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Text: Prof. Dr. Rudolf Grulich, bearbeitet durch Volker Niggewöhner Anschrift: Postfach 70 10 27, 81310 München


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Deutscher Zweig, Geschäftsführer: Klaus Wundlechner

Text: Prof. Dr. Rudolf Grulich, bearbeitet durch Volker Niggewöhner

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Vertreibung im Spiegel der Literatur

Ein englischer Roman über Vertreibung in der Türkei




Vorgestellt von Prof. Dr. Rudolf Grulich


Über Vertreibungs- und Volksgruppenprobleme schreiben meist Historiker und Politologen, aber die menschliche Seite von Umsiedlung, Flüchtlingstrecks und Deportationen kommt am deutlichsten in der Literatur zum Ausdruck. 2004 hat der englische Autor Louis de Bernières den Roman „Birds Without Wings“ vorgelegt, der auf deutsch unter dem Titel „Traum aus Stein und Federn“ erschienen ist. Er schildert die Welt Kleinasiens vor dem Ersten Weltkrieg im Südwesten Anatoliens, als Griechen und Türken, Muslime und Christen noch zusammen lebten. Als Widmung stellt der Autor voraus:

Auf der großen Bühne des Lebens kann dieses Buch nur dem Gedenken an die Millionen ziviler Opfer auf allen Seiten gewidmet sein, die in den Jahren, von denen es handelt, bei Todesmärschen, Flüchtlingstrecks, Verfolgungs-, Ausrottungs- und Umsiedlungskampagnen ihr Leben ließen.“
Die Irish Times sprach von einem „überwältigenden, poetischen Roman über die wichtigen Dinge des Lebens: Liebe, Tod, Ehre, Scheitern und Schuld.“ Louis de Bernières lässt Griechen und Türken auftreten, sich erinnern und ihre Sorgen, Ängste und Enttäuschungen von der Seele schreiben. Dazwischen schiebt er Kapitel über das Leben Mustafa Kemals, der als Atatürk die heutige Türkei schuf.

1881 kam dieser Mustafa zur Welt, als „Mazedonien (was eine schöne Ironie der Geschichte ist) der Welt ihren größten Türken schenkt, so wie es ihr einst den großen griechischen Eroberer gab.



1881 ist Mazedonien die Heimat von Walachen, Griechen, Bulgaren, Türken, Serben, Slawen und Albanern. In Saloniki, wo das Kind zur Welt kommt, gibt es außerdem „Franken“ aus vielerlei europäischen Ländern sowie eine große jüdische Gemeinde, deren Vorfahren einst vor den spanischen Verfolgern hierher flohen. Die Hälfte der Juden sind muslimischen Glaubens, nach Enttäuschungen, die ihre Väter im 17. Jahrhundert mit einem lokalen Messias erlebten. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wird es in Saloniki keinen einzigen Juden mehr geben; sie werden von den Nazis ausgelöscht sein, und ihr skurriles altmodisches Spanisch mit ihnen.

Das Kind kommt in eine Welt, in der der Keim zum Nazitum längst gelegt ist; wo die Saat in der Erde auf den schwarzen Regen wartet. Aufgestachelt von Russland und Österreich-Ungarn kündigen die Völker des Balkans und des Nahen Ostens einander die friedliche Koexistenz auf, in der sie so lange gelebt haben. Hitzköpfe und Ideologen predigen jeder dieser Nationen, dass sie anders und besser als die anderen sei. Die Schlachtrufe lauten: ‚Serbien den Serben, Bulgarien den Bulgaren, Griechenland den Griechen, Türken und Juden raus!’ Seit Jahrhunderten haben die Völker sich vermischt, aber keiner nimmt sich die Zeit und fragt, was ein Serbe oder Mazedone oder Bulgare oder Grieche denn überhaupt sei. Es muss nur eine bestimmte Zahl von Glücksrittern da sein, die sich Befreier oder Freiheitskämpfer nennen und sich diese Ideen zunütze machen, und sie werden Banditen oder Volkshelden im Kampf aller gegen alle sein.“
Man könnte hier alle Einzelpersonen des Romans vorstellen oder nur allgemein betonen, wie der Autor im Zerbrechen einer Liebe den Untergang einer ganzen Epoche erspürt. Wenn sich Iskander der Töpfer oder Philotei erinnern, wenn Drosoula aus dem Exil bzw. der Vertreibung in Korfu die multinationale und multikonfessionelle Welt von Fethiye schildert, das einst Telmessos und noch früher Megri hieß, dann wird man ebenso an ostdeutsche Vertreibungsgebiete erinnert wie bei den Passagen, in denen der Autor als Erzähler auftritt. Schon die Kapitelüberschriften machen neugierig: „Geschichten von der Reise nach Smyrna“