war er verletzt, doch offensichtlich noch kräftig genug, um in die Wüste laufen zu können.

Wie lange war sie wohl ohnmächtig gewesen, und wie viel Vorsprung würde er haben? Sie konnte die Zeit nur grob einschätzen und vermutete, dass er an die 20 Minuten vor ihr losgegangen sein musste. Aber sie wusste nicht in welche Richtung. Wie sollte sie ihn finden, und was, wenn sie ihn gefunden hatte?

Chess fühlte, wie die Trauer um ihren Bruder wieder stärker wurde, als die Last der Anspannung von ihr abfiel. Einsamkeit bemächtigte sich ihrer Gedanken. Eine Träne rollte langsam über ihre Wange. Chess setzte sich in den Sand und begann zu weinen.
***
Amman, die Hauptstadt Jordaniens, bot ihren Touristen optisch nicht viel. Bei Nacht waren die Bausünden der Stadt mit ihrer mehr als einer Million Einwohnern ein weit besserer Anblick als bei Tag. Die dicht gedrängten Plattenbauten ließen sich auch nicht durch die großzügigen Parks entschuldigen, die man um die wenigen prunkvollen Hotels angelegt hatte. Kaum jemand konnte sich leisten, auch für westliche Augen ansehnliche Häuser in wenig bebauter Grünlage aufstellen zu lassen.

In der großen Villa eines Regierungsbeamten klingelte das Telefon. „Es ist dein Büro, Schatz“, informierte eine Frauenstimme beim Blick auf die Nummer auf dem Display. Die Frau hielt ihrem Gatten den Hörer entgegen.

„Hallo“, meldete sich dieser und lauschte der Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

„Es geht um die Satellitenregistrierung Ihres alten Wagens“, erklärte die Stimme.

„Was ist damit?“, fragte der Mann verwundert.

„Wir haben ein Signal“, setzte die Stimme die Erklärung fort. „Der GPS-Sender wurde vor etwa zehn Minuten aktiviert. Unserer Anzeige zufolge ist es ein automatisches Signal, das vom System gestartet wurde, nachdem jemand die Türen herausgesprengt hat. Das Fahrzeug befindet sich fernab jeder Zivilisation mitten in der Wüste. Wir haben selbstverständlich sofort versucht, Kontakt mit dem Fahrer herzustellen, aber das Satellitentelefon scheint nicht aktiv zu sein.“

„Chess!“, rief der Mann.

„Chess?“, fragte die Stimme verwundert.

„Das erkläre ich Ihnen später. Schicken Sie sofort eines unserer Bergungsteams. Sie sollen nach einer westlich aussehenden, etwa 35-jährigen Frau suchen, sie ist wahrscheinlich in Begleitung ihres jüngeren Bruders, beide sind Palästinenser.“

Seine Frau bemerkte die Besorgnis in seiner Stimme.

„Halten Sie mich auf dem Laufenden, was die Suche betrifft.“

„Chess?“, fragte seine Frau, als er den Hörer aufgelegt hatte und erinnerte sich, den Namen schon gehört zu haben.

„Unser Nachrichtendienst hat ein automatisches Notsignal von meinem alten Rover aufgefangen. Das Fahrzeug ist noch immer bei uns in der Datenbank registriert, und weil sie im Auto niemanden erreichen konnten, haben sie hier angerufen.“

„Du meinst den Wagen, den diese nette, gut aussehende Archäologin gekauft hat?“

„Ja Schatz, genau diese Archäologin steckt scheinbar in großen Schwierigkeiten.“

Seine Frau erinnerte sich an die freundliche junge Dame und ihren Bruder, die sie scherzend mit Indiana Jones verglichen hatte. Sie hatten sich einige Male getroffen, ehe Chess sich dann doch entschieden hatte, den ehemaligen Dienstwagen ihres Mannes zu kaufen.


***
Chess stand auf und trug die Dinge zusammen, die ihr noch nützlich schienen. Sie holte eine mit Wasser gefüllte Flasche aus den Überresten des Rovers sowie etwas Dosenbrot, wie man es bei der Armee gern servierte. Aus dem Teil, der einmal das bullige Heck des Rovers gewesen war, nahm sie ein Schweizer Armeemesser, eine kleine Taschenlampe, einen Kompass und eine Leuchtpistole mit drei Patronen an sich.

Chess sah, wie die letzten schwachen Sonnenstrahlen am Horizont verblassten. Ihre einzige Chance war, die Wüste während der Nacht zu durchqueren, um möglichst wenig Flüssigkeit durch Schwitzen zu verlieren. Sie richtete ihren Blick auf den Kompass in ihrer Hand und machte sich auf den langen Weg Richtung Norden.

Sie orientierte sich zunächst an der Straße, auf der sie mit dem Rover gekommen waren. Die Sterne am abendlichen Wüstenhimmel boten gerade genügend Licht, um den Straßenverlauf auszuleuchten. Chess war klar, dass die Straße nicht den kürzesten Weg zurück bedeutete. Eine mehrere Kilometer lange, stufenförmige Felsformation zwang die Straße, ihrem scharf begrenzten Rand zu folgen. Unmittelbar neben der Fahrbahn ging es steil bergab.

Beim Herfahren hatte sie mehrmals über den etwa 20 Meter tiefen Abgrund auf die darunter liegende Straße geblickt. Er zwang Fahrzeuge dazu, diese Laune der Natur großräumig zu umfahren. Das spart mir sicher zehn Kilometer, überlegte sich Chess, als sie mit der Taschenlampe die Steilwand hinunter leuchtete. Nur ganz schwach zeichnete der Lichtkegel in der Tiefe des Abgrunds noch Umrisse herumliegender Steinbrocken ab. Sie suchte im Licht der Taschenlampe eine Stelle in der Steilwand, die ausreichend strukturiert war, um hinunterklettern zu können. Geduldig schritt sie Meter für Meter ab.

Sie entdeckte eine Stelle, die ihr für einen Abstieg geeignet erschien. Chess trat mit dem Absatz ihres Stiefels vorsichtig gegen einen Steinbrocken, der aus der Steilwand ragte. Als er sich nicht bewegte, trat sie fester darauf ein, um sicherzustellen, dass er ihr Gewicht tragen würde. Der Steinbrocken steckte in der Wand und rührte sich nicht. Vorsichtig begann sie in die felsige Wand einzusteigen. Unter ihren Füßen bröckelten zahlreiche kleinere Steine weg und fielen in die Tiefe. Chess testete mehrfach jeden Tritt, ehe sie ihr ganzes Gewicht darauf verlagerte. Sie hatte die Taschenlampe zwischen ihre Zähne geklemmt, um sich die möglichen Griffe besser ausleuchten zu können. Doch der helle Schein der Lampe unmittelbar vor ihrem Gesicht blendete sie und erschwerte den Abstieg zusätzlich.

Bei nahezu jedem Tritt vernahm sie das Geräusch von fallendem Geröll, das unter ihr in der Dunkelheit verschwand. Es war nicht schwer, sich auszurechnen, wie ein Absturz aus dieser Höhe enden würde. Meter für Meter durchkletterte sie die Wand und musste feststellen, dass sich deren Zusammensetzung veränderte. Je weiter sie kam, desto weniger Halt fand sie im zunehmend glatter werdenden felsigen Untergrund. Von oben sah das aber nicht so weit aus. Die vermeintliche Abkürzung wollte kein Ende nehmen. Sie blickte hinauf zur Kante der Felswand, um mit Hilfe des Mondlichts die zurückgelegte Strecke einschätzen zu können.

„Verdammt“, stieß sie erschrocken aus, als ihr rechter Fuß plötzlich den Halt verlor. Ein großer Stein hatte sich unter ihrem Gewicht aus der Felswand gelöst und schlug mit lautem Krachen einige Meter unter ihr auf. Einzelne kleinere Steine fielen ihm weit weniger spektakulär hinterher. Chess hatte alle Mühe, die linke Hand fester um jenen Stein zu krallen, der in diesem Moment fast ihr gesamtes Gewicht tragen musste. Ihren Oberkörper hatte sie instinktiv gegen den Fels gepresst, um den Absturz der Taschenlampe zu verhindern.

Nur mit Mühe gelang es Chess, wieder festen Halt mit dem Fuß zu ertasten. Mit äußerster Vorsicht bemühte sie sich, ihre Lage zu stabilisieren, ohne dabei die Taschenlampe zu verlieren, die sie mit ihrer Brust an den Fels drückte.



Das war verdammt eng, dachte Chess, als sie wieder einigermaßen sicher in der Wand stand. „Jetzt noch die Lampe.“ Langsam senkte sie den Kopf, ohne dabei ihren Oberkörper zu weit von der Wand zu entfernen. Der Spalt, der sich zwischen ihrem Oberkörper und dem Fels auftat, bot kaum genug Platz für ihren Kopf. Komm schon. Sie streckte ihren Nacken, um mit ihren Zähnen näher an das Licht zu gelangen. Ihre Finger schmerzten bereits unter der stetigen Einwirkung des scharfkantigen Felsen. Trotz aller Bemühungen sah sie keine Möglichkeit mehr, die Lampe mit den Zähnen noch zu erreichen. Besser nur die Lampe als wir beide. Chess gab mit ihrem Oberkörper die Lampe frei und sah den Lichtschein im gleichen Moment etwa drei Meter in die Tiefe fallen.

