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Hinweis: Sacer Sanguis II ist Teil einer Trilogie. Der Autor empfiehlt die Bücher in folgender Reihenfolge zu lesen


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Die beiden Männer betraten einen kleinen Raum vor der Panzertür, wo weiße und blaue Schutzanzüge an der Wand hingen. „Der hier dürfte Ihre Größe haben“, empfahl der Doktor und reichte dem klein gewachsenen Shahid einen blauen Anzug.

„Wofür sind die weißen Anzüge?“, wollte Shahid wissen.

„Die brauchen Sie nur, um Zutritt zur Forschungsabteilung für hämorrhagisches Fieber zu erhalten.“

„Klingt spannend“, entgegnete Shahid und griff nach einem weißen Anzug.

„Italienische Maßanfertigung?“, fragte Qian, als er sah, wie Shahid seine braunen Lederschuhe auszog.

„Diese Schuhe von der Stange ruinieren einem doch nur die Füße!“, entgegnete Shahid und zog die weißen Laborstiefel an.

„Bitte treten Sie etwas zurück“, warnte der Doktor, als er den Zugangscode für die Panzertür eintippte. Die schwere Tür setzte sich mit einem leichten Ruck in Bewegung und Shahid hörte, wie Luft in den Spalt gesaugt wurde. „Unterdruck?“, fragte er.

„Eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme“, antwortete Dr. Qian.

Die beiden betraten einen Raum, der etwa drei Meter lang und vier Meter breit war. Vor ihnen befand sich eine weitere Panzertür, deren Tastenfeld für die Codeeingabe unbeleuchtet war. Langsam schloss sich die erste Tür hinter ihnen und rastete mit einem tiefen Grollen ein. Erst jetzt aktivierte sich die Beleuchtung des Codeschlosses der zweiten Tür, und Qian tippte seinen Zugangscode ein. Die zweite Panzertür glitt zur Seite und gab den Zugang zum Labor frei.

Der riesige Raum war in grünes Licht getaucht. Einige Leute in Schutzanzügen arbeiteten an Mikroskopen und anderen medizinischen Geräten. „Hier entlang, bitte“, gab Qian den Weg vor. Sie gingen an mehreren großen Maschinen vorbei, die Shahid wie überdimensionierte Kühlschränke erschienen. Die Maschinen bildeten einen langen Gang, an dessen Ende ein mobiler Operationstisch aufgebaut war. Auf dem Tisch lag ein etwa 30-jähriger dunkelhäutiger Mann. Seine Arme und Beine waren an den Tisch gekettet. Seinen Mund hielt ein Knebel weit geöffnet.

Neben dem Tisch standen zwei Frauen in blauen Schutzanzügen. „Das ist er?“, fragte Shahid und zeigte auf den am Tisch liegenden Mann, dessen Augen ihn voller Angst anstarrten. Dr. Qian nickte.

„Sagten Sie nicht, er wäre...“

„Jünger?“, fiel im Qian fragend ins Wort. „Wie ich Ihnen schon versicherte, Ihre Auftraggeber werden zufrieden sein.“

Qian ging zu einem Regal aus glänzendem Edelstahl und öffnete eine Lade. Andächtig holte er ein Skalpell heraus und hielt es prüfend gegen das Licht des OP-Scheinwerfers. Danach gab er einer der Frauen ein Zeichen, die daraufhin eine Flasche mit Jod und einige kleine Tücher zum Operationstisch brachte.

„Reinigen“, befahl Dr. Qian und deutete auf den Bauch des gefesselten Mannes. Sorgfältig betupfte die Frau die Stelle mit Jod. „Das reicht“, stoppte sie Qian und prüfte mit seiner Hand die Stelle für den Einschnitt. Der Mann auf dem Tisch zuckte verängstigt zurück, als Qian ihn berührte, musste sich aber wehrlos seinem Schicksal fügen.

Qian setzte das Skalpell an und begann langsam die Bauchdecke zu öffnen. Blut trat aus der Wunde. Zentimeter für Zentimeter durchschnitt Qian die Bauchmuskulatur und immer mehr Blut floss seitlich am Körper des jungen Mannes herunter.

