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Hinweis: Sacer Sanguis II ist Teil einer Trilogie. Der Autor empfiehlt die Bücher in folgender Reihenfolge zu lesen


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„Eigentlich ist er ja ein Riesenkaninchen.“

Sie sah ihn verwundert an.

„Nicht so wichtig. Sein Name ist Goliath und ich bin David“, stellte David sich vor und zeigte ihr ein weiteres Bild, auf dem Goliath mit hängenden Ohren zufrieden an einer Karotte nagte. „Goliath und ich gehen jeden Abend spazieren. Danach bekommt er eine besonders große Karotte.“

„Ich bin Clara Burcely und werde im Oktober sieben Jahre alt“, grinste sie über beide Ohren und streckte ihm ihre Hand entgegen. „David Wilder“, antwortete er. „Ich werde nächstes Jahr 42.“

David erfuhr, dass Clara die Tochter einer Diplomatin war, die viel reiste. Clara traf sich in Wien mit ihrer Mutter zur gemeinsamen Weiterreise nach Jordanien. Nach dem Essen nützte Clara die Zeit für ein Schläfchen. David besuchte Natascha im vorderen Teil des Flugzeugs und erzählte ihr von seiner Bekanntschaft.

Zurück auf seinem Platz holte er den Zettel hervor, den die geheimnisvolle Gestalt ihm im Park hatte zukommen lassen. Er blickte sorgenvoll auf die Zeilen, die da geschrieben standen und jenes Symbol, das er nur zu gut kannte. Vertieft in Gedanken schreckte er auf, als er neben sich die Stewardess hörte. „Tee, Kaffee oder einen Orangensaft für Ihre Tochter?“

„Einen Orangensaft für mich und einen für David, bitte“, meldete sich Clara zurück. David drehte sich verdutzt zu Clara.

„Eine entzückende Tochter haben Sie da“, schmeichelte die Stewardess und hielt ihm und Clara einen Becher Orangensaft entgegen. David stellte den Orangensaft auf die Ablage vor ihm und verstaute den Zettel. „Danke“, sagte David, „aber woher hast du gewusst, dass ich Orangensaft trinke?“

„Na, von dem Foto mit deinem Hasen Goliath“, entgegnete Clara ganz selbstverständlich.

David schaute sie fragend an. „Von dem Foto?“

„Ja“, meinte Clara, „auf dem Foto warst du mit deinem Hasen und hattest ein Glas Orangensaft in der Hand.“ Sie hielt sich mit der Hand die Augen zu. „Du hast braune Augen, dunkelblonde Haare und einen blauen Pullover an, auf dem Foto sind die Haare länger gewesen, und der Pulli war grün. Die Hose ist dieselbe, die du jetzt anhast. Ob es auch die gleichen Sportschuhe sind, kann ich nicht sagen, da hört das Foto auf.“

David war noch damit beschäftigt Claras Antwort zu überdenken, da ließ ihn ihre nächste Frage zusammenzucken.

„Warum ist ein Blatt von dem Kleeblatt schwarz, und was bedeuten die Zeichen daneben?“ „Woher…“, wollte David den Satz beginnen, da fiel ihm Clara schon ins Wort.

„Ich meine die Zeichnung auf deinem Zettel. Ich kann mir Bilder gut merken“, erklärte Clara, die an seinem Gesicht erkannte, dass er nicht wusste, wie ihm geschah. David schüttelte fassungslos den Kopf, er hatte von Erwachsenen mit fotografischem Gedächtnis gehört, aber Clara war keine sieben Jahre alt. „Aber du hast den Zettel doch nur kurz gesehen“, wunderte er sich.

„Ich habe das Bild gesehen“, antwortete Clara. „Das reicht.“

David überlegte, was er Clara antworten sollte. „Es ist nur eine Zeichnung“, erklärte er, „und die Zeichen sind hebräisch.“ Das Anschnallsignal für den Landeanflug unterbrach das Gespräch.


