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Hinweis: Sacer Sanguis II ist Teil einer Trilogie. Der Autor empfiehlt die Bücher in folgender Reihenfolge zu lesen


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Er blickte auf den vom Wald bewachsenen Hügel, der vor ihm lag und folgte einem schmalen Pfad nach oben. Noch konnte er nichts Genaues erkennen, doch es schien ihm, als hinge in den Baumwipfeln eine Art Turm mit eigenwilliger Verzierung. Als David näher kam, erkannte er die Umrisse einer alten Kapelle, an deren Spitze ein Kreuz angebracht war. Es war ihm zuvor unmöglich gewesen, es als solches zu erkennen, da ein Stück des Kreuzes fehlte. Die Kapelle wirkte verlassen und der Zahn der Zeit hatte wohl dafür gesorgt, dass der linke Arm des Kreuzes irgendwann heruntergefallen war.

David wollte die letzte Stufe zum Aufgang der Kapelle betreten, als er hinter sich eine tiefe Männerstimme seinen Namen sagen hörte. Er drehte sich erschrocken herum und riss dabei die Lampe vom Stock, die die Treppen hinunterfiel, um dann mit einem klirrenden Geräusch ihren Dienst zu versagen. Gänzlich ohne Licht starrte er auf die Umrisse eines gut zwei Meter großen, breitschultrigen Mannes. „Na toll“, flüsterte David, „wenigstens bin ich jetzt kein gutes Ziel mehr.“

Er vernahm das Klicken eines Schalters und blickte im gleichen Moment in einen hellen Scheinwerfer, den der Fremde auf ihn richtete. „Wer sind Sie?“, fragte David. Der Scheinwerfer senkte sich ein wenig, um David nicht weiter zu blenden, und so war es ihm möglich, das Gesicht seines Gegenübers zu betrachten. Der kräftige, durchtrainierte Mann musste Mitte vierzig sein, seine braunen Haare hatte er zur Seite frisiert. Die ausgeprägten, harten Gesichtszüge passten nicht sonderlich gut zu dem eleganten Anzug, den man eher an einem Börsenmakler vermutet hätte. „Nennen Sie mich Hiob“, verlangte der Mann.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte David und hob den Kopf, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen.

„Sie haben unsere Nachricht doch erhalten“, antwortete der Mann, der sich ihm als Hiob vorgestellt hatte.

„Dann waren Sie das im Park?“, fragte David.

Hiob nickte. „Mein Auftrag war, Ihnen die Nachricht zu überbringen.“

„Mich zu Tode zu erschrecken, trifft es wohl eher! Ihretwegen habe ich mein ganzes Haus mit Kameras bestückt!“, rief David ärgerlich.

Hiob sah ihn abfällig an. „Sie wollen ein Agent sein?“

„Ein Ex-Agent“, entgegnete David, „mein Platz war im Innendienst. Ich habe unsere Feinde mit dem Kopf bekämpft, nicht mit dem Schwert.“

„Sie meinen, Sie haben den Mossad die Drecksarbeit für Sie machen lassen.“ Mit der abfälligen Bemerkung brachte Hiob seine Geringschätzung für David erneut zum Ausdruck.

„Meine Aufgabe war es, Informationen bereitzustellen, um das Leben von Menschen zu schützen“, rechtfertigte sich David.

„Natürlich“, sagte Hiob zynisch.

David fühlte sich zunehmend unwohl bei diesem Gespräch und drängte nach dem Grund für sein Kommen. „Sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen und wer Sie geschickt hat.“

Hiob blickte zur Seite und aus dem Dunkeln trat ein Mann in das Licht des Scheinwerferkegels, den David bisher nicht bemerkt hatte. David erkannte sofort, dass es sich um seinen alten Freund Alon Kollek handelte, mit dem er beim Shabak zusammengearbeitet hatte. Als hätten die Jahre ihn verschont, zeigte sich der ewig sportliche Frauenschwarm mit den kurzen schwarzen Haaren und den charmanten Sommersprossen im Gesicht. Obwohl Alon ein Jahr älter war als David, war er, solange David sich zurückerinnern konnte, immer um vieles jünger geschätzt worden.