Der geknebelte Mann auf dem Tisch versuchte aus vollem Hals loszuschreien, konnte aber außer einem jämmerlichen Gestöhne nichts hervorbringen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und in seinen entsetzten Augen bildeten sich Tränen.

Flehend starrte er die Frau an, die neben dem Tisch stand. Sie schaute ihn einige Sekunden regungslos an, dann wischte sie wortlos mit ihrer Hand die Tränen von seinen Augen.

Dr. Qian hatte die Bauchdecke bereits mit zwei Metallklammern aufgespreizt. Durch ein Loch konnte Shahid auf die Gedärme blicken. „Ist dahinter schon die Wirbelsäule?“, fragte er. Qian nickte und fuhr mit dem Skalpell in das faustgroße Loch. Er setzte zu einem Schnitt an. Der gefesselte Körper bäumte sich auf unter dem Druck des Skalpells.

Die zweite Frau eilte zum Tisch, um das Becken des Mannes niederzuhalten. Der Doktor musste den Schnitt erneut ansetzen. Wieder versuchte sich der Mann aufzubäumen, doch die Frau drückte ihn mit ganzer Kraft nieder.

„Geschafft!“, freute sich Qian und zog ein kleines blutiges Stück Fleisch hervor.

Eine der Frauen entfernte die Klammern aus der Wunde und die Bauchdecke fiel zusammen. Sie deutete auf ein stählernes Tablett mit mehreren chirurgischen Nadeln und blickte zu Qian. Er nickte und wandte sich Shahid zu. „Kommen Sie“, zeigte er mit der Hand auf ein blaues Gerät.

Kurz darauf hobelte eine Maschine hauchdünne Scheiben von dem Fleischfetzen, den Dr. Qian dem Mann entnommen hatte. Er befestigte eine der Scheiben auf einem Objektträger und legte ihn unter ein großes Mikroskop. Auf dem Monitor darüber sah Shahid nur einen unscharfen Fleck. Qian nahm auf der Tastatur des Mikroskops mehrere Einstellungen vor, und das Bild wurde schärfer.

„Das ist sie!“, rief Qian schließlich aus.

Shahid blickte auf einen grauen warzigen Kreis, dessen Oberfläche von mehreren Narben in kleinere Segmente unterteilt wurde. Die einzelnen Segmente hatten asymmetrische, wabenähnliche Strukturen. „Das ist was?“, fragte Shahid.

„Warten Sie einen Moment.“

Geduldig blickte Shahid auf den grauen Kreis, der sich mit einem Mal entlang der vernarbten Linie zu teilen begann.

„Gesteuerte Evolution, Mr. Shahid. Damit ist es uns möglich, die Zellen schneller und gezielt zu vermehren.“

„Und das bedeutet?“, fragte Shahid.

„Die Zellen im Körper haben unterschiedlichste Funktionen, doch nur die wenigsten von ihnen können sich regenerieren. Wenn unsere Haut verletzt wird, bilden sich rasch neue Hautzellen und die Wunde verschließt sich. Ein abgetrennter Arm wird einem Menschen aber nicht mehr nachwachsen.“

Qian ergänzte: „Wir wissen, dass die Natur einen Schutzmechanismus in komplexe Organismen eingepflanzt hat, der die Regenerationsfähigkeit der Zellen blockiert. Damit wird sichergestellt, dass komplizierte Strukturen wie ein Arm oder Nervenstränge im Rückenmark nicht nachwachsen können. Die Möglichkeit einer Missbildung wäre einfach zu groß.“

Der Doktor ging zu einem kleinen Aquarium, in dem sich zwei Salamander befanden. Er griff hinein und holte eines der beiden Tiere heraus. „Beachten Sie seine Beine, Mr. Shahid, wir haben diesem Tier die Gliedmaßen abgetrennt, und sie sind einfach wieder nachgewachsen.“

„Aber Sie sagten doch gerade...“

Qian unterbrach ihn. „Dieser Salamander ist in der Lage, die Regenerations-Blocker zu umgehen. Er kann seine Nervenzellen in nahezu jede spezialisierte Zelle umwandeln. Damit ist es ihm möglich, selbst innere Organe einfach nachwachsen zu lassen.“ Shahid schien Qian nicht folgen zu können.