***
David hatte den Koffer vom Förderband geholt und steuerte mit Natascha auf den Ausgang zu. Clara folgte ihnen noch ein Stück, dann trennten sich ihre Wege. David drehte sich mit ausgestreckter Hand zu Clara: „Auf Wiedersehen, Clara Burcely, es hat mich gefreut dich kennenzulernen.“

„Auf Wiedersehen, David“, antwortete Clara, als sie ihre kleine Hand in seine legte. Claras Mutter, eine bildhübsche, schlanke Frau mit langen blonden Haaren, winkte bereits von der anderen Seite der Absperrung herüber. Ihre Kleidung war modisch betont, der orangefarbene Rock harmonierte mit ihrer Designerbrille.

„Ich muss jetzt los“, verabschiedete sich Clara, „und keine Sorge, David, ich werde unser Geheimnis nicht verraten.“ Sie lief zum Ausgang, wo ihre Mutter auf sie wartete.

„Euer kleines Geheimnis?“, fragte Natascha, die gerade dazugekommen war.

„Kinder!“, bemerkte David, „die brauchen Ablenkung, wenn sie so lange ruhig sitzen müssen.“
***
„Natascha, David! Herzlich Willkommen in Wien!“, rief ein bärtiger Mann mit sehr gepflegtem Äußeren, als sie die Lobby des Hotels betraten. „Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Möchten Sie gleich auf Ihr Zimmer? Selbstverständlich haben wir Sie wieder in Zimmer 444 untergebracht.“ Der Manager des Hotels strahlte seine Stammgäste an.

„Ja, danke, Thomas“, erwiderte David, der sich fragte, wie der Manager des Hotels es schaffte, Jahr für Jahr die gleiche originelle Begrüßungsformel zu sprechen.

Zwei Pagen eilten herbei, um sich des Gepäcks anzunehmen, als David bereits den schweren Koffer auf den Gepäckwagen hievte. Ein kurzer, aber sehr lauter Schrei hallte durch den Empfangsbereich des Hotels, als David den Koffer fallen ließ.

„David!“, rief Natascha entsetzt. Thomas stützte David, während sich die Pagen um den Koffer kümmerten.

„Es geht schon“, stammelte David, der sich damit selbst Mut machen wollte.

„Kommen Sie, setzen Sie sich erst einmal“, deutete der Manager auf einen Stuhl neben einer Säule.

„Es ist sein Kreuz“, erklärte Natascha. „Er hatte schon in London Probleme damit.“ Während David schmerzverzerrt auf dem Stuhl kauerte und von Natascha ein Glas Wasser bekam, telefonierte Thomas aufgeregt in der Rezeption.

„Gregor, ein Freund von mir, ist Osteopath hier in Wien“, berichtete Thomas, als er zurückkam. „Seine Praxis schließt in 30 Minuten, aber er hat mir zugesagt, Sie noch anzuhängen.“

„Ein Arzt?“, fragte David mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Ein Osteopath“, erwiderte Thomas, „sein Name ist Gregor Hempel. Er wird Ihnen ganz sicher weiterhelfen. Ich lasse sofort ein Taxi kommen, das Sie hinbringt.“

Während David auf das Taxi wartete, merkte er, wie der Schmerz nachließ. „Ich glaube, wir können uns den Doktor sparen“, heuchelte David.

„Oh nein“, erwiderte Natascha und wurde dabei von Thomas unterbrochen. „David, Ihr Taxi ist da.“

„Ich schaffe das schon alleine“, insistierte David zu Natascha blickend. „Du kannst ja inzwischen den Koffer ausräumen.“ Widerwillig ließ sie sich von David überzeugen, nicht mitzufahren.

David betrat das Haus in der Porzellangasse, zu dem ihn der Taxifahrer gebracht hatte. Im dritten Stock hielt der Lift und David öffnete mit einem elektrischen Taster die Tür zum Warteraum. Er erblickte einige Stühle und Zeitschriften, aber keine anderen Patienten. Sein Termin schien tatsächlich außerhalb der Sprechstunden stattzufinden. Die Tür zum Behandlungszimmer öffnete sich noch bevor David Platz nehmen konnte. „Herr Wilder?“, fragte ein weiß gekleideter Mann, den David Ende dreißig schätzte. „Ja, ich bin David Wilder. Und Sie sind Doktor Hempel?“

„Ich bin Gregor Hempel. Ich leite die Praxis für Osteopathie“, erklärte der Mann mit ruhiger freundlicher Stimme und streckte ihm die Hand entgegen. David erzählte ausführlich von seinen Kreuzproblemen und Hempel hörte ihm geduldig zu, ehe er mit der Untersuchung begann.