Angenehm überrascht von der geringen Resthöhe rief Chess in die Nacht hinaus: „Besser kontrolliert springen als unkontrolliert fallen.“ Sie stieß sich von der Felswand ab und wagte einen kühnen Sprung. Wie ein Flugzeug, das sich im Landeanflug an den Positionsleuchten des Flughafens orientierte, visierte Chess den Schein der am Boden liegenden Taschenlampe an. Sanfter als erwartet landete sie knapp zwanzig Zentimeter neben der Lampe.

Chess klopfte sich erleichtert den Staub ab und bückte sich zu der Taschenlampe neben ihr. Ohne richtig hinzusehen, griff sie danach. Erst als sie diese nicht zu ertasten vermochte, blickte sie zur Seite. Chess erstarrte wie vom Blitz getroffen. Ihre Hand verharrte regungslos neben der Lampe im Staub, wo ein Skorpion sie mit seinem aufgestellten Hinterleib anvisierte. Es war ein sandgelber, etwa acht Zentimeter langer Skorpion, der seinen dünnen Schwanz über den schwarzen Rücken nach vorne gebeugt hatte. Mit seinen weit geöffneten Scheren und dem Stachel zielte er auf Chess’ Hand.

Sie starrte das Spinnentier an und versuchte jede Bewegung oder Erschütterung zu vermeiden. Auch das Tier rührte sich nicht und schien darauf zu warten, dass sie sich zuerst bewegen würde.

Sie verglich die Größe der Scheren mit der des Giftstachels. Jedes palästinensische Kind kannte den Spruch: „Mit kleinen Scheren, wird viel Gift er entleeren.“ Ihr war sofort klar, dass das Exemplar vor ihr mehr auf sein Gift als auf die Scheren vertraute. Sie erinnerte sich an ihren Bruder, als sie den Skorpion anstarrte.

Ali hatte früher Skorpione in Plastikdosen gehalten und seine Schwester wiederholt für sein ausgefallenes Hobby begeistern wollen. Er hatte vom Überlebenswillen und der Gefährlichkeit dieser Tiere geschwärmt, die auch den Kampf mit übermächtigen Gegnern nicht scheuten. Skorpione sind unsere Brüder, hatte er einmal zu Chess gesagt, sie kämpfen im Staub der Vorfahren gegen ihre übermächtigen Feinde. Wegen ihrer Stärke und Zähigkeit hat Allah ihnen dieses Heilige Land zugedacht. Wie sie müssen auch wir stark sein und uns seines Vertrauens würdig erweisen. Er hatte die Widerstandsfähigkeit der Skorpione mit dem Kampf der Palästinenser gegen die zionistischen Besatzer verglichen.

Chess, die oft Zeuge einer Skorpionfütterung war, kannte die Angriffstaktik des Skorpions genau. Er würde zuerst versuchen, seine Beute mit den Scheren zu packen, um dann sein Gift zu injizieren. Mit tödlicher Präzision traf der Stachel jedes Mal exakt in das von den Scheren umklammerte Ziel. Nur wenige Tiere waren in der Lage, den Stachel eines Skorpions rechtzeitig zu fassen und abzubeißen.

Völlig unvermittelt drehte sich der Skorpion mit einem Mal um. Chess zog sofort ihre Hand zurück und erkannte, wie der Skorpion mit seinen Scheren einen dicken schwarzen Käfer packte, der über den Sand lief. Nur einen Augenblick später knackte sein Panzer unter der Wucht, mit der ihm der Skorpion seinen Stachel hineinrammte.

Sie ergriff die Lampe und sprang auf. Besser er, als ich! Sie leuchtete mit der Taschenlampe den Weg aus. Chess musste knapp 100 Meter zurücklegen, um wieder auf die Straße zu gelangen.

Nachdem sie sich einen Schluck Wasser genehmigt hatte, setzte Chess ihren Weg Richtung Norden fort. Die breite, staubige Straße entfernte sich von der Felsformation und führte ins offene Gelände. Chess registrierte leichten Wind, der aus Nordost wehte. Die Nächte in der Wüste konnten unangenehm kühl werden, waren aber die bessere Alternative zu einer Durchquerung in der Gluthitze, die hier tagsüber herrschte.

Chess hatte errechnet, dass sie am frühen Vormittag die Siedlung erreichen müsste, durch die sie mit dem Rover gefahren waren. Auch wenn ihr eine kurze Rast gut getan hätte, so wollte sie angesichts der feindseligen Fauna dieser Wüste keine Minute länger bleiben als notwendig. Weit entfernt heulte einsam ein Wolf, der sie in ihrer Entscheidung bekräftigte.

Mit jedem quälenden Schritt wuchs ihr Hass auf den Ägypter. Ob er die Wüste überlebt, fragte sie sich, und dachte an die Skorpione, Wölfe und Hyänen, die diese Wüste bei Nacht bejagten. Mit seinen Verletzungen und der unpassenden Kleidung standen seine Chancen schlecht. Was aber, wenn er über Funk Hilfe angefordert hat?, schoss es ihr mit einem Mal durch den Kopf. Wenn er gar nicht so hilflos durch die Wüste irrte, wie sie dachte?

Während sie versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, nahm sie hinter sich ein weit entferntes Motorengeräusch wahr. Sie drehte sich um und sah einen Lichtpunkt, der rasch näher kam. Immer lauter wurde das Geräusch, das dem Straßenverlauf zu folgen schien. Chess erkannte einen Hubschrauber, der mit hellen Suchscheinwerfern die Straße ausleuchtete. Sie zögerte kurz, dann drehte sie die Taschenlampe ab und lief im rechten Winkel von der Straße weg.
***
Es war kurz vor 20:00 Uhr, als der Wachmann des Imperial College auf seinem Rundgang beim Portier vorbeikam. „Hallo Steve, heute bist du wirklich nicht zu beneiden.“ Der Wachmann sah durch die Glastür nach draußen, wo heftiger Regen auf den Steinboden prasselte. „Wir können gern tauschen!“, rief er in Richtung Portierloge, als er die schwere Glastür öffnete und ihm der Regen entgegenschlug. Steve war es gewohnt, dem britischen Regen ohne Schirm zu trotzen.

Routiniert begann er seine Abendrunde. Er prüfte jeden Zugang genau nach den Vorgaben des Dekanats. Auch der heftige Regen konnte seinen Zeitplan nicht gefährden.

„Wirklich ein Schweinewetter“, murmelte er, als er den nächsten Kontrollpunkt seiner Runde ansteuerte. Der 90 Meter hohe Queens Tower stand etwas abseits vom Hauptgebäude. Früher war der Queens Tower förmlich von Studenten und Besuchern gestürmt worden. Seine exponierte Lage ermöglichte einen einzigartigen Rundblick über London.

Mit der Ablösung des alten Dekans wurde das Betreten des Turms untersagt. Der Wachdienst musste seither auch den Turmeingang zweimal täglich kontrollieren. Begründet hatte man die Entscheidung mit der Baufälligkeit des Turms, dessen Inneres von einer in die Jahre gekommenen Holzkonstruktion getragen wurde.

Steve war seit über zwanzig Jahren als Wachmann auf dem Campus tätig. Die Begründung für die Schließung des Turms schien ihm nicht nachvollziehbar. Steve hatte viele Dekane kommen und gehen sehen und längst aufgehört, deren Entscheidungen zu hinterfragen.

„Das hat mir noch gefehlt“, brummte er, als der Dauerregen begann, die Imprägnierung seiner Dienstjacke zu durchdringen. Steve sah auf seine Armbanduhr „Noch zwanzig Minuten, bis ich wieder im Trockenen bin“, seufzte er.

Steve war so damit beschäftigt gewesen, sich über das Wetter zu ärgern, dass er die Gestalt vor dem Turm erst jetzt bemerkte. Noch war er zu weit entfernt und der Regen zu stark, um Details zu erkennen.

„Hier ist Steve vom Wachdienst!“, schrie er in Richtung Turm.

Er erhielt keine Antwort. Kein Wunder, dass mich bei dem Wetter keiner hört, dachte er und lief zum Turm. Etwas außer Atem keuchte er: „Hier ist der Wachdienst, bitte geben Sie sich zu erkennen.“

Der etwa zwei Meter große dunkelhäutige Mann mit Vollbart drehte sich wortlos zu ihm um.

Steve leuchtete ihn mit der Taschenlampe an. „Wachdienst“, stellte er sich erneut vor. „Sagen Sie mir, wer Sie sind und was Sie hier machen.“ Der Bärtige, dessen gewaltiger Körper die gesamte Tür verdeckte, tat einen Schritt zur Seite. Steve konnte erkennen, dass das Schloss der Tür beschädigt war.