„Er hat einen fast unbegrenzten Vorrat an Nervenzellen. Benötigt er einen neuen Knochen, so wandeln sich die Nervenzellen in Knochenzellen um und bilden ein neues Bein. Entfernen Sie ihm ein Auge, so beginnen seine Nervenzellen ein neues zu bilden.“

Shahid begann zu begreifen.

„Leider ist es bisher nicht gelungen, diese Regenerations-Blocker auch beim Menschen auszuschalten. Es gibt allerdings Zellen im menschlichen Körper, die sich trotz aktivierter Blocker vermehren. Krebszellen sind dafür bekannt, dass sie unkontrolliert wachsen und sich dabei mit einer unglaublichen Geschwindigkeit reproduzieren. Krebszellen verlieren aber die Fähigkeit, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Diese Entartung der Zellen führt zu Tumoren. Meinen Wissenschaftern ist es gelungen, die Aggressivität einer Krebszelle mit der Funktion einer gesunden Zelle zu paaren. Unsere A-Zellen unterlaufen die körpereigenen Blocker und beginnen unverzüglich mit der Bildung neuer Zellen.“

„A-Zellen?“, fragte Shahid.

Qian seufzte. „Eine Hommage an die gute alte Zeit. Das A steht für arisch. Die A-Zellen steuern die Evolution. Jede neu entstandene Zelle wird von den Nachbarzellen überprüft und im Falle einer Missbildung von ihnen eliminiert. Aus Millionen von Zellen bleiben nur jene, die den Vorgaben der arischen Zellen exakt entsprechen. Nur diese ausgesuchten Zellen können sich dann weitervermehren und neue A-Zellen bilden. Durch die hohe Wachstumsrate der A-Zellen reicht es aus, wenn zu Beginn nur eine Hand voll arischer Zellen in einer Nährlösung mit Millionen anderer Zellen schwimmt. Binnen weniger Stunden vernichten die A-Zellen jedes unvollkommene Zellmaterial und produzieren weitere A-Zellen.“

Qian ging zurück zum Monitor des Mikroskops. Die beiden ursprünglichen grauen Kreise hatten sich bereits viele Male geteilt. Shahid konnte sehen, wie einige dunklere Kreise andere Kreise angriffen und begannen sie aufzufressen. „Wirklich beeindruckend, Dr. Qian“, gratulierte Shahid.

Der Doktor entfernte den Objektträger und entgegnete: „Ich sagte ja bereits, dass Ihre Auftraggeber zufrieden sein werden.“

„Wie schnell haben Sie ihn fertig?“, fragte Shahid, dessen Augen durch die Ausführungen des Doktors zu glänzen begonnen hatten. „Bringen Sie mir seine Zellen, und Sie haben ihn sechs Monate später zu Ihrer Verfügung.“

„Ausgezeichnet“, entgegnete Shahid.

„Und was machen wir mit ihm?“ Shahid zeigte auf den Mann am Operationstisch.

„Unser Proband hat noch eine kleine Aufgabe zu erfüllen, Mr. Shahid. Bitte folgen Sie mir.“ Sie betraten ein unbeleuchtetes Zimmer, in dem riesige Glasbehälter standen. Shahid konnte zunächst nicht erkennen, wofür sie gedacht waren. Qian drückte auf einen Schalter und Shahid sah, dass es sich um Biotanks handelte. Sie waren fast alle gefüllt mit einer transparenten grünlichen Flüssigkeit. Viele der Behälter enthielten menschliche Körperteile, die an Kabel und Schläuche angeschlossen waren.

In dem Behälter rechts neben Shahid schwebte ein Frauenkörper in der grünen Flüssigkeit. Die Beine der Frau waren mit einem glatten Schnitt abgetrennt worden.

„An ihren Beinen arbeiten meine Kollegen noch“, scherzte Dr. Qian, als er Shahids Interesse an der Frau bemerkte. „Hier entlang, bitte“, drängte er Shahid weiterzugehen.