Er untersuchte David keine zwei Minuten mit bloßen Händen und stellte dann fest: „Verzeihen Sie mir die direkte Frage, Herr Wilder, haben Sie in Ihrer Beziehung Probleme sexueller Natur?“ David war sich nicht sicher, ob er die Frage richtig verstanden hatte. „Wissen Sie“, fuhr Hempel fort, „Ihr vierter Lendenwirbel hat eine Fehlstellung, das kann auch Beziehungsprobleme als Ursache haben. Man nennt das auch das Sexual-Chakra.“ David war fassungslos. Sollte der Taxifahrer die Adresse verwechselt haben? „Um ganz sicherzugehen, empfehle ich Ihnen jedenfalls ein Röntgenbild machen zu lassen“, fuhr Hempel fort. „Ich lege Ihnen aber dringend nahe, das zugrunde liegende Problem für diese Fehlstellung dauerhaft zu beseitigen, sonst war das sicher nicht Ihr letzter Hexenschuss.“ David merkte, wie seine Skepsis schwand, je länger er der ruhigen Stimme lauschte. „Bitte legen Sie sich auf den Bauch.“ Der Osteopath deutete auf den weiß überzogenen Massagetisch. David starrte minutenlang wortlos auf das Plastikskelett vor sich, während Hempel mit beiden Händen leichten Druck auf seinen Rücken ausübte.

„Unterliegen Sie der ärztlichen Schweigepflicht?“, platzte David heraus.

„Was immer Sie mir als Patient erzählen, wird niemand erfahren“, versicherte Hempel und schob den linken Daumen wiederholt an Davids Wirbel vorbei.

„Meine Frau und ich wünschen uns schon länger ein Kind“, begann David zu erzählen, „Natascha, meine Frau, hatte eine schwere Kindheit. Es fällt ihr heute noch schwer, darüber zu sprechen. Sie ist in einem kirchlichen Kinderheim aufgewachsen.“ David spürte, wie sich die Stelle auf seinem Rücken angenehm erwärmte. „Einer der jüngeren Priester hatte sie und andere Kinder bedrängt. Als Natascha sich damit schließlich an einen der älteren Priester wandte, wurde die Sache vertuscht und der Schuldige zu seinem Schutz versetzt.“ Hempel sprach kein Wort. „Ich habe Angst, sie zu irgendetwas zu drängen, ich will sie nicht unter Druck setzen“, fuhr er fort.

Hempel brach sein Schweigen. „Ich bin kein Spezialist für Beziehungsfragen und kenne Ihre Frau nicht, aber ich kann sagen, dass Ihre Wirbelsäule unter diesem Druck leidet. Ich gebe Ihnen den gut gemeinten Rat, mit Ihrer Frau darüber zu sprechen.“

Auf dem Weg ins Hotel dachte David über Natascha nach, während er das Kärtchen eines Londoner Kollegen von Hempel betrachtete, das dieser ihm mitgegeben hatte. Er erinnerte sich an Nataschas Bitte, die er stets respektiert hatte. Keine Fragen über Gespräche oder Mitglieder der Selbsthilfegruppe. Einmal, als David sie überraschend von einer Sitzung abholen kam, machte sie ihm daheim eine Szene, als hätte er sie vor der ganzen Welt bloßgestellt.

Die kollektive Anonymität der Gruppe nach außen war der wichtigste Schutz ihrer Mitglieder. Um im täglichen Leben keine gesellschaftlichen oder beruflichen Nachteile zu haben, hatten sich alle Mitglieder darauf geeinigt, über die Sitzungen mit Dritten nicht zu sprechen. Es stand natürlich jedem frei, auch außerhalb der Gruppe Hilfe zu suchen, solange dabei keine Sitzungsteilnehmer oder Gesprächsinhalte genannt wurden.