„Sagen Sie mir sofort, was hier los ist“, herrschte er den Bärtigen an. Steve sah, wie der Regen über das vernarbte Gesicht des Mannes lief. Wieder erhielt er keine Antwort. Völlig teilnahmslos blieb der Mann stehen und richtete seinen Blick in die verregnete Nacht.

„Dieser Vandalismus wird Sie teuer zu stehen kommen.“ Steve griff nach seinem Funkgerät, um die Zentrale zu verständigen.

„Lassen Sie das!“, ließ ihn eine Stimme hinter sich aufschrecken. Noch ehe er Zeit fand, sich umzudrehen, verspürte er den Druck von nassem, kaltem Stahl an seiner Kehle. „Nicht bewegen“, befahl die Stimme mit arabischem Akzent.



Wir sind Wachleute, keine Filmhelden, schoss Steve der Leitsatz seines Chefs durch den Kopf. Er machte keine Anstalten, sich zu wehren. Nie zuvor hatte jemand sein Leben bedroht, der Job am Campus galt als einer der langweiligsten Arbeitsplätze unter den Wachdienstmitarbeitern.

Der Bärtige öffnete die Tür zum Turm, die mit einem gequälten Knarren den Weg freigab. „Vorwärts“, wurde Steve angewiesen, dem Bärtigen ins Innere des Turms zu folgen.

Er hörte die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Zielsicher schritt der Bärtige die Kellerstufen hinunter. Der Druck der Klinge an seinem Hals machte Steve klar, dass er folgen sollte.

Vorsichtig stieg Steve die Stufen hinab, ständig bemüht, das Messer nicht weiter an seine Kehle kommen zu lassen. Das passiert alles nicht wirklich, dachte er, ich muss aufwachen, versuchte er den Albtraum zu beenden.

Der Bärtige blieb vor einer schweren Eisentür stehen, die den Weg versperrte. Der Rost und die Spinnweben zeigten, dass sie seit vielen Jahren nicht mehr benutzt wurde.

„Aufmachen!“

Ein Stück entfernte sich das Messer von seinem Hals und gab Steve die Möglichkeit zu sprechen. „Ich… Ich habe keinen Schlüssel“, stotterte er verunsichert. „Nur der Dekan hat ihn.“

„Aufmachen!“, schrie die Stimme ungeduldig. Steve fühlte, wie aufsteigende Angst ihm die Kontrolle über seine Muskulatur nahm. Er begann am ganzen Körper zu zittern.

Der Bärtige drehte sich um und starrte ihn an. Noch nie hatte Steve eine solche Entschlossenheit in den Augen eines Menschen gesehen. Der bringt mich um, schoss es ihm durch den Kopf.

Steve geriet in Panik. „Ich habe wirklich keinen Schlüssel!“, schrie er verzweifelt.

„Sie...“ Steves Satz wurde von einem Gurgeln beendet. Er sah sein Blut an die Wand spritzen, ehe er den Schmerz der durchtrennten Kehle spürte. Seine Hände versuchten schützend den Hals zu umklammern, doch mit jedem Herzschlag quoll das Blut zwischen seinen Fingern hervor.

Steve sank in die Knie, „Wach auf!“, wollte er sich selbst noch zurufen.

Langsam begann der Druck seiner blutigen Hände nachzulassen. Er spürte, wie sein Herzschlag sich verlangsamte, als die Dunkelheit ihn einschloss.

„Idiot!“, fluchte der Mann mit dem arabischen Akzent und wischte das Messer an Steves Jacke ab.

„Brich sie auf!“, wies er den bärtigen Mann an, der daraufhin Steves Körper mit dem Fuß von der Tür wegtrat.

Ein modriger Geruch schlug den beiden entgegen, als die Tür nachgab. Die Wände und das Deckengewölbe des Treppenabgangs waren gemauert, an vielen Stellen tropfte Wasser auf die steinigen Stufen. Ein Geflecht aus Spinnennetzen schuf eine bizarre Szenerie. In einigen Netzen befanden sich von Pilzen mumifizierte Spinnen. Gespenstisch hingen ihre kalkweißen Körper von der Decke herab.

Der Mann mit dem arabischen Akzent blickte auf seine Uhr. „Wir müssen uns beeilen.“ Er deutete auf die Treppe, die weiter in die Tiefe führte.
***
„Danke“, sagte Alon und gab David das völlig durchnässte Handtuch zurück, mit dem er sich abgetrocknet hatte. „Wie kann man nur in eine Stadt ziehen, wo es ständig regnet.“

„Man gewöhnt sich daran“, meinte David und hielt Alon einen Pullover entgegen. „Der wird dir sicher passen.“ Alon beäugte den grauen Pullover mit dem gestickten Hasenlogo skeptisch.

„Danke David, ich weiß deine Hilfe zu schätzen. Und damit meine ich jetzt nicht nur den Pullover.“ Alon schlüpfte in den Pulli und streckte demonstrativ seine Brust mit dem aufgestickten Hasen heraus.

„Freut mich, dass ich helfen kann, auch wenn ich deine Personalentscheidungen heute noch weniger verstehe als damals“, bemerkte David schmunzelnd.

„Hiob ist in Ordnung“, verteidigte ihn Alon, „er mag eine kantige Persönlichkeit sein, aber er genießt mein volles Vertrauen.“

„Wo ist er überhaupt?“, fragte David.

„Wir sind vorsichtiger geworden seit Wien.“ Alon blickte nachdenklich zum Fenster. „Hiob hat vom Flughafen mit dem Taxi eine falsche Fährte gelegt, um mögliche Verfolger in die Irre zu führen. Ich selbst bin mit dem Zug nach London gefahren. Die letzten fünf Kilometer zu dir bin ich zu Fuß gegangen.“

„Spätestens beim Fußmarsch hätten die Verfolger dich entkommen lassen“, lachte David und hängte Alons völlig durchnässte Jacke zum Trocknen auf.

„Hast du keine Idee, wer euch in Wien aufgelauert hat?“

Alon verneinte. „Dunkle Haut, keine Ausweise, nicht registrierte Waffen aus russischen Armeebeständen. Israel hat viele Feinde im arabischen Raum.“ Alon kramte in seiner Hosentasche.

„Vielleicht wissen wir mehr, wenn wir den Code knacken“, mutmaßte er und legte einen USB-Stick auf den Tisch.

David begann die Daten des Sticks auf seine Festplatte zu laden, während sich Alon neben ihn setzte. David öffnete mehrere Programme. „Damit analysieren wir die Struktur der Nachricht.“ Gekonnt klickte er sich durch die Konfigurationsfenster.

„Die Nachricht ist aus mehreren Blöcken zusammengesetzt. Leider hat jeder Block sein eigenes Passwort.“

„Wie schnell kriegst du es hin?“

„Wir können nur einen Block nach dem anderen bearbeiten.“ Alon bemerkte, wie David angestrengt die Augenbrauen zusammenkniff.

„Möglicherweise sind die Informationen im ersten Block bereits veraltet, es könnte sich dabei um den Raub der Krone handeln. Wir würden dann nur unsere Zeit verschwenden.“

„Das macht Sinn“, bestätigte ihn Alon, „beginnen wir mit einem Block aus der Mitte. Vielleicht ist die Reihenfolge ja absichtlich vertauscht. Die Mitte ist immer eine gute Wahl.“

„Versuchen wir es mit einer Wortliste“, schlug David vor, „viele Menschen verwenden Orte oder vertraute Begriffe als Passwörter.“

Alon kommentierte Davids Vorschlag mit einem Achselzucken.

David beugte sich über die Tastatur und erklärte. „Eine Liste mit allen Wörtern eines Wörterbuchs. Mein Programm probiert jedes Wort der Liste als Passwort. Ich habe Wortlisten aller gängigen Sprachen. So können wir über eine Million Wörter ausprobieren.“ David klickte auf den Startknopf.

„Wie lange?“, fragte Alon ungeduldig.

„Fertig.“ David war sichtlich enttäuscht, dass seine Listen kein gültiges Passwort enthielten.

„Fertig?“ Alon war erstaunt.

„Ein guter PC probiert 90 Millionen Passwörter pro Sekunde. Die Wortlisten helfen uns hier leider nicht weiter.“

„Sieht so aus, als müssten wir es auf die brutale Methode versuchen“, grummelte David.

„Willst du ihn bedrohen?“, scherzte Alon. „Bei meinem PC hat das noch nie geholfen.“

„Nein, natürlich nicht“, grinste David. „Damit ist der mühsame Weg gemeint, alle denkbaren Kombinationen durchzuprobieren.“

„Das hört sich eher langweilig an.“ Alon stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf seinen Handflächen ab.

„Wir können die Suche etwas einschränken“, versuchte David ihn für seine Arbeit zu begeistern. „Das Passwort hat nicht mehr als sieben Zeichen.“ Hoffe ich.

Alons Blick folgte einem Regentropfen, der an der Scheibe herunterlief.

„Der verkohlte Zettel ist in Englisch gehalten, was uns einen Anhaltspunkt für die verwendeten Zeichen bietet. Versuchen wir Groß- und Kleinbuchstaben kombiniert mit Ziffern von 0-9.“

„Wie lange?“, fragte Alon lapidar.