Sie durchschritten zwei weitere Zimmer und kamen zu einer Luftschleuse. Qian blieb stehen und drehte sich um. Shahid merkte, dass ihnen die beiden Frauen mit dem mobilen Operationstisch gefolgt waren. „Da ist ja unser Patient!“, rief der Doktor aus und blickte auf den ohnmächtigen Körper, der vor ihm lag. Seine Wunde war bereits sorgfältig vernäht worden. „Danke, Sie können gehen“, meinte Qian zu den beiden Frauen. Qian schob den Tisch in die Luftschleuse und forderte Shahid neuerlich auf, ihm zu folgen. „Keine Sorge, Mr. Shahid, wir haben ja weiße Anzüge.“ Er zeigte auf ein Schild, das mit Symbolen darauf hinwies, den hinter der Luftschleuse liegenden Raum nur mit weißen Schutzanzügen zu betreten.

Der Raum war sehr klein und bot gerade genug Platz für den mobilen Operationstisch und die beiden Männer. Auf einem kleinen Regal standen drei silberfarbene Zylinder, die alle das Biohazard-Zeichen vom Eingang trugen. „Bitte wählen Sie, Mr. Shahid.“ Shahid betrachtete sorgfältig die für ihn gleich aussehenden Zylinder und zeigte dann auf den linken. „Eine ausgezeichnete Wahl, Mr. Shahid. Wir haben es für die US-Armee entwickelt, es hat noch keinen Namen. Genau wie er.“ Der Doktor zeigte mit dem Finger auf den Körper, der noch immer regungslos auf dem Operationstisch lag.

Der Doktor begann den Zylinder an einem Ende langsam aufzuschrauben und holte eine deutlich kleinere Glasröhre heraus. Ein feines weißes Pulver wurde darin aufbewahrt. Vorsichtig öffnete Qian den Schraubverschluss der Glasröhre und führte einen kleinen Spatel ein, um etwas Pulver zu entnehmen.

Er streute es auf eine der Handflächen des immer noch regungslosen Mannes und verschloss das Glasrohr wieder sehr säuberlich.

„Den braucht er jetzt nicht mehr“, entfernte er den Knebel. Der Mann auf dem Operationstisch begann schwer zu atmen. Ungerührt verstaute der Doktor das Glasrohr wieder in dem silbernen Zylinder. Danach blickte er auf die Uhr.

Der Mann auf dem Tisch begann leise zu husten und kam wieder zu Bewusstsein. Binnen weniger Sekunden wurde sein Husten stärker. Shahid sah, wie die Bauchdecke des Mannes durch den Husten gedehnt wurde und aus der frisch vernähten Wunde wieder Blut trat.

Der Mann kämpfte, den Hustenreiz zu unterdrücken und schlug wild mit dem Kopf hin und her. Immer weiter dehnte sich die Wunde unter dem Druck und begann bereits an einigen Stellen aufzureißen. Der Husten brachte einen blutigen, zähen Schleim zum Vorschein, während sein Körper wild zuckte.

Nach einigen Augenblicken wurde der Husten deutlich schwächer. Langsam entwich das Leben aus dem gequälten Körper. Seine Muskeln hörten auf zu zucken, und seine blutunterlaufenen Augen blickten starr an die Decke.

„Wirklich beeindruckend“, stellte Shahid fest.

„Es wird durch die Haut aufgenommen, tötet und zersetzt sich danach“, lobte der Doktor seinen Wirkstoff. „Im Blut ist schon nach wenigen Stunden nichts mehr davon nachweisbar.“

Shahid nickte zustimmend.

„Ich lasse Ihnen gern etwas davon einpacken“, bot der Doktor ihm an. Shahids Mundwinkel hoben sich erfreut. Dr. Qian ging zu der Sprechanlage an der Wand und drückte den Knopf. „Wir sind hier fertig, bringen Sie ihn zu den anderen.“


***
Es war ein später Abend im Juli, an dem „Goliath und sein David“, wie sie Ms. Furgerson liebevoll nannte, die Runde begannen. Sie machten nahezu jeden Abend einen gemeinsamen Spaziergang im Süden Londons, wenn das Wetter es zuließ. An den zunächst witzig anmutenden Anblick dieses ungleichen Duos hatten sich längst alle Nachbarn gewöhnt. David grüßte Ms. Furgerson freundlich und folgte Goliath, der den Weg schon auswendig zu kennen schien. Die Strecke bis zum Park verlief ereignislos wie immer.