„Ich brauche deine Hilfe, David“, bat Alon.

David schluckte, er hatte Alon seit Jahren nicht mehr gehört oder gesehen, er war sich bis eben nicht einmal sicher gewesen, ob er noch lebte. „Aber warum...“

David wurde von Alon unterbrochen. „Ich weiß nicht, wem ich von meinen Leuten noch trauen kann.“ David erinnerte sich an das Kleeblatt, das er erhalten hatte. Das vierblättrige Kleeblatt war das Symbol einer israelischen Kommandoeinheit, der er und Alon früher angehört hatten.

Während seiner aktiven Zeit beim Shabak hatte er niemals ein faulendes Kleeblatt zu sehen bekommen. Wie bei echten Blättern symbolisierte die schwarze Farbe eines einzelnen Blattes das Erkranken des ganzen Kleeblattes. Für die Kommandoeinheit war es das Zeichen für den schlimmsten denkbaren Zustand. Der Feind hatte die Einheit infiltriert.

David deutete mit dem Kopf auf Hiob.

„Hiob?“, fragte Alon „Du kannst ihm vertrauen, er ist mein Mann für das Grobe.“ Hiob grinste selbstgefällig. Alon begann, David zu erzählen, warum er mit ihm Kontakt aufgenommen hatte.

„In den letzten Monaten haben wir Hinweise erhalten, dass sich ein Unbekannter verschiedene religiöse Reliquien beschafft. Er schreckt dabei auch vor Mord nicht zurück. Wir konnten die Spur bis Jordanien zurückverfolgen, haben sie dann aber verloren. Wir haben dringenden Grund zu der Annahme, dass jemand aus unseren Reihen ihm dabei hilft. Bei einer Routineüberprüfung unserer Mailserver sind wir auf eine verdächtige codierte Botschaft gestoßen, die eine unserer Mitarbeiterinnen nach Jordanien geschickt hatte. Selbstverständlich wollten wir sie zur Rede stellen, aber leider hat sie uns bemerkt. Wir konnten nur noch das sicherstellen.“ Alon zeigte David einen angekohlten Papierfetzen, der wie die Überreste einer Notizblockseite aussah. David konnte mit viel Mühe einzelne Wörter lesen. 20:00... Monza... Eiserne Krone...

„Und?“, entgegnete David. „Das ist doch nur wirres Zeug.“ Alon reichte David einen Zeitungsausschnitt mit der Überschrift Eiserne Krone auf brutale Weise geraubt! David las weiter, der Artikel erzählte von einer Krone der Langobarden, auch eiserne Krone genannt, die aus dem Domschatz zu Monza in Oberitalien geraubt worden war. Zwei Mönche waren dabei von den Dieben auf bestialische Weise im Genitalbereich verstümmelt worden. „Das ist furchtbar“, bemerkte David. „Aber ich verstehe noch immer nicht.“

Alon setzte fort. „Dem Polizeibericht zufolge wurde die Krone nicht nur einfach geraubt. An den beiden Mönchen, die an jenem Abend anwesend waren, wurden grausame Ritualmorde verübt. Man fand die armen Kerle gefesselt und geknebelt in ihren Blutlachen. Wer immer die Krone gestohlen hat, legte großen Wert darauf, dass seine Opfer sehr langsam ausbluten. Dabei wurde aber nicht wie beim koscheren Schlachten von Vieh die Kehle durchtrennt. Durch das Abtrennen der Genitalien sollte der Vorgang des Reinblutens besonders langsam und grausam vonstattengehen. Ein Fußabdruck, den die Polizei in einer der Blutlachen fand, lässt darauf schließen, dass die Täter es nicht eilig hatten und dem Ritual bis zum Ende beiwohnten. Erst dann haben sie sich der Krone bemächtigt.“

„Der innere Reif dieser goldenen Krone wurde der Überlieferung nach aus einem jener drei Nägel gefertigt, mit denen man Jesus ans Kreuz genagelt hatte. Wir sind uns sicher, dass noch andere Morde für weitere Reliquien folgen werden. Aber wir wissen nicht wo und vor allem nicht warum. Und dafür brauche ich dich, David. Du musst diese Datei entschlüsseln, damit wir die gesamte Botschaft kennen. Ich weiß keinen besseren als dich, und wir können sonst niemandem vertrauen, bis wir nicht alle Maulwürfe enttarnt haben.“