Natascha hatte einen verantwortungsvollen Job als Physikerin am Londoner Imperial College. Noch im September wollte sie der Fachwelt eine kleine Sensation präsentieren. Damit wollte sie auf Basis der Forschungen ihres großen Idols, dem Nobelpreisträger Dennis Gabor, die Holographie grundlegend revolutionieren. Ihre Reputation würde allerdings erheblich darunter leiden, wenn die vorwiegend männlichen Kollegen von ihren Besuchen bei der Selbsthilfegruppe wüssten.
***
„Zimmerservice!“, rief David mit tiefer Stimme als er an die Tür von Zimmer 444 klopfte. Er hörte ein Scheppern gefolgt von Nataschas Stimme, die irgendeine Verwünschung ausstieß. David war sich sicher, darin das Wort „Koffer“ erkannt zu haben. Als sie öffnete, sah er im Türspalt jene Kleider und Schuhe, die sonst die begehbaren Schränke von Natascha füllten.

„David!“ rief sie erfreut, „wie geht es dir und was hat der Doktor gesagt?“

„Der Osteopath“, korrigierte sie David lachend. „Er meinte, ich soll mir zwei Tage Bettruhe gönnen. Ich fürchte die obligatorische Fiakerfahrt muss ich dieses Jahr leider auslassen.“ David erzählte ihr von seinen Erlebnissen bei Hempel, vermied aber den Teil über das Sexual-Chakra und die damit verbundene Aussprache, die er sich für London aufheben wollte.

Die nächsten beiden Tage verliefen ruhig für David. Natascha nutzte jede Gelegenheit, um die Einkaufszentren Wiens zu erkunden, und verbrachte die Nächte damit, ihm ihre Neuerwerbungen für die heimische Sammlung zu präsentieren. David ließ das erstaunlich kalt, da er sich sicher war, dass nicht er es sein würde, der diesmal die Koffer zu schleppen hatte. Irgendwie gefiel er sich in der Rolle, die das Schicksal ihm zugedacht hatte. Natascha bemitleidete und umsorgte ihn ausgiebig, bevor sie zu ihren Touren aufbrach, und auch der Hotelservice übertraf sich diesmal selbst. Seine mitleiderregende Vorstellung in der Lobby hatte Thomas dazu veranlasst, David zum Mittelpunkt aller Hotelangestellten zu machen.

David ließ in seinem luxuriösen Krankenzimmer zunächst keine Langeweile aufkommen. Er vertrieb sich die Zeit tagsüber mit permanentem Wechsel zwischen Hotelfernsehen und dem Goliath-TV auf seinem Laptop, bei dem er mittels Fernzugriff auf seine Webcams selbst Regie führte. Als er am Ende des zweiten Tages zu der Ansicht kam, dass sein Bedarf an Fernsehen gedeckt war, beschloss er, seine Mails zu lesen. Wie langweilig muss mir sein, wenn ich im Urlaub meine Mails lese, fragte er sich selbst. „Und Selbstgespräche führe ich auch schon“, ergänzte er lachend.

Seine Mailbox wollte nicht aufhören, neue Nachrichten aus den Tiefen des Internets hervorzuholen. David hatte die Einstellungen für unerwünschte Mails bereits auf die stärkste Stufe gestellt, konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass das keinen Einfluss auf die Anzahl der Werbemails in seinem Postfach hatte. Anfangs hatte er noch eigene Ordner angelegt, um die sicherlich gut gemeinten Angebote an Penisverlängerungen und Investitionsbeteiligungen an sowjetischen Kernkraftwerken wöchentlich zählen zu können. Mittlerweile beschränkte er sich allerdings darauf, derartige Mails in einen einzigen Ordner zu verschieben, den er täglich leerte.