Beim Betreten des Parks fiel David auf, dass die ansonsten ohnehin spärliche Beleuchtung diesmal gänzlich fehlte. Vollmond, dachte David. Wie praktisch, dass der Strom gerade heute ausgefallen ist. Immer wieder blieben sie stehen, wenn eine Wolke den Mond zur Gänze verdeckte und die Dunkelheit sie einhüllte. „Erinnert mich an die letzte Mondfinsternis“, sagte David lachend zu seinem Begleiter, dessen Zug er an der Leine zwar verspürte, aber dessen Umrisse gänzlich von der Nacht verschluckt wurden. Ein undefinierbares Knacksen ließ David erschrecken. „Hallo, ist da jemand?“, fragte er, ohne zu wissen, aus welcher Richtung er eine Antwort zu erwarten hätte. Stille. Während David versuchte, mit weit geöffneten Augen etwas zu erkennen, hoffte er darauf, dass die Wolke den Mond endlich freigab. Besorgt um Goliath, der wegen seiner Größe ein leichtes Ziel für streunende Hunde war, bückte er sich, um ihn hochzuheben. „Keine Angst, mein Riese“, hauchte er in Goliaths Ohr, als er ihn an sich drückte.

Er wollte Goliath bereits wieder absetzen, als David erneut ein Geräusch vernahm. „Hast du das auch gehört?“, flüsterte er. David meinte, dem zweiten Geräusch Schritte zuordnen zu können. „Hallo?“, rief er erneut in die Finsternis - keine Antwort. „Sind Sie auch gekommen, um die Mondfinsternis zu betrachten?“ Dass er seinen Humor nicht verloren hatte, beruhigte ihn angesichts der Tatsache, dass die Schritte unaufhörlich näher kamen. Erst jetzt bemerkte David, dass sie aus zwei verschiedenen Richtungen kamen. Er drehte sich instinktiv nach rechts, da die Schritte hier schon näher klangen. In diesem Moment gab die Wolke für einen Augenblick Teile des Monds frei, und David konnte schemenhaft Umrisse einer Gestalt erkennen, die sich ihm aus etwa zehn Metern näherte. „Mein Name ist David Wilder, ich gehe hier mit Goliath spazieren und hoffe, wir haben Sie nicht erschreckt“, äußerte sich David in Richtung der Stelle, wo tiefe Schwärze längst wieder jede Sicht genommen hatte.

„Mr. Wilder?“

David drehte sich in die Richtung um, aus der er die vertraute Stimme von Mr. Grumble vernahm.

„Mr. Wilder, sind Sie das?“

„Ja!“, antwortete David kurz.

„Bin ich froh, Sie zu hören, Mr. Wilder, das Licht ist ausgefallen, als ich im Park spazieren ging!“, rief Mr. Grumble ihm zu. In diesem Moment erbarmte sich die Wolke und gab den Mond wieder vollständig frei. „Sieht so aus, als hätten wir jetzt wieder Licht“, bemerkte David, als fast gleichzeitig auch die Parkbeleuchtung anging.

„In der Tat, Sie sind es!“ Mr. Grumble musterte den einen Meter achtzig großen, immer leger gekleideten David Wilder. Auch wenn sich erste Geheimratsecken auf Davids kurz geschnittenem dunkelblondem Haupt abzeichneten, für Grumble, der schon Davids Großvater gekannt hatte, würde er immer der junge Mr. Wilder bleiben.

Grumble reichte David die Hand, der, so wie er, heilfroh war, ein vertrautes Gesicht nach seiner Wanderung in der Dunkelheit zu treffen. David setzte Goliath auf den Boden und schüttelte Grumble die Hand: „Guten Abend, Admiral.“ Grumble hatte bis zu seiner Pensionierung bei der Marine gedient und eine Menge Orden angesammelt, von denen er bei jeder Gelegenheit erzählte.