„Mit etwas Glück sofort, im schlechtesten Fall etwa sieben Stunden.“

Alon blickte zur Oberkante des Fensters und fixierte einen neuen Tropfen.

David wusste seit ihrer ersten Begegnung, dass Geduld keine von Alons Tugenden war. Beispiellos konnte er seine Langeweile publikumswirksam in Szene setzen. Nach nur zwei Tagen beim Shabak hatte jeder Kollege aus freien Stücken Alons Antrag auf Versetzung in den Außendienst zugestimmt.

„Wann kommt deine Frau?“, unterbrach Alon die Stille.

„Das wird spät werden, sie bereitet sich auf die Veröffentlichung ihrer Entdeckung vor. Im Moment verbringt sie jede freie Minute im Labor des Imperial College.“

„Was hat sie denn entdeckt?“

„Sie will die Holographie revolutionieren. Möglicherweise ist ihr das bereits gelungen. Aber selbst mir hat sie nicht mehr darüber erzählt.“

„Top Secret, verstehe“, gähnte Alon und hoffte darauf, endlich losschlagen zu können.

Goliath kam ins Zimmer gehoppelt und stellte sich auf die Hinterbeine. „Heute nicht, mein Riese“, blockte David seine Aufforderung zum Spaziergang. „Wir müssen uns die Zeit im Haus vertreiben.“ Er ging ins Vorzimmer und holte einen kleinen blauen Stoffball aus dem Schrank, den er Goliath zurollte.

Alon dachte an Hiob, dessen Taxifahrt durch London sicher mehr Abwechslung bot. Er starrte auf die Anzeige am Bildschirm, die die verbleibenden Passwort-Kombinationen herunterzählte. Noch war die Zahl viel zu lang, als dass Alon sie hätte benennen können. Sein Blick suchte einen neuen Tropfen.

„Passwort akzeptiert“, tönte eine Frauenstimme aus den Monitorlautsprechern. Alon schreckte auf und begann sofort, den entschlüsselten Block vom Bildschirm abzulesen: „18.08. 20:00 Imperial College London blaues Labor cH.

David, der den Lautsprecher nicht gehört hatte, spielte noch immer mit Goliath im Vorzimmer. „20:12“ zeigte die Anzeige auf Alons Uhr, als er sich hastig den Text notierte.

„Wir müssen sofort los!“, schrie Alon aus vollem Hals und rannte ins Vorzimmer. Goliath erschrak und machte einen Satz auf die Seite. „Wo ist dein Autoschlüssel?“

„Der steckt im Wagen.“ David zeigte auf die Tür zur Garage.

„Ich fahre!“

Noch bevor David Zeit fand Fragen zu stellen, saß er bereits neben Alon im Auto.

„Ruf deine Frau an, das Imperial College ist das nächste Ziel“, er drückte David ein Handy und den Zettel mit dem entschlüsselten Textblock in die Hand. David hatte begriffen.

Aufgeregt tippte er Nataschas Nummer in Alons Handy, während sich der Volvo mit quietschenden Reifen aus der Garage bewegte.

„Sie hat ihr Telefon ausgeschaltet. Ich versuche die Labornummer.“ Davids Herz raste vor Sorge. Flüchtig las er den handgeschriebenen Zettel, während er auf das Läuten wartete.

Die Scheibenwischer liefen auf der höchsten Stufe, als Alon den Wagen viel zu schnell durch die enge Straße lenkte.

„Hier links“, er riss das Steuer kontrolliert herum und zwang den Volvo mit viel Gefühl um die Kurve.

David kam die Zeit zwischen den Klingelzeichen wie eine Ewigkeit vor.

„Sie hebt nicht ab“, wollte David verzweifelt ausrufen, als sich eine dunkle Männerstimme meldete. „Imperial College Portierloge. Was kann ich für Sie tun?“

„Mein Name ist Wilder, ich muss sofort mit meiner Frau, Dr. Natascha Wilder, sprechen.“

„Das College hat bereits geschlossen, ich glaube nicht, dass Sie noch jemanden erreichen werden“, tönte die Stimme aus dem Hörer.

„Meine Frau arbeitet am Institut für Holographie, sie bleibt immer bis spät in die Nacht. Ich muss sie wirklich sofort sprechen, Durchwahl 233, es ist ein Notfall.“ Davids besorgte Stimme unterstrich seine Bitte.

„Ich werde Sie jetzt mit der gewünschten Nebenstelle verbinden.“

David hörte ein Klicken im Hörer, während der Portier versuchte, die Verbindung herzustellen.

„Vorsicht!“, schrie David, als sie einem roten Kleinwagen die Vorfahrt nahmen.

„Schon gesehen“, konterte Alon und wich dem Wagen mit einem gelungenen Bremshaken aus, um gleich darauf wieder voll ins Gas zu steigen.

„Hallo, Mr. Wilder?“

„Ja!“, schrie David erwartungsvoll in den Hörer.

„Es tut mir leid, aber die Leitung scheint gestört zu sein. Ich kann die gewünschte Nebenstelle nicht anwählen. Wahrscheinlich ein Kurzschluss, kein Wunder bei dem Unwetter.“

Alon folgte den Schildern Richtung Imperial College. Mit quer gestelltem Heck driftete der Wagen an der Chelsea Police Station vorbei.

„Mr. Wilder?“

David überlegte kurz. „Verständigen Sie bitte den Sicherheitsdienst. Das Labor wird gerade überfallen.“

„Wie meinen Sie das?“

„So wie ich es sage, ich habe keine Zeit für Erklärungen. Verständigen Sie sofort den Sicherheitsdienst!“, brüllte er ins Telefon.

„Das habe ich bereits versucht, während wir beide telefonieren, der Wachmann meldet sich nicht.“

„Dann rufen Sie endlich die Polizei!“

„Ich hoffe, das ist kein Scherz. Auch wenn Ihre Rufnummer unterdrückt ist, lässt sich der Anruf zurückverfolgen.“

Alon machte David auf das Blaulicht aufmerksam, das sie verfolgte.

„Wir bringen sie selbst mit!“, schrie David in den Hörer und legte auf.

„Da vorne rechts ist eine Abkürzung“, wies er Alon hin.

Das Wasser spritzte in hohem Bogen über den Gehsteig, als der Volvo die tiefe Lache durchraste.

Alon jagte den Wagen die Exhibition Road hoch. „Wir brauchen Hiob, drück’ die Kurzwahltaste drei“, wies er David an. Es fiel Alon schwer zu erkennen, wie viele Polizeifahrzeuge er bereits hinter sich versammelt hatte. „Wahrscheinlich haben sie nicht mehr Wagen“, brummte er und gab weiter Gas.

„Hiob, wir brauchen Sie sofort beim Imperial College“, antwortete David, als er Hiobs Stimme vernahm. Noch ehe Hiob etwas erwidern konnte, legte David auf. Er klammerte sich an dem Griff über der Tür fest, als Alon bereits den Eingang des College anvisierte. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt zum Bremsen, dachte David. Noch ehe er seinen Gedanken aussprechen konnte, hatte Alon auch schon die Handbremse gezogen.

Mit einer eindrucksvollen 180-Grad-Drehung baute der Wagen die hohe Geschwindigkeit ab. Dabei schob er eine riesige Wasserwand vor sich her, die Sekundenbruchteile später als mächtige Welle über den Stufen des College zusammenbrach.

„Wir sind da“, stellte Alon nüchtern fest, während David langsam seine Augen öffnete und begann, sich umzusehen.

Rings um ihn leuchtete Blaulicht, und mehrere Polizisten sprangen aus ihren Fahrzeugen. Dicht gefolgt von einer Gruppe Polizeiwagen hatte sich der Volvo genau vor dem Eingang zum Imperial College eingeschliffen.

„Das nächste Mal nehmen wir deinen Wagen“, merkte David an und wollte sich abgurten, als zwei Männer in Uniform bereits die Waffen auf ihn und Alon gerichtet hatten.

„Chief Inspector Scowcroft von Scotland Yard!“, rief einer der Männer und streckte seinen Ausweis gegen Alons Seitenscheibe. „Steigen Sie sofort aus dem Wagen.“

„Schön langsam, und lassen Sie Ihre Hände dort, wo ich sie sehen kann“, ergänzte der Beamte auf Davids Seite.
***
Qian betrat das Labor mit raschen Schritten. „Wie weit sind Sie mit der Arbeit für Mr. Shahid?“ Sein Gegenüber löste die verschränkten Hände und drehte sich überrascht um. „Ich fürchte, dass wir mit seiner Probe keinen Erfolg haben, Dr. Qian.“

Qian umrundete den Tisch und setzte sich neben seine Kollegin.

„Wir haben alle bekannten Verfahren angewandt. Selbst mit Enzymreinigern waren wir nicht in der Lage, Erbgut aus dem Metallgitter zu waschen.“

Qian betrachtete die zerschnittene Krone auf dem Labortisch und hob einen Splitter davon auf. „Konnten Sie denn gar keine Gene daraus gewinnen?“

Qians Kollegin verwies auf einen Ständer mit Probenröhrchen.