264 neue Nachrichten zeigte sein Mailprogramm an, als es den Download ordnungsgemäß für beendet erklärte und die Verbindung trennte. David drückte ein Tastaturkürzel, um mit dem von ihm programmierten Filter die gröbste Drecksarbeit zu erledigen, wie er sie nannte. Nur 71 Mails blieben im Posteingang erhalten. „Kein schlechter Schnitt“, grinste David. Nach etwa einer Stunde war die Zahl der Mails, dank Davids Sortierfreudigkeit, noch einmal deutlich reduziert worden. Es gehörte zu seinen Eigenheiten, keine Mails zu öffnen, bevor nicht alle unerwünschten Mails gelöscht waren. Jetzt erst hatte er Zeit, sich um die letzten vier Mails zu kümmern, die er auch lesen wollte.

Er fand eine Buchungsbestätigung von Thomas für den Urlaub, der bereits am nächsten Vormittag zu Ende ging, sowie einen Newsletter der Londoner Schlappohren. David hatte ihn eigentlich für Goliath abonniert und beschloss, ihm den Inhalt vorzulesen, wenn er wieder in London war. Die letzten beiden Mails hatten für ihn unbekannte Absender, und eines davon schien einen Dateianhang zu haben. David öffnete zuerst die andere Nachricht.



Interessant, fand David, als er den Text las. Höchst interessant. Er begann seine linke Augenbraue anzuheben, wie er es immer tat, wenn er an etwas Zweifel hatte. Er notierte einige Worte in seinem elektronischen Kalender und verschob dann das Mail in den Ordner mit der Aufschrift lehit, was auf hebräisch soviel wie ‚Tschüss’ bedeutete. Die Mails des lehit Ordners wurden automatisch nach zwei Wochen gelöscht, sollte David es sich bis dahin nicht anders überlegt haben.

Sein Posteingang hatte nur noch eine Nachricht übrig, und der Virenscanner stufte den Dateianhang, eine Grafikdatei, als unbedenklich ein. Na dann los. Er klickte auf das Mail. Es enthielt keinen Text und der Betreff beinhaltete nur den Namen des Dateianhangs: bewakascha.jpg. David blickte noch einmal auf das Anzeigefenster seines Virenscanners, der immer noch keine Gefahr anzeigte und beschloss, die Grafik zu öffnen.

Der Bildschirm zeigte ein vierblättriges Kleeblatt, dessen unteres Blatt schwarz war. David war seit jenem Abend im Park klar, dass er dieses Symbol bald wieder sehen würde. Er gehörte zu den wenigen noch lebenden Menschen, die die wahre Bedeutung des Kleeblatts kannten. Für ihn verbanden sich damit schmerzhafte Erinnerungen an seine alte Heimat Israel und an seine Zeit beim Shabak, dem israelischen Spionageabwehrdienst.

Nervös begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihm war klar, was der Absender dieser Nachricht, der zweifellos einem der israelischen Geheimdienste angehörte, von ihm erwartete. David war sich nicht sicher, ob er dieser Erwartung gerecht werden wollte. Minutenlang haderte er mit sich selbst, wog Für und Wider ab und beschloss zunächst herauszufinden, welchen Inhalt die Nachricht hatte. Später konnte er noch immer entscheiden, ob und wie er darauf reagieren würde.

David begann die Bilddatei genauer zu untersuchen. Er war überzeugt, dass sowohl die Nachricht selbst als auch der Schlüssel zur Nachricht ins Bild codiert waren. Er brauchte nicht lange, um festzustellen, dass die Dateigröße nicht zu der Einfachheit der Darstellung des Bildes passte. David durchsuchte den Quellcode des Bildes nach überflüssigen Bytes und wurde rasch fündig. Jemand hatte ein Computerprogramm so in das Bild vercodiert, dass man dieses unmöglich bemerken konnte, wenn man sich nur das Bild als solches anschaute. Erst Davids Erfahrung im Umgang mit derartigen Verschlüsselungstechniken machte es möglich, die Datei zu erkennen, die als blinder Passagier in dem Bild verschickt wurde. David extrahierte die kleine Datei aus dem Bild und speicherte sie als eigenständiges Programm ab, um es anschließend starten zu können.