David versuchte, die Fülle an Informationen in seinem Kopf zu sortieren. „Warum befragt ihr denn nicht eure Agentin, die diese Datei verschickt hat?“, wollte David wissen, „Ihr habt doch eure Methoden, um Leute zum Sprechen zu bringen.“

Alon schüttelte mit Bedauern den Kopf. David sah ihn entsetzt an. Alon sprach kein Wort, doch Hiob nahm David jeden Zweifel. „Wir haben es versucht, aber sie ließ uns leider keine andere Wahl.“

Aus Alons Jackentasche ertönte ein kurzer Piepton. Hiob verlor mit einem Mal seine Gelassenheit und blickte zu Alon. Dieser zog ein kleines Gerät von der Größe eines Organizers aus seiner Jacke und David, der unmittelbar neben ihm stand, konnte auf dem Bildschirm fünf rote Punkte erkennen. Drei davon standen eng beisammen, während sich die beiden anderen von zwei Seiten auf sie zubewegten. „Wir bekommen Besuch“, meinte Alon. David sah ihn fragend an.

„Ein Infrarotsatellit“, erklärte Alon wortkarg und wandte sich Hiob zu. „Kümmere dich um ihn“, und deutete mit dem Kopf in Davids Richtung. Noch ehe David wusste, wie ihm geschah, war Alon in der Dunkelheit verschwunden. Hiob drückte David durch die Tür in die Kapelle. „Gehen Sie nach oben und bleiben Sie dort, bis einer von uns beiden Sie holen kommt“, verlangte er. „Egal was passiert.“ Er drückte David eine Pistole in die Hand. „Falls Ihnen Ihr Kopf zu schade ist.“ David sah ihn erstaunt an. „Schwert hab ich leider keines, ich hoffe, Sie können damit umgehen.“ Bevor David antworten konnte, hatte Hiob die Lampe ausgemacht und war in der Dunkelheit verschwunden.

David versuchte, sich in der Kapelle zu orientieren. Er tastete sich an der Wand entlang und dachte, so etwas wie Stufen gefunden zu haben. David erkannte sofort, dass es sich um eine Wendeltreppe handelte. Er stieg, ohne etwas sehen zu können, eine enge und morsche Treppe nach oben. Plötzlich gab ein Brett unter seinem Gewicht nach. Das war aber knapp, dachte David, der seinen Fuß noch rechtzeitig auf die nächste Stufe setzen konnte, ehe das Brett unter seinem Gewicht komplett durchbrach. Am Ende der Treppe angelangt, fand er sich in einem Raum mit Fenstern wieder, in dem das schwache Mondlicht nur ahnen ließ, dass es sich um die Sakristei gehandelt haben musste. Eine Tür führte ins Freie auf einen Turm. David beschloss, sich zwischen den Zinnen des Turms hinzusetzen und erst einmal abzuwarten. Er war bereits über den Baumkronen und hätte wahrscheinlich auch bei Tag kaum gesehen, was am Boden rund um die Kapelle vor sich ging. Während David auf dem Turm kauerte und auf die Rückkehr der beiden Agenten wartete, schien die Zeit still zu stehen.

Immer wieder suchte er mit angehaltenem Atem die fast völlig kontrastlose Schwärze rund um die Kapelle ab, um zumindest irgendeinen Hinweis auf die Geschehnisse zu erhalten. Für einen kurzen Moment sah er in einigen hundert Metern Entfernung einen Lichtblitz. David musste kein Experte sein, um zu wissen, dass es das Mündungsfeuer einer Pistole gewesen war. Den Bruchteil einer Sekunde später hörte er den dazu gehörigen Knall, der die unerträgliche Stille für einen Augenblick unterbrach.