„Wir haben einige Hautschuppen gefunden, die uns mit Sicherheit DNA von Trägern der Krone liefern. Aber nichts davon entspricht auch nur ansatzweise der Datierung von Mr. Shahid.“

„Auch wenn die Jahrtausende die Gene im Nagel nicht zerstört haben, das Schmieden der Krone hat uns jede Chance auf verwertbares Erbmaterial genommen.“

Qian legte den Splitter zurück. „Lassen Sie bitte die Reste der Krone zur Abholung vorbereiten. Mr. Shahid hat bereits angedeutet, dass er uns in Kürze eine weitere Probe liefern wird.“

Er sah den skeptischen Ausdruck im Antlitz seiner Kollegin. „Mr. Shahid hat mir versichert, dass die neue Probe unbehandelt in unser Jahrhundert gelangte. Die Chancen stehen also gut, dass Sie daraus verwertbare DNA extrahieren können.“

Qian stand auf und ging zur Labortür, als ihre Frage ihn aufhorchen ließ. „Wissen Sie, wie die Krone in Mr. Shahids Besitz gelangt ist?“

Qian hielt inne, seine Mundwinkel folgten schlagartig der Gravitation. Mit erhobener Stimme maßregelte er sie. „Ich habe Sie in dieses Forschungsteam genommen, weil Ihre Arbeit für Sie spricht. In Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen, es dabei zu belassen.“ Eingeschüchtert senkte die junge Forscherin den Kopf, als Qian sichtlich verärgert verschwand.
***
„Sie hätten unsere Unterstützung auch auf dem Dienstweg anfordern können“, wies ihn Scowcroft zurecht, als er Alon den Ausweis zurückgab. „Folgen Sie mir ins Trockene, meine Herren.“ Er zeigte auf die Portierloge.

Einer von Scowcrofts Männern kam ihnen bereits entgegen. „Der Portier berichtet von einem vermissten Wachmann. Zu einem Labor gibt es derzeit keine Verbindung. Die einzige Tür ist mit einem Sicherheitsschloss verriegelt. Kamera und Telefonleitung zum Labor sind gestört. Ein Beamter ist bereits unterwegs, um Professor Woodberry abzuholen. Er verfügt über einen gültigen Zugangscode für die Labortür.“ Der Beamte holte kurz Luft. „Ich habe bereits Unterstützungseinheiten angefordert.“

„Gute Arbeit!“, kommentierte Scowcroft den Bericht. „Bringen Sie die Männer rund um das Gelände in Stellung. Niemand betritt oder verlässt den Campus ohne meine Zustimmung.“

Der Portier musterte die drei Männer, die sein spärlich eingerichtetes Büro betraten.

„Ich bin Chief Inspector Scowcroft, und das sind Mr. Kollek und Mr. Wilder“, begann Scowcroft sein Gespräch mit dem Portier.

„Wie ich Ihren Kollegen schon mitgeteilt habe, ist es im Moment leider nicht möglich, Kontakt zu dem Labor herzustellen. Wahrscheinlich hat das Gewitter...“ Alon fiel ihm ins Wort. „Wir haben berechtigten Grund zu der Annahme, dass bewaffnete Männer sich gegen 20:00 Uhr Zugang zum Labor verschafft haben.“

„Der Laborzugang ist videoüberwacht, so wie die Eingänge zum College. Ich habe nichts Auffälliges bemerkt. Die Kamera zum Labor muss erst während des Anrufs von Mr. Wilder ausgefallen sein.“

„Wie erhalte ich Zugriff auf die Videos der Überwachungskameras?“, wollte Scowcroft wissen.

„Gleich hier“, der Portier zeigte auf den Monitor im hinteren Teil der Portierloge. Er spulte das Band der Laborkamera zurück, bis der Zeitindex der Aufzeichnung bei 19:50 angelangt war. Der Bildschirm zeigte einen Gang, an dessen Ende eine Tür zu erkennen war.

„Ist das die Tür zum Labor meiner Frau?“, wollte David wissen. Seine Stimme klang besorgt.

Der Portier bestätigte Davids Frage mit einem Nicken.

„Spulen Sie ein wenig vor!“, wies Scowcroft ihn an.

Das Video der Kameraaufzeichnung unterschied sich kaum von einem Foto. Lediglich der chronologische Index in der rechten unteren Bildecke ließ das Verstreichen der Zeit erkennen.

„Stopp, das war zu weit.“ Alon hatte als Erster auf das veränderte Bild reagiert.

„Hier ist die Aufnahme bereits gestört“, kommentierte der Portier den Hinweis „kein Signal“, auf dem blauen Schirm.

„Das sehe ich selbst“, grummelte Scowcroft, „Lassen Sie die Stelle nochmals in Zeitlupe durchlaufen!“

„Was war das?“, Scowcroft konnte kaum fassen, was er gesehen hatte. Der Portier spulte erneut zurück und hielt die Wiedergabe an, als ein schwarz gekleideter bärtiger Mann ins Bild kam.

„Fahren Sie das Band ganz langsam weiter.“

Ein zweiter Mann war nur vage im Hintergrund zu erkennen. Der bärtige Mann hielt etwas, das wie eine kleine Schachtel aussah, in seinen Händen. Ein Lichtblitz trat aus der Schachtel und die Aufzeichnung endete.

„Hat jemand von Ihnen eine Erklärung für den Blitz?“

„Ein elektromagnetischer Impuls. Diesen Effekt hat man ursprünglich bei Atombombentests beobachtet. Der Impuls, der dem Lichtblitz der Bombe folgt, zerstört die Mikrochips.“ David betrachtete die Schachtel in der Hand des Mannes genauer. „Hier laden vermutlich Hochspannungskondensatoren eine Blitzeinheit auf. Der Impuls hat zweifellos ausgereicht, die umliegenden Leitungen und Verdrahtungen zu überlasten.“

„Sie meinen, die Elektronik der Kamera ist wegen des Lichtblitzes durchgebrannt?“

„Vereinfacht ausgedrückt, ja“, bestätigte David. „Wer immer das durchführt, braucht ausgezeichnetes Fachwissen und eine Menge Geld für die Umsetzung.“

„Können Sie den Mann im Hintergrund mehr ins Bild bringen?“, fragte Alon.

„Besser geht es leider nicht“, meinte der Portier, nachdem er den Bildausschnitt vergrößert hatte.

„Kennen Sie den Mann?“, wollte Scowcroft von Alon wissen.

„Ich bin mir nicht sicher. Es ist sehr dunkel, und die Aufnahme ist kein Ruhmesstück der Videotechnik. Es scheint mir aber wahrscheinlich, dass es sich bei dem Mann im Hintergrund um einen von Shahids Männern handelt.“

„Mustafa Shahid?“ Scowcrofts Interesse war mehr als geweckt.

„Ja, die schlimmste Söldnerseele, die jemals vom Mossad gejagt wurde.“

„Nicht nur vom Mossad.“ Scowcroft nahm sein Funkgerät und gab den Polizisten neue Instruktionen. „Ich wiederhole, gehen Sie mit äußerster Vorsicht vor. Die gesuchten Männer werden nicht zögern, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Stoppen Sie jeden, der sich Ihren Aufforderungen widersetzt, nach eigenem Ermessen.“

„Natascha ist noch im Labor!“, rief David, der Scowcrofts Befehl mit Entsetzen verfolgt hatte.

„Ich versichere Ihnen, dass wir alles tun werden, um Ihre Frau zu retten, wenn sie noch lebt.“

David sah ihn fassungslos an. „Wenn sie noch lebt?“

„Wir müssen bei Shahid mit dem Schlimmsten rechnen. Lebend wird ihn niemand erwischen, das hat er mehr als einmal klar gemacht.“

Alon legte seinen Arm um Davids Schulter. „Es tut mir leid, dass es so gekommen ist, David. Shahid ist einer der meistgesuchten Männer. Auf sein Konto gehen unzählige Morde. Dieser Mann ist so gewissenlos und sadistisch, dass selbst die Hamas ihn aus ihren Reihen verstoßen hat.“

„Seither bietet er sein mörderisches Handwerk dem Meistbietenden an. Es gibt keinen Geheimdienst, der diesen Mann nicht tot sehen will. Das weltweit auf ihn ausgesetzte Kopfgeld würde ausreichen, um sich in Afrika einen Königsthron zu kaufen“, setzte Scowcroft fort.

„Sie müssen Natascha da rausholen“, insistierte David.