„Das war zu erwarten“, meinte David, als er den blinkenden Cursor neben der Anweisung ‚Passwort eingeben’ erblickte. Er ging zum geöffneten Fenster und dachte nach. Die Antwort würde irgendetwas mit dem Kleeblatt selbst zu tun haben. David erinnerte sich zurück, als er früher fast täglich Passwörter für Israel entschlüsseln musste. Er hatte vor Jahren ein kleines Tool programmiert, das brauchbare Rückschlüsse auf die Anzahl der Zeichen zuließ, die ein Programmierer für eine Passworteingabe vorgesehen hatte. Es funktioniert zwar nur bei einfachen Codierungen - aber mit etwas Glück… David begann seine Festplatte zu durchsuchen. „Irgendwo muss es doch noch sein“, murmelte er konzentriert vor sich hin, um sich kurz darauf mit „Da haben wir dich ja“, selbst zu bestätigen.

Davids Programm begann den Speicher seines Laptops auszulesen und meldete sich nach wenigen Minuten mit einem Report. „Maximal vier Zeichen“, stieß David fast enttäuscht aus, „das Kleeblatt hat vier Blätter“, bekräftigte er. Er tippte arba, das hebräische Wort für die Ziffer vier auf seiner Tastatur und bewegte den Zeigefinger über die Enter-Taste. „Nein“, murmelte er kopfschüttelnd zu sich selbst. „Das ist mir viel zu einfach.“

David hatte zu lange mit dem israelischen Geheimdienst zu tun gehabt, um bei einem so deutlich gelegten Köder anzubeißen. Ihm war klar, dass das Programm eine Lethal-Truth-Abfrage haben würde, die bei Eingabe des Köder-Passworts eine gefälschte Nachricht freigab. Die Idee dahinter war einfach und mörderisch zugleich: Neben dem eigentlichen Passwort wurde auch ein leicht zugängliches Köder-Passwort versteckt, das feindliche Agenten relativ einfach finden konnten. Aufgabe der Lethal-Truth-Abfrage war es, dem Feind vorzumachen, er hätte bereits das richtige Passwort eingegeben und würde daher auch die richtige Botschaft erhalten. Zu viele Agenten hatten im Vertrauen auf diese falschen Botschaften ihr Leben verloren.

David überlegte, wie er aus dem Köder-Passwort das richtige Passwort ableiten konnte. „Vier“, murmelte er immer wieder vor sich hin, während er sich einen Schokoriegel aus der Minibar holte und genüsslich daran kaute. „Irgendwie muss ich diese Zahl umformen.“ Er bemerkte den Strichcode auf der Schokoriegel-Verpackung, unter dem sich die in Zahlen gedruckte Übersetzung des Codes befand. „Aber natürlich“, stellte er kopfnickend fest. Er spürte ein Gefühl in sich aufkeimen, das er seit Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte. Es war, als hätte jemand seinen Jagdinstinkt geweckt. „Da soll noch jemand behaupten, dass Schokolade keine Hirnnahrung wäre“, meinte er und begann die einzelnen Buchstaben des Wortes arba als Zahlen zu lesen.

In alten hebräischen Texten war jeder Buchstabe des Alphabets gleichzeitig eine Zahl. Das Alphabet hatte zudem nur 22 Buchstaben. So war das Zeichen für den ersten Buchstaben des Alphabets gleichbedeutend mit der Ziffer ‚1’ und der zweite Buchstabe mit der Ziffer ‚2’. Diese Zählweise wurde bis zum zehnten Buchstaben beibehalten. Der elfte Buchstabe erhielt die Zahl 20, der zwölfte 30, usw. Der einundzwanzigste Buchstabe bekam den Wert 300 und der zweiundzwanzigste und letzte Buchstabe bedeutete 400. Um Buchstaben und Zahlen beim Schreiben unterscheiden zu können, wurde vor Ziffern ein einfaches Anführungszeichen gesetzt. Das Wort arba bestand im Hebräischen, weil die Sprache mehr als nur ein ‚a’ kannte, aus vier verschiedenen Buchstaben.

David erhielt durch seine Umwandlung der hebräischen Buchstaben in Zahlen die Zahl 273. Als er die Zahl erblickte, war ihm klar, dass er das richtige Passwort gefunden hatte. Die Zahl 273 war in leicht veränderter Form bei zahlreichen natürlichen Größen zu finden. So beschrieb sie unter anderem die absolute negative Temperatur, erklärte das Verhältnis von Mond- und Erdradius oder die Ausdehnung des Gasvolumens, aber auch bei der Beschreibung des weiblichen Zyklus und der Mondumlaufbahn war sie anzutreffen.