Wenige Sekunden später war, nahe der Stelle des ersten Schusses, der Wald überzogen von blitzendem Mündungsfeuer. Es folgte eine Reihe von zehn oder mehr Schüssen in zwei sehr kurzen Abfolgen. Automatische Waffen! David wusste, dass die Agenten des Mossad keine derartigen Maschinenpistolen verwendeten. Für einige Sekunden blieb es still, dann folgten nochmals mehrere Maschinenpistolensalven aus einer Position, die sich etwas weiter links von der ersten befand.

Für einen Moment hätte man eine Stecknadel fallen hören können, doch dann, fast gleichzeitig, begannen zwei Maschinenpistolen, von unterschiedlichen Positionen aus, auf die gleiche Stelle im Wald loszufeuern. Der gleichzeitige Lärm der beiden Pistolen machte es David unmöglich, die Anzahl der Schüsse einschätzen zu können, aber es schien ihm logisch, dass beide Schützen ihr Magazin leer geschossen hatten.

David hoffte, noch einen oder mehrere einzelne Schüsse zu hören, die ihm glauben machen würden, dass einer der beiden Mossadagenten das Feuer mit seiner Dienstpistole erwiderte. Doch es blieb still.

Die Sekunden dehnten sich für David zur Ewigkeit aus. Was würde er tun, wenn weder Alon noch Hiob zurückkäme, um ihn zu holen? Was würde er Natascha erzählen, wenn ihn die Polizei morgen Früh mit zwei Leichen im Wald fände? Oder schlimmer noch, wenn auch er morgen Früh...

David schreckte vor seinen Gedanken zurück. Positiv denken, beruhigte er sich. Du hast schon Schlimmeres überstanden, auch wenn ihm im Moment nichts einfallen wollte. Er blickte mit rasendem Herzen auf die Pistole in seiner verschwitzten Hand. Noch nie war er in die Notwendigkeit geraten, einen Menschen damit bedrohen oder gar töten zu müssen. David erinnerte sich an Hiobs Worte. Er hatte Recht gehabt, als er feststellte, dass die Agenten des Mossad immer die Drecksarbeit für ihn gemacht hätten.

Schnelle Schritte näherten sich der Kapelle, und David spürte das Adrenalin in sich wie nie zuvor. Mit einem Mal hörte seine Hand auf zu zittern. Er war sich sicher, sein Leben vor das eines Angreifers zu stellen, wenn er dazu gezwungen würde.

Jemand betrat die Kapelle und David vernahm kurz darauf das Knarren der Stufen. Wer immer zu ihm hochkam, hatte jetzt die kaputte Stufe erreicht, was ihn aber nicht aufzuhalten schien.

David löste den Sicherungsbolzen der Pistole und umklammerte sie fest mit beiden Händen. Gleich würde sich eine Gestalt dort zeigen, wo David mit seiner Waffe durch die Tür des Turmes auf den Treppenaufgang zielte. David konnte spüren, wie das Blut durch seine angespannten Schläfen gepumpt wurde. Die Zeit stand jetzt endgültig still. David realisierte, dass er gegen eine Maschinenpistole nur das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte. Er musste schießen, bevor er erkennen konnte, auf wen er schoss. Doch was, wenn Alon oder Hiob vor ihm auftauchten und er sie in Panik erledigte?

Noch bevor David zu einer Entscheidung gezwungen wurde, hörte er einen Schuss aus dem Treppenhaus der Kapelle, unmittelbar gefolgt von dem Klicken eines Schlagbolzens. Ehe David wusste, wie ihm geschah, stürmten unmittelbar hintereinander zwei Gestalten in die Sakristei. Eine Gestalt hielt einen länglichen Gegenstand in der Hand und wurde von der anderen zu Boden gerissen. David sah einen Kampf auf Leben und Tod. Die beiden wälzten sich auf dem Boden und versuchten, den jeweils anderen mit bloßen Händen zu erwürgen.