„Ihr Begleiter scheint eine Nachricht für Sie zu haben“, scherzte Grumble und zeigte hinter David. Jetzt erst erinnerte sich David an die Gestalt hinter ihm und drehte sich um. „Da unten“, bestätigte Grumble und zeigte auf Goliath, während David mit seinen Augen die Gegend nach jener unbekannten Gestalt absuchte, die sich ihm zuvor genähert hatte.

„Er ist weg!“, rief David überrascht aus.

„Weg?“, zeigte sich Grumble verdutzt und deutete abermals mit dem Finger auf Goliath „Aber da sitzt er doch.“

Erst jetzt erkannte David, was er meinte und bückte sich, um den kleinen Zettel aufzuheben, dessen Ecke Goliath gerade mit seinen Zähnen bearbeitete. David erkannte, dass auf dem Zettel etwas von Hand geschrieben stand, doch das Licht reichte nicht aus, um es lesen zu können.

„Ich mache mich auf den Heimweg“, verabschiedete sich der Admiral und streckte seine Hand salutierend zur Stirn.

„Leben Sie wohl, Admiral“, kommentierte David sein eigenes Salutieren und sah dem Admiral hinterher.

„Du hast ihn doch auch gesehen“, meinte er zu Goliath, der sich auf die Hinterbeine stellte, um an den Zettel in Davids Hand zu gelangen. David schüttelte den Kopf. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, wir knabbern nichts an, was andere wegwerfen oder noch verwenden.“ David suchte den nächsten Papierkorb, um das Papier dort zu deponieren. „Kein Wunder, dass die Leute alles einfach fallen lassen, wenn es hier nirgends Mülleimer gibt.“

Unter der letzten Lampe, die schon beim Ausgang des Parks montiert war, fand er, wonach er suchte. Als er den Zettel schon über dem Papierkorb loslassen wollte, konnte er lesen, was darauf stand. David zuckte zusammen, lange starrte er fassungslos auf die Zeilen. „Das kann kein Zufall sein“, murmelte er. „Die meinen mich.“ David steckte den Zettel in seine Brieftasche und machte sich mit Goliath auf den Heimweg.


***
„Ob Goliath wohl alleine klarkommt?“, fragte David sich leise. Er ging nochmals seine generalstabsmäßig geplante Checkliste durch, bei der jeder Punkt mittlerweile vier Häkchen hatte. Während David Webcam Nummer acht einem finalen Funktionscheck unterzog, meinte er Goliaths traurigen Blick in seinem Rücken spüren zu können. Er drehte sich um und blickte auf ein Paar tiefschwarze Kulleraugen hinunter. „Keine Sorge“, beruhigte David. „Es gibt keinen Raum im Haus und keinen Platz im Garten, wo ich dich nicht mit den Webcams sehe.“ David griff zu seinem Handy und hielt es dem glänzenden Augenpaar entgegen. „Siehst du, meine Software erkennt automatisch, wo du dich befindest und liefert mir das Bild der entsprechenden Kamera per Knopfdruck auf mein Handy. Ein Anruf bei Ms. Furgerson und zwei Minuten später ist sie bei dir.“ Goliath schien beim Namen von Davids Nachbarin kurz zusammenzuzucken. David lachte: „Kopf hoch! Wir holen sie ja nur im Notfall, wenn die Elektronik versagt, und wir beide wissen, dass das nicht der Fall sein wird.“

„David!“, hörte er Nataschas Stimme aus dem Erdgeschoss. „Willst du mir nicht endlich mit den Koffern helfen?“

„Komme schon!“, rief David hinunter und beugte sich zu Goliath. „Na, dann pass mir gut auf unser Haus auf, mein Riese.“ Goliath hob zustimmend das rechte Ohr an, als David ihn zum Abschied auf den Kopf küsste.

„Wie lange willst du dich denn noch von diesem Tier verabschieden?“, herrschte ihn Natascha an, als er nach unten kam. „Goliath ist sehr sensibel“, rechtfertigte sich David.