David tippte die Zahl in seinen Laptop und drückte die Enter-Taste. Auf dem Bildschirm erschienen drei Zahlenreihen:

48080489

16142384


07082130

David überlegte einige Minuten, was die Zahlen bedeuten könnten, blickte dann entschlossen auf seine Armbanduhr und hatte damit die Entscheidung, der Einladung zu folgen, bereits getroffen. Durch einfaches Aufspalten der Zahlenfolgen in Zweiergruppen kannte er Zeit und Ort des Treffens.



Thomas ist wirklich eine Seele von Mensch, dachte David, nachdem er ihn für seine Zwecke eingespannt hatte. Der Hotelmanager würde Natascha vom Einkaufen abholen und sie direkt ins Casino nach Baden ausführen. Er würde ihr von Davids Bitte erzählen, heute nicht mehr geweckt zu werden, um für die morgige Abreise wieder fit zu sein. Damit hatte David genügend Zeit, um Natascha nichts von dem nächtlichen Ausflug erzählen zu müssen.

Der Mietwagen, den Thomas ihm kurzfristig organisiert hatte, brachte David zügig in den Süden Wiens an die Ausläufer des Wienerwaldes, wo er gezwungen war, den Rest des Wegs zu Fuß fortzusetzen. Er nahm die alte Taschenlampe, die ihm Thomas mitgegeben hatte, und folgte dem Pfeil des Navigationssystems seiner Uhr zu den Koordinaten, die er erhalten hatte: N 48°08’04.89“ und E 16°14’23.84“. Es war der siebente August und David hatte noch 30 Minuten Zeit, um die letzten zwei Kilometer zurückzulegen, bevor die Uhr 21:30 zeigen würde.

Der Weg durch den Wald war breit. Zu seiner Rechten endete der Waldstreifen nach wenigen Metern, wo er von einer hohen Mauer jäh begrenzt wurde. Die linke Seite des Wegs flankierte eine Erhebung, die dicht mit Bäumen bewachsen war. Das Licht des Mondes erhellte den Weg nur schwach, und David war froh, die Taschenlampe mitgenommen zu haben. Unter anderen Umständen wäre dieser Ort für einen Abendspaziergang sicherlich hervorragend geeignet gewesen. Niemand außer David war hier unterwegs und nur der Ruf eines Käuzchens unterbrach gelegentlich die Friedhofsstille.

Der Richtungspfeil seiner Uhr zeigte zunehmend nach rechts und er hoffte darauf, bald ein Ende der Mauer zu erreichen. Als der Entfernungscountdown auf weniger als 500 Meter herunter gezählt hatte, war David klar, dass er nicht umhin kommen würde, die Mauer zu überklettern. Kein leichtes Unterfangen für jemanden, der bis vor zwei Stunden eigentlich zu absoluter Bettruhe angehalten war. Er sah seine Hose an und war sich bewusst, dass ihm auf dem Heimweg noch eine gute Erklärung für Natascha einfallen musste.

Hinter der Mauer erkannte David wieder nur Wald. Eigentlich gebe ich in dem finsteren Wald mit meiner Taschenlampe schon aus der Ferne ein perfektes Ziel ab, dachte er. Er fühlte, wie das Unbehagen in ihm wuchs. Er beschloss einen Trick anzuwenden und befestigte die Lampe an einem langen Stock, den er vor sich trug. Wenn jetzt jemand auf mich schießt, überlegte er, dann ist es unwahrscheinlich, dass er mich trifft. Schon nach wenigen Metern merkte er, wie seine Arme unter der Hebelwirkung des langen Stockes immer weiter nach unten gezogen wurden. Noch 100 Meter, blinkte es auf seiner Uhr. David war so damit beschäftigt gewesen, die Lampe beim Gehen nicht gänzlich in der Erde einzugraben, dass er gar nicht gemerkt hatte, wie nah er dem Ziel schon gekommen war.

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