„Ich fürchte, das wird nicht so einfach sein. Bisher wissen wir noch nicht einmal, wie wir Zutritt zum Labor bekommen.“

„Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen, meine Herren.“ Ein etwa sechzig Jahre alter, weißhaariger Mann stand in der Tür. Seinem gepflegten Äußeren nach zu urteilen, konnte er nicht der vermisste Wachmann sein. „Professor Woodberry!“, rief David. „Bitte helfen Sie uns, in das Labor zu gelangen. Natascha wird dort festgehalten.“

„Die Polizei hat mich bereits informiert. Aber ich versichere Ihnen, dass es niemandem möglich ist, das Labor zu betreten, der nicht dazu berechtigt ist. Auch wenn derzeit kein Kontakt zu dem Labor möglich ist, so ist das kein Grund zur Besorgnis. Bitte folgen Sie mir.“

Gesichert von vier Polizeibeamten führte Woodberry die drei Männer durch den Campus. „Haben Sie eine Vorstellung davon, was eine international gesuchte Mörderbande motivieren könnte, hier einzudringen?“, wollte Scowcroft von Woodberry wissen, als er ihm ins Untergeschoss folgte.

„Unsere außeruniversitären Forschungsprogramme sind streng geheim. Ich garantiere Ihnen, dass es sich um ein Missverständnis handelt, niemand hat Zugang zu unseren Daten. „Hier entlang, bitte“, er deutete auf den Gang, den David bereits vom Video kannte.

„Das ist eine einfache Tür“, bemerkte Alon, als sie sich näherten.

„Das ist nicht nötig“, wandte sich Woodberry an Scowcrofts Männer, die ihre Waffen auf die Tür gerichtet hatten.

Mit einem Ruck öffnete einer der Beamten die Tür, während zwei seiner Kollegen den Raum dahinter stürmten.

„Gesichert!“, rief eine Stimme aus dem Raum und Scowcroft deutete auffordernd zur Tür.

„Erinnert mich an einen Aufzug“, stellte Alon fest, als er in den engen Raum trat, dessen Wände mit gebürstetem Edelstahl verkleidet waren.

„Es ist ein Aufzug“, erklärte Woodberry mit ruhiger Stimme „Das Labor kann nur über diesen Aufzug erreicht werden.“

„Welche Etage?“, drängte David, ehe er feststellte, dass es keinen Knopf gab, den er hätte drücken können.

„Wie ich schon sagte, meine Herren, der Zugang zum Labor ist speziell gesichert. Derzeit können nur Ms. Wilder, der Dekan höchstpersönlich und ich den Aufzug bedienen. Gestatten Sie?“

Erst jetzt fiel David die bläulich leuchtende Glasplatte an der Wand auf, der sich Woodberry näherte. „Ich würde es bevorzugen, wenn wir den Kreis der Personen auf ein Minimum reduzieren könnten. Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, unterliegt die Forschung in diesem Labor der höchsten Geheimhaltung.“

„Der Aufzug führt also direkt ins Labor. Ohne weitere Zwischentüren?“, wollte Scowcroft wissen.

„Ja, so ist es“, entgegnete der Professor.

„Ich muss Sie alle bitten, den Aufzug zu verlassen. Das erfolgt zu Ihrer eigenen Sicherheit. Erst wenn meine Männer grünes Licht geben, werde ich den Zutritt für Sie freigeben. Das gilt auch für Sie, Professor, bitte geben Sie den Code für den Aufzug ein und verlassen Sie dann mit uns die Kabine.“

„Sie verstehen nicht“, führte Woodberry aus. „Dieser Aufzug verwendet keinen Code, und er kann von Ihren Leuten auch nicht bedient werden. Wie ich bereits sagte, kann er nur von Ms. Wilder, dem Dekan und mir bewegt werden. Den biometrischen Scanner, den Sie vor sich sehen…“, er deutete auf die blau beleuchtete Platte, „kann man nicht täuschen.“

„Jedes Schloss kann manipuliert werden“, entgegnete Scowcroft. „Wir verlieren nur Zeit.“

„Lassen Sie mich alleine hinunterfahren“, schlug der Professor vor.

Scowcroft sah ihn entgeistert an. „Auf keinen Fall! Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, den Aufzug zu aktivieren, dann fahren Sie mit meinen Männern ins Labor.“

Scowcroft zog seine schusssichere Weste aus und reichte sie dem Professor. „Ziehen Sie die Weste an.“

„Danke, aber ich versichere Ihnen, das wird nicht nötig sein.“

„Ziehen Sie die Weste an, und dann bringen Sie mein Team in das Labor. Sofort!“, herrschte Scowcroft ihn an.

Woodberry nickte und zog sich die Weste über.

David, Alon und Scowcroft stiegen aus dem Aufzug und warteten.

Mit einem leisen Surren setzte sich der Lift in Bewegung. David legte sein Ohr an die Tür. Das Surren wurde leiser und er konnte hören, wie der Lift anhielt. „Sie steigen aus“, flüsterte er sichtlich nervös.

Ein Ruf, der auf Scowcrofts Funkgerät hereinkam, unterbrach die angespannte Stille. „Wir haben den Wachmann in einem Tunnel entdeckt. Er ist tot.“ Scowcroft beantwortete den Ruf und instruierte die Männer dem Tunnelverlauf zu folgen.

„Wie lange brauchen die da unten denn?“ David schien die Zeit wie eine Ewigkeit. Verzweifelt versuchte er ein Geräusch aus dem Aufzugsschacht wahrzunehmen.

Ein weiterer Funkspruch brachte Klarheit. „Labor gesichert, keine Personen angetroffen.“

David blickte zuerst Scowcroft und dann Alon fragend an.

„Kommen Sie zurück!“, forderte Scowcroft seine Männer im Labor auf. Er wandte sich David zu: „Wir werden uns die Sache jetzt aus der Nähe ansehen, Mr. Wilder. Es scheint mir aber nur zwei Möglichkeiten zu geben. Entweder Ihre Frau war nicht im Labor oder sie wurde entführt. Haben Sie ein Foto von Ms. Wilder dabei?“

Die Lifttür öffnete sich, und Scowcrofts Männer erstatteten ihm Bericht. „Nehmen Sie so viele Leute, wie Sie benötigen, und durchsuchen Sie den gesamten Campus. Außerdem will ich die Fotos der Überwachungskamera in spätestens einer Stunde auf allen Seehäfen, Flughäfen, Bahnsteigen und Grenzübergängen hängen haben. Wir suchen zudem diese Frau, die möglicherweise als Geisel genommen wurde. Ihre Sicherheit hat absoluten Vorrang.“ Scowcroft reichte seinem Beamten das Foto von Natascha.

Scowcroft, Alon und David betraten den Lift, in dem Woodberry auf sie wartete. „Ich dachte, niemand außer Ihnen, dem Dekan und Ms. Wilder kann den Lift bedienen, Professor. Wie erklären Sie sich dann, dass Ms. Wilder verschwunden ist?“

„Das kann ich nicht“, gab Woodberry zu. „Es ist einfach unmöglich, das Sicherheitssystem zu umgehen.“

„Könnte der Dekan...?“, fragte David besorgt.

„Nein, der ist gerade auf Weltreise. Er hat vorige Woche geheiratet.“

„Schon wieder?“, fragte Scowcroft überrascht.

„Sie scheinen ihn zu kennen“, vermutete der Professor.

„Ja, wir sind alte Freunde und haben gemeinsam die Schulbank gedrückt. Er war schon immer sehr...“

„Sprunghaft?“, legte ihm Woodberry das Wort in den Mund.

Scowcroft nickte. „Ja, was seine Beziehungen zu Frauen betrifft, kann man das wohl so ausdrücken.“

„Manches ändert sich eben nie“, beendete Woodberry die Anekdote und folgte damit Davids drängendem Blick.

Der begutachtete den biometrischen Scanner in der Wand des Aufzugs. Vorsichtig berührte er die gelartige Oberfläche. „Wie funktioniert dieser Scanner?“

Woodberry drückte seine ausgestreckte Hand in das blaue Gel und der Lift setzte sich in Bewegung. „Der Scanner vergleicht die Hand, die in die Gelplatte eingetaucht wird, mit Referenzwerten holographisch abgespeicherter Abdrücke.“

„Sie meinen eine Art Fingerabdruck der ganzen Hand?“, warf Scowcroft ein.

„Viel mehr als das“, setzte Woodberry fort, „wir sind nicht nur in der Lage zu sagen, ob die richtige Hand eingetaucht wurde sondern auch von wem.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Alon ungläubig.

„Wir mussten sicherstellen, dass niemand eine abgetrennte Hand benutzen kann, um den Scanner zu täuschen. Als Referenz ist der gesamte Vorgang des Eintauchens als eine Art holographisches 3D-Video gespeichert. Jeder Mensch drückt seine Hand nach einem bestimmten Muster in die Gelplatte. Nicht alle Finger werden gleich schnell hineingedrückt und auch nicht gleich fest. Mit diesem Muster lässt sich erkennen, ob meine Hand auch von mir benutzt wird.“

„Das ist unglaublich“, stieß David aus. „Mir ist kein derartig fortschrittliches Zutrittssystem bekannt.“ Für einen kurzen Moment hatte er seine Sorge um Natascha vergessen.