„Du hast in den letzten zwei Wochen unser gesamtes Haus in eine Festung mit Infrarotkameras und Sensoren umgebaut, nur weil wir für drei Tage nach Wien fahren. Meinst du nicht, dass es gereicht hätte, zwei Schüsseln mit Futter und Wasser aufzustellen und Ms. Furgerson den Schlüssel zu geben?“ Nataschas Logik war David nicht verborgen geblieben, er suchte aber bereits seit Wochen nach einem Vorwand, um das Haus sicherer zu machen. Eigentlich war David kein Freund von Kameras, aber jener Park-Spaziergang mit Goliath vor zwei Wochen hatte seine Einstellung zu diesem Thema grundlegend verändert.

Gern hätte er Natascha davon erzählt, um sich jemandem anzuvertrauen, aber David wusste, dass er sie damit nicht belasten konnte. Ihre regelmäßigen Besuche in der Selbsthilfegruppe schienen ihren Zustand zwar geringfügig zu verbessern, aber von einer Belastbarkeit mochte David nicht sprechen. Er beschloss daher, jede zusätzliche Aufregung und Verunsicherung von ihr fernzuhalten.

„David?“ Er zuckte zusammen. „Hörst du mir überhaupt zu?“ Natascha streckte ihm einen großen Koffer entgegen, den sie mit beiden Händen nur mühsam anheben konnte. „Wir versäumen unseren Flieger, wenn wir nicht endlich losfahren.“
***
„Was meinen Sie mit der Flieger ist überbucht?“, fragte Natascha die Dame am Schalter des Flughafens.

„Es ist schon sehr kurz vor dem Abflug, weshalb wir bereits Plätze an die Passagiere auf der Warteliste vergeben haben. Sie sollten wenigstens eine Stunde vor Abflug einchecken.“

Das war eindeutig nicht die Antwort, die Natascha hören wollte. „Hören Sie“, erzürnte sich Natascha, „mein Mann und ich verbringen seit sieben Jahren unseren Hochzeitstag in Wien, wo wir geheiratet haben. Wir fliegen immer mit Ihrer Airline und hatten noch nie derartige Probleme.“

„Ich versichere Ihnen, mein Möglichstes zu tun“, erwiderte die Dame am Schalter mit freundlicher Stimme. Sie begann auf der Tastatur ihres Terminals herumzudrücken. „Wir hätten da noch zwei Plätze, die allerdings nicht nebeneinander sind.“

Noch bevor Natascha ihre Antwort formulieren konnte, bestätigte David: „Die nehmen wir, herzlichen Dank.“ David brauchte Natascha nicht anzusehen, um zu wissen, welchen Blick sie ihm gerade zuwarf. Er bückte sich rasch nach dem Ungetüm von Koffer, das in seinen Augen ausgereicht hätte, um eine Großfamilie auf Weltreise zu begleiten. Beim Anheben spürte er einen leichten Stich im Kreuz und hielt kurz inne.

„Schon wieder dein Kreuz?“, fragte Natascha und griff unterstützend nach dem Koffer.

„Ja“, seufzte David. „Das Übliche.“

Davids Platz befand sich im hinteren Teil der Maschine neben einem kleinen Mädchen, das direkt am Fenster saß. Ihre langen, hellbraunen Haare waren an beiden Seiten zu Zöpfen geflochten, an deren Ende eine rote und eine gelbe Haarspange klemmte. „Hallo junge Dame, reist du alleine?“, fragte David ungläubig, als er seinen Laptop in einem freien Fach verstaute.

„Ja! Und du?“, antwortete die Kleine mit dem freundlichen Gesicht selbstbewusst und entlockte David ein Lächeln.

„Nein“, entgegnete er, „meine Frau sitzt weiter vorne in der Maschine.“

„Hast du mit ihr gestritten?“, fragte das Mädchen besorgt.

„Nein“, bemerkte David abermals. „Ich habe mir wohl einfach zu viel Zeit beim Verabschieden gelassen.“

„Von wem?“, fragte sie. David erkannte, dass dieser Flug anders verlaufen würde als die bisherigen Flüge nach Wien. Bevor er sich setzte, holte er ein Bild aus seinem Portemonnaie und hielt es dem Mädchen entgegen.

„Ein Hase! Oh, ist der knuddelig!“, rief die Kleine entzückt. Ihre runden braunen Augen glänzten vor Freude.

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