David vermochte nicht mehr einzuschätzen, wie lange der Kampf bereits dauerte. Er überlegte, wer von den beiden als Sieger aus dem Kampf hervorgehen müsste, als er mit der Waffe abwechselnd auf die beiden Gegner zielte. Stühle und andere Möbel zerbarsten krachend unter den beiden. Endlich löste sich einer der beiden und versuchte zu Davids Verwunderung die Treppe hinunterzulaufen. Doch sein Kontrahent hatte ihn bereits gepackt und stemmte ihn, einen unmenschlichen Schrei ausstoßend, mit beiden Händen über den Kopf. Keine Sekunde später wurde ein Körper durch die Fensterscheibe der Sakristei geworfen. Das Klirren der Fenster verstummte im Todesschrei des in die Tiefe stürzenden Verlierers.

Regungslos stand David da, als der dumpfe Aufschlag den Schrei abrupt beendete. Er blickte auf die verbliebene Gestalt, die sich ihm näherte. „Ich werde schießen“, drohte David und bemerkte resignierend, dass das Zittern in seiner Stimme ihm keine Glaubwürdigkeit verlieh.

„Ich würde es vorziehen, wenn Sie stattdessen Ihren Kopf benutzen“, vernahm er, als mit einem Mal die gesamte Spannung von ihm abfiel.

„Hiob!“, schrie er euphorisch.

Hiob kam näher und reichte ihm eine Taschenlampe.

„Sie können sich später bedanken“, empfahl er kühl, „wir müssen hier weg. Sofort!“

David bemerkte einen dunklen Fleck auf Hiobs Hemd, der rasch größer wurde. „Sie bluten!“

„Ich weiß“, entgegnete Hiob. „Aber hier geht es nicht um mich.“ Er drängte David die Stufen hinunter und zum Ausgang der Kapelle, wo Alon auf ihn wartete.

„Sieht so aus, als wären wir wieder unter uns“, äußerte sich Alon, als er den Blick von seinem Satellitentransponder zu David gleiten ließ. „Ich würde sagen, du fährst jetzt zurück ins Hotel“, schlug er dann vor. „Wir sehen uns in London.“ Noch bevor David antworten konnte, waren Alon und Hiob bereits in der Dunkelheit verschwunden.

David lief, so schnell es seine weichen Knie zuließen, zurück zum Auto. Auf dem Weg ins Hotel versuchte er die Erlebnisse der letzten Stunden zu verarbeiten. Was immer er Natascha über den Zustand seiner an der Mauer gescheiterten Hose erzählen würde, konnte nicht die Wahrheit sein.
***
Die Sonne stand schon tief, als der Range Rover schwerfällig über die staubige Straße Richtung Süden fuhr. Diese Ecke Jordaniens hatte seit vielen Jahren keine Bewohner mehr. Abseits der vom Sand stellenweise zugewehten Straße wartete nur die Wüste. Einige wenige, kaum grüne Sträucher teilten das seltene Privileg des verbliebenen Wassers unter sich auf. Andere, völlig verdorrte Büsche erinnerten daran, wie vergänglich das Leben in der Wüste war, wenn das Wasser verschwand.

„Was machst du mit deinem Anteil?“, fragte der junge Mann hinter dem Steuer.

„Nun, zunächst werde ich meinen Wagen auftanken, sobald wir zurück in der Stadt sind, wenn dann noch was übrig ist, lade ich dich zum Essen ein“, meinte seine Begleiterin lachend.

Der junge Mann grinste. „Ich hoffe doch, dass wir uns dafür mehr leisten können“, bemerkte er und hielt ein sehr altes, in schwarzes Leder gebundenes Buch hoch. „Es wird mir ewig unverständlich bleiben, wie jemand für alte Bücher soviel Geld ausgeben kann, wo es DVD-Player für unter 50 Dollar gibt.“

„Zum Glück teilen nicht alle Menschen deine Einstellung zu Kulturschätzen“, erwiderte die Frau neben ihm.

„Nicht weit hinter diesem Hügel muss es sein, Ali“, sagte sie zu ihm und deutete auf die Gesteinsformation auf der linken Seite. Ali steckte das Buch ein, als sie auf eine Anlage mit weißen, flachen Gebäuden zufuhren. Aus der Nähe war klar, dass diese einfach gemauerten Unterkünfte schon lange verlassen sein mussten. Der weiße Kalk, mit dem ihre früheren Bewohner die Fassaden gestrichen hatten, war nur noch an wenigen Stellen zu erkennen. Das kleine Wüstendorf schmiegte sich perfekt in die landschaftliche Trostlosigkeit der letzten 60 Kilometer.