„Ich habe diesen Scanner gemeinsam mit Ihrer Frau entwickelt. Wer immer ihn bedient, muss es aus freien Stücken tun. Würden Sie mich beispielsweise mit einer Waffe zwingen den Lift zu bewegen, würde die Bedrohungssituation den natürlichen Ablauf meiner Bewegung stören. Das feine, nicht kontrollierbare Zittern meiner Hand würde ausreichen, um den Zutritt zu verweigern.“

„Das heißt unter Androhung von Gewalt würde sich die Lifttür weder bei Ihnen noch bei meiner Frau oder dem Dekan öffnen?“

Der Lift hielt mit einem leichten Ruck an.

„Genau so ist es, Mr. Wilder. Wie ich schon feststellte, ich habe keine Erklärung, wie jemand hier eingedrungen sein soll.“

Die Lifttür öffnete sich und ein nur spärlich beleuchteter großer Raum tat sich vor ihnen auf. Mehrere Tische mit einer Unzahl von elektronischen Geräten waren ringförmig um eine große Maschine angeordnet.

„Es gibt keinen weiteren Eingang?“

Woodberry verneinte. „Wer immer das Labor betreten möchte, kann dazu nur den Lift verwenden.“

„Meine Männer haben mir von einem toten Wachmann in einem Tunnel berichtet. Können Sie sich vorstellen, welchen Tunnel sie gemeint haben könnten?“

„Es gibt einen alten, unterirdischen Versorgungsweg zum Queens Tower. Der wird aber seit Jahren nicht mehr benutzt.“

„Könnte jemand den Tunnel...“

„Unmöglich“, wurde er von Woodberry unterbrochen, „der Tunnel endet nahe der Stelle, wo wir in den Lift eingestiegen sind. Selbst wenn ihn jemand benutzt hat, um unbemerkt in den Campus zu gelangen, der Zutritt zum Labor ist damit nicht möglich.“

„Ich sehe keine Kameras im Labor“, bemerkte David, als er um die Tische ging.

„Die Arbeit hier ist vertraulich und der Zugang ist gesichert, wir haben keine Verwendung für Überwachungskameras.“

„Wir hätten aber Verwendung dafür.“ Scowcroft stellte sich vor den Professor. „So wie es aussieht, wurde Ms. Wilder entführt, und die einzige Person, die Zugang zum Labor hatte, sind Sie.“

„Ich bitte Sie“, gab sich Woodberry entrüstet. „Sie wollen mir doch nicht unterstellen, dass ich etwas mit Ms. Wilders Verschwinden zu tun hätte?“

„Haben Sie?“

„Natürlich nicht!“

„Woran haben Sie und Ms. Wilder gerade gearbeitet?“

„Wir forschen an holographischer Speicherung. Ich kann Ihnen darüber leider keine genauere Auskunft geben.“

„Wer finanziert dieses Labor?“

„Es gibt viele ehemalige Studenten, die uns mit dem Nötigsten ausstatten.“

„Mit dem Nötigsten?“, rief David, „Ihr Labor hat eine Ausrüstung, die manchen Großkonzern vor Neid erblassen ließe. Sie wollen uns doch nicht weismachen, dass Sie diesen Aufwand nur für Datenspeicherung treiben?“

Der Professor schwieg.

„Haben die Eindringlinge etwas mitgenommen?“, wollte Alon wissen.

„Es gibt keine Eindringlinge“, stellte Woodberry energisch fest, „das Labor ist so, wie ich es verlassen habe.“

„Was ist damit?“ David zeigte auf eine rechteckige helle Stelle an der Wand, wo ein Bild zu fehlen schien.

„Das Bild gehörte Ihrer Frau, ich habe keine Ahnung, was damit ist.“

„Was war auf dem Bild?“

„Ein religiöses Gemälde mit vielen Menschen, ich glaube von Buonarroti. Es hatte sicherlich nichts mit unserer Arbeit zu tun. Ich würde Sie jetzt bitten, das Labor wieder zu verlassen.“

„Ein Wachmann ist tot, Ihre Mitarbeiterin wird vermisst und zwei Handlanger eines weltweit gesuchten Mörders sind gewaltsam hier eingedrungen. Ich werde jeden Zentimeter Ihres Labors durchsuchen lassen, bis ich weiß, was hier passiert ist.“

„Ich werde mein Möglichstes tun, um Sie zu unterstützen, aber in dieses Labor wurde nicht eingebrochen, und es wurde auch niemand daraus entführt. Ich möchte Sie also nochmals höflichst ersuchen, das Labor zu verlassen und Ihre Ermittlungen auf den Tatort zu konzentrieren.“ Woodberry forderte sie mit einer Geste auf, sich zum Aufzug zu begeben.

Widerwillig folgte Scowcroft seiner Aufforderung. Im Aufzug holte David den Zettel mit der Botschaft hervor, die Alon aufgeschrieben hatte. „18.08. 20:00 Imperial College London blaues Labor cH

„Können Sie sich erklären, was mit cH gemeint ist?“, fragte er.

Woodberry erschrak und senkte rasch seinen Kopf. „Nein, ich habe keine Ahnung.“

„Danke für Ihre Unterstützung, Professor Woodberry“, verabschiedete sich Alon zynisch, als die Männer den Lift wieder verlassen hatten. Scowcroft blickte ihm verärgert nach, als der Professor Richtung Portierloge abbog.

„Wieso lassen Sie ihn gehen?“ Davids Vorwurf traf Scowcroft nicht unerwartet. „Er weiß weit mehr, als er uns erzählt. Haben Sie gesehen, wie bleich er wurde, als ich ihn nach cH gefragt habe?“

„Ich bin mir auch sicher, dass er uns einige Dinge verheimlicht, Mr. Wilder. Die Fakten in diesem Fall geben mir aber leider keine Möglichkeit, ihn weiter unter Druck zu setzen. Das Labor sieht nicht so aus, als hätte es einen Kampf gegeben, und Sie konnten sich selbst überzeugen, dass der Zugang für Fremde nicht möglich ist.“

„Sie können ihn doch nicht so einfach gehen lassen, was ist mit Natascha?“

„Wir sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Ihre Frau gar nicht im Gebäude war. Die beiden Männer sind möglicherweise unverrichteter Dinge wieder abgezogen, als sie nicht ins Labor konnten.“

„Das meinen Sie doch nicht wirklich?“ David konnte nicht glauben, was er aus Scowcrofts Mund hörte.

„Es obliegt dem College, eine Anzeige wegen Einbruchs zu erstatten. Wir können ohne Zustimmung des Dekanats nur im Mordfall des Wachmanns ermitteln. Wenn wir die Täter schnappen, werden sich auch die anderen Fragen beantworten. Bis dahin möchte ich Woodberry gern in Sicherheit wiegen.“

Scowcroft versuchte, David zu beruhigen. „Glauben Sie mir, Mr. Wilder, ich verstehe, wie Sie sich fühlen. Das Foto Ihrer Frau geht bereits tausendfach um die Welt. Ich verspreche Ihnen, wir finden Ms. Wilder.“

David bemühte sich, den Worten von Scowcroft Glauben zu schenken. Alon mischte sich ein. „Es tut mir leid, dass wir deine Frau da mit reingezogen haben, David. Ich hätte dich niemals bitten dürfen, uns zu helfen.“

David schüttelte den Kopf „Darauf hattest du keinen Einfluss. Du nicht… und ich auch nicht.“

Alon verstand zunächst nicht, was David ihm zu sagen versuchte.

„Die Nachricht, die ihr abgefangen habt, war doch erst der Grund, mich um Hilfe zu bitten“, bemühte sich David, seinem Freund auf die Sprünge zu helfen.

Mit einem Mal dämmerte Alon, worauf David hinauswollte. Der Überfall auf das Labor und die Entführung Nataschas war längst beschlossen, ehe er David überhaupt kontaktiert hatte.

„Unsere Wege hätten sich in jedem Fall hier gekreuzt“, bekräftigte David. „Irgendjemand hatte das bereits vor Wochen so geplant.“

Scowcroft unterbrach das Gespräch zwischen David und Alon. „Ich habe zwei meiner Beamten damit betraut, Woodberry rund um die Uhr zu beschatten. Wie kann ich Sie erreichen, wenn wir mehr wissen?“

Scowcroft notierte die ihm diktierten Telefonnummern und verabschiedete sich dann von David und Alon. „Das hätte ich fast vergessen, Mr. Kollek“, merkte er noch an, „ein Mr. Hiob wartet am Eingang auf Sie.“

„Da habt ihr mehr erlebt als ich“, stellte Hiob fest, nachdem ihm Alon eine Zusammenfassung der letzten Stunden gegeben hatte. „Ich habe mich bereits gefragt, wann Shahid das nächste Mal auftaucht. Diesmal werde ich ihn endgültig zur Strecke bringen.“

„Davids Frau geht vor persönlicher Rache, Hiob“, bremste Alon ihn.

„Natürlich“, bestätigte Hiob die Anweisung.

„Können Sie sich vorstellen, welches Bild der Direktor gemeint hat?“

„Mein Kunstverständnis ist eher bescheiden, ich habe mir nicht einmal den Namen des Künstlers gemerkt“, gestand David.