Vor einem der größeren Häuser, das dem Dorf vermutlich als Lager gedient hatte, standen zwei armeefarbene Geländewagen. „Hier sind wir richtig“, bemerkte er und parkte den Wagen neben einer Reihe rostiger Ölfässer. Den Flecken im Sand nach zu urteilen, tropften aus einigen davon seit geraumer Zeit verschiedenste Flüssigkeiten.

Die beiden betraten eine Halle. Im Inneren türmten sich auf der rechten Seite unzählige Holzkisten, die teilweise schon zerfielen. Einige Stapel waren noch mit grauen Planen abgedeckt. Die Fenster, die von außen zu erkennen gewesen waren, waren mit Holzkisten verstellt. Durch den Eingang und die großen Löcher im verrosteten Wellblechdach fiel jedoch genügend Licht. Am Ende der Halle standen zwei Männer um einen Tisch, an dessen kurzem Ende ein kleiner Mann saß, der genüsslich eine Zigarre rauchte.

Als er die beiden Neuankömmlinge erblickte, stand er auf und kam näher. „Chess, wie ich vermute?“, erkundigte sich der Zigarrenraucher mit starkem ägyptischem Akzent und blickte Ali in die Augen.

„Ich bin Chess“, entgegnete die Frau und zog die Aufmerksamkeit des übergewichtigen, knapp einen Meter sechzig großen, dunkelhäutigen Mannes auf sich.

„Unmöglich“, widersprach er ungläubig und musterte Chess ausführlich. Die Mundwinkel hoben sich, als er den Blick von ihren kniehohen, glänzend schwarzen Stiefeln auf die eng anliegende schwarze Hose gleiten ließ, die ihre Figur vorzüglich betonte. Die Taille zierte ein breiter schwarzer Ledergürtel mit silberner Schnalle. Unter der offen getragenen schwarzen Lederjacke ließ ihn eine leicht geöffnete weiße Bluse einiges vermuten. „Andererseits, warum nicht“, lachte er lauthals. „Ich mag Frauen mit Potenzial“, sagte er, den Blick noch immer auf ihre Brust fixiert.

Und mir wird gleich schlecht, wenn ich dieses fette Pickelgesicht noch länger sehen muss, dachte Chess. Er war in der Tat kein erwähnenswerter Anblick. Während die letzten dunklen Haare seiner weit fortgeschrittenen Glatze wichen, schien er andererseits Mühe zu haben, seine Nasenhaare am Herauswachsen zu hindern.

„Eigentlich sind wir deshalb hier“, beendete Ali die Begrüßung, als er das schwarze Lederbuch aus seiner Jacke holen wollte.

Blitzschnell hatten die beiden Männer am Tisch ihre Kalaschnikows auf Ali gerichtet. „Schön langsam“, verlangte der Ägypter nervös und forderte ihn auf, seine Hand vorsichtig aus der Tasche zu holen.

„40.000 Dollar in bar und es ist das Ihre“, argumentierte Chess und deutete Ali mit ihrem Kopfschütteln, das Buch in der Jacke zu belassen. Der Ägypter rief einem seiner Männer am Tisch etwas zu, der ihm sogleich einen silbernen Koffer brachte.

Chess versuchte den Ägypter, der immer noch unmittelbar vor ihr stand, einzuschätzen. Er musste bereits über 50 sein, und augenscheinlich verdiente er sehr gut mit dem Handel von Antiquitäten. Für die Wüste war er mit seinem fein vernähten Maßanzug und den italienischen Lederschuhen nicht annähernd passend gekleidet. Die vermutlich aus Kalbsleder hergestellten braunen Handschuhe passten wie eine zweite Haut. Sie bildeten jede noch so kleine Bewegung seiner Finger an der matten Lederoberfläche ab.

Ali nahm den Koffer und legte ihn auf eine Holzkiste. „Die Kombination?“, fragte er den Ägypter, als er feststellte, dass sich die beiden Öffnungshebel nicht bewegen ließen.