„Buonarroti“, warf Alon ein, „das ist der Name eines italienischen Lokalbesitzers in Haifa. Mr. Buonarroti macht die beste Pasta in Haifa.“

„Kann er auch malen?“

„Ich denke, das können wir ausschließen.“

David las die Zeit vom Armaturenbrett seines Wagens ab. „Nur zwei Straßen weiter befindet sich das Victoria and Albert Museum, mit etwas Glück haben die noch offen.“

Hiob blieb im Wagen, der vor dem Museum in zweiter Spur hielt.

„Wir suchen ein religiöses Gemälde mit vielen Menschen, ein gewisser Buonarroti soll es gemalt haben“, erklärte David der Museumsangestellten.

Die junge Frau lächelte. „Sie wollen mich wohl testen.“

David blickte sie fragend an. „Wie meinen Sie das, bitte?“

„Ihre Frage, sie zielt doch offensichtlich darauf ab, mein Kunstverständnis zu prüfen.“

„Glauben Sie mir, dazu ist er nicht geeignet“, mischte sich Alon ein, „wissen Sie, von welchem Bild mein Freund spricht?“

„Aber selbstverständlich“, erwiderte die junge Frau selbstbewusst. Sie zog ein Buch hervor und blätterte kurz darin. „Das ist es“, sie drehte das aufgeschlagene Buch zu David und Alon und zeigte auf ein Foto. „Das Jüngste Gericht, aber ich denke, das wissen Sie so gut wie ich“, lachte sie.

„Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.“ David konnte sich keinen Reim darauf machen, was die Museumsangestellte ihm mitteilen wollte.

Alon betrachtete die Seite im Buch genauer. „Unter dem Bild steht, es ist von Michelangelo.“

„Das meinte ich doch“, entgegnete die junge Frau „Niemand, der Michelangelo beim Nachnamen nennt, kann mir weismachen, dass er sein Fresko in der Sixtinischen Kapelle nicht kennt.“

„Sprechen wir von dem Michelangelo?“

„Kennen Sie denn noch andere?“

„Wenn das Bild so berühmt ist, haben Sie doch sicher auch ein Poster davon?“

„Einen Moment, bitte“, die junge Dame verschwand hinter einem Vorhang.

„Professor Woodberry hat Michelangelo sicher nicht mit einem israelischen Pizzabäcker verwechselt, als er von Buonarroti sprach“, stellte David fest. „Was mich aber viel mehr beschäftigt, ist die Frage, warum Natascha sich ein solches Bild an die Wand hängt.“

„Oder warum es jetzt nicht mehr dort hängt“, ergänzte Alon und nahm das Poster, das die Museumsangestellte auf dem Tisch abgelegt hatte, an sich.

„Danke, das wäre alles.“ David legte das Geld passend auf den Tisch. „Sie haben uns wirklich weitergeholfen.“
***
Davids Sorgenfalten waren nicht zu übersehen. „Und jetzt?“ Er blickte ratlos zu Alon, der neben ihm im Auto saß.

„So wie ich die Sache sehe, können wir niemandem außerhalb dieses Wagens mehr trauen.“

David startete den Motor und steuerte seinen Volvo nach Hause. „Meinst du damit auch Chief Inspector Scowcroft?“

„Der Professor schien irgendetwas verheimlichen zu wollen, als er von dem Bild sprach. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, er hätte uns einen versteckten Hinweis zukommen lassen.“

„Wir könnten ihn doch einfach fragen.“

„Scowcroft lässt ihn nicht ohne Grund von seinen Leuten beschatten. Ich bin sicher, dass der Professor erwartet hat, dass wir herausfinden, welches Bild er meint. Was immer er uns vor Scowcrofts Augen mitteilen wollte, ist hier drin.“ Alon deutete auf die Rolle mit dem Poster. „Außerdem sollten wir so schnell wie möglich die anderen Blöcke der Nachricht entschlüsseln. Wo immer Shahid das nächste Mal zuschlagen will, müssen wir ihm zuvorkommen.“

Goliath hoppelte zur Tür, die das Haus mit der Garage verband, als er hörte, wie Davids Wagen eingeparkt wurde. Erwartungsvoll blickte er auf die Tür.

„Goliath, mein Riese.“ David streckte ihm die Arme entgegen. Wenigstens du bist noch da. Seine Gedanken schweiften zu Natascha ab.

Im Vorbeigehen registrierte Hiob die freudige Begrüßung. Er sah, wie David einen Ball durchs Zimmer rollte und Goliath ihn apportierte.

„Eine komische Rasse“, flüsterte er zu Alon „Da sind ja die Ohren länger als die Beine.“

Alon musste schmunzeln. „Keine Hasenwitze, bitte“, er zog seine durchnässte Jacke aus, und Hiobs völlig verdutzter Blick fixierte das Hasenlogo auf dem Pullover.

„Erklär ich dir später.“ Alon ging zum PC und betrachtete die Fortschrittsanzeige des Passwortprogramms. „Das sieht nicht gut aus, die Zahl der verbleibenden Versuche ist viel länger als beim vorigen Block“, hörte David Alons Stimme tönen.

David kam ins Zimmer und bestätigte Alons Befürchtung. „Das nächste Passwort hat nicht nur sieben, sondern bereits acht Stellen. Die Anzahl der möglichen Versuche steigt damit exponentiell an.“

„Wie lange?“

„Drei Wochen, wenn wir Pech haben“, bemerkte David.

„Drei Wochen? Das ist aber nicht dein Ernst.“

„Damit werden wir die Sache verkürzen.“ David stellte einen Laptop auf den Tisch.

„Ich verstehe nicht viel von Computern, Mr. Wilder“, meldete sich Hiob zu Wort, „aber selbst mir ist klar, dass der Laptop nicht annähernd die Leistung des Standgeräts bringen wird.“

„Sie haben völlig Recht, Hiob. Er verfügt zwar bei weitem nicht über die Rechenleistung seines großen Bruders, aber er hat mächtige Freunde.“

„Was hast du vor, David?“

„Wir werden die Arbeit gerechter verteilen. Ich kenne einige Rechner, die während der Nacht ungenutzt in den Büros meiner Kunden herumstehen. Archimedes wird die einzelnen Computer so zu einem Cluster verbinden, dass sie wie ein großer Rechner arbeiten.“

„Archimedes?“, fragte Alon und zeigte auf den Laptop.

„Archimedes!“, bestätigte ihm David. „Wir können die Leistung des Computer-Clusters zwar nur während der Nachtstunden abrufen, das aber überall dort, wo wir Internetzugang haben.“

„Wie schnell ist so ein Cluster?“

„Das hängt davon ab, wie viele Rechner wir aufwecken können. Das Personal ist angewiesen, die Computer beim Verlassen des Gebäudes herunterzufahren. Es ist mir aber bei vielen Geräten möglich, sie über das Netzwerk aufzuwecken. Natürlich nur, wenn sie nicht komplett vom Strom getrennt wurden.“

Hiob beobachtete, wie auf dem Bildschirm des Notebooks kleine, grüne und gelbe Punkte aufzuleuchten begannen. „Jeder Punkt ist ein Computer?“, wollte er von David wissen.

„Ja, die gelben Punkte melden sich gerade am Cluster an. Die grünen Punkte zeigen jene Rechner, die sich dem Cluster bereits angeschlossen haben und Datenpakete bearbeiten.“

Immer mehr Maschinen begannen dem Cluster unter der Führung von Archimedes beizutreten. „142 Computer beteiligen sich an der Suche nach dem Passwort“, zeigte sich David angenehm überrascht und warf einen Blick auf seine Uhr. „Das sollte bis morgen Früh erledigt sein. Im Übrigen ist es schon ziemlich spät geworden.“

„Legen wir uns für ein paar Stunden aufs Ohr“, schlug Alon vor, „wer weiß, wohin uns der nächste Teil der Nachricht führt.“

„Hältst du das Haus für sicher?“ Hiob wollte Alon mit seiner Frage anbieten, die erste Wache zu übernehmen.

„Keine Sorge, ich habe dank euch überall Kameras und Sensoren. Wenn sich jemand dem Haus nähert, werden wir das unmöglich verschlafen“, verabschiedete sich David, nachdem er seinen Gästen das Nachtlager gezeigt hatte.

„Ich verlass’ mich lieber auf die hier.“ Hiob schob seine Pistole unter einen Polster der Couch.

„Gute Nacht.“

David wurde nicht nur von dem heftigen Gewitter wach gehalten, das über London niederging. Seine Gedanken drehten sich um Natascha. Wo ist sie jetzt? Wer hat sie entführt, und wie hat man sie aus dem Labor bekommen? Immer wieder stellte er sich die gleichen Fragen.

David schrak zusammen, als die Fensterscheiben im Schlafzimmer unter der Wucht des Donnergrollens erzitterten. Seit Monaten hatte er nicht mehr alleine in diesem Zimmer geschlafen. Selbst Goliath zog es vor, die unruhige Nacht in einer Schachtel unter dem Schrank zu verbringen. Nur sehr langsam zog das Unwetter weiter.

***


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