„Ist eingestellt“, antwortete der Ägypter. „Das klemmt nur.“ Ali riss sich den Nagel des linken Daumens ein, als unter Einwirkung von viel Gewalt schließlich beide Schlösser aufsprangen.

„Jetzt mein Buch“, forderte der Ägypter und streckte Ali fordernd die Hand entgegen. Chess nickte. Aufgeregt blätterte er das Buch durch. Chess beobachtete, wie er einzelne Seiten genauer betrachtete.

„Lass uns gehen, Chess“, röchelte Ali mit hustender Stimme.

„Das war wirklich gute Arbeit. Schade, dass ich für Ihren Begleiter keine Verwendung mehr habe“, erklärte der Ägypter und veranlasste damit Chess, ihren Blick auf Ali zu richten, der mit einem Mal hustend in die Knie ging.

„Was ist mit dir?“, beugte sich Chess zu ihm.

„Sie können ihm nicht mehr helfen“, bemerkte der Ägypter mit einem kühlen Kopfschütteln. „Wenn der Wirkstoff erst einmal mit der Haut in Berührung gekommen ist...“, er deutete auf das Schloss des Geldkoffers.

„Was haben Sie getan?“, schrie Chess ihn an. Ali begann sich auf dem Boden zu krümmen und sein Husten brachte blutigen Schleim hervor.

„Faszinierend, die Biowaffen der Amerikaner, nicht wahr?“, lächelnd machte er einen tiefen Zug von seiner Zigarre.

Einer seiner Männer begann mit Handschuhen, das Geld aus dem Koffer zu nehmen und in einen Plastiksack zu stecken.

Ali röchelte zu seinen Füßen und verfiel in krampfähnliche Zuckungen.

„Tun Sie was!“, schrie Chess ihn an. „Sofort“, und wollte ihre Waffe ziehen. Der Ägypter schüttelte teilnahmslos den Kopf und Chess spürte, wie sich der Lauf einer Pistole so heftig zwischen ihre Schultern bohrte, dass ihre Brust davon nach vorne gedrückt wurde.

„Sie haben ja noch mehr davon“, begeisterte sich die Fratze des Ägypters, der mit seiner Hand nach ihrer Brust greifen wollte.

„Ich verspreche, ich mache was Sie wollen, aber bitte helfen Sie ihm“, flehte Chess ihn an. Der Ägypter blickte Chess zum ersten Mal in die Augen, und sie erkannte seine Gier nach ihrem Fleisch und den Wahnsinn, der tief in seinen dunklen grauen Augen loderte.

„Wie leicht man doch das Herz einer Frau gewinnen kann.“

Chess versuchte seinem Blick auszuweichen und seine Aufmerksamkeit damit auf Ali zu lenken, aus dessen Augenhöhlen Blut zu treten begann und dessen Husten immer leiser wurde. „Helfen Sie ihm - bitte.“

Der Ägypter gab einem der Männer ein Zeichen, der daraufhin einen Kanister öffnete und eine durchsichtige Flüssigkeit über Ali schüttete. „Ich hoffe, Sie halten Ihr Versprechen“, grinste der Ägypter, als der zweite Mann seine Waffe hob und einen gezielten Schuss auf Alis Kopf abfeuerte.

„Nein!“, schrie Chess. Doch die Kugel hatte das Benzin bereits entzündet. In den Tränen ihrer Augen spiegelte sich eine Stichflamme, die Ali einhüllte.

Sie spürte, wie ihre Glieder schwer wurden und ein tiefer kalter Schmerz ihren Körper durchlief. In diesem Moment starb jener Teil von ihr, der in den Flammen verbrannte, die aus dem leblosen Körper ihres jüngeren Bruders loderten. Sie wollte das Leid herausschreien, das auch sie zu verbrennen schien, doch ihre Lippen versagten. Wortlos starrte sie in die Flammen, die immer höher loderten. Sie bemerkte die Hände nicht mehr, die ihren Körper nach Waffen abtasteten und ihre Pistole an sich nahmen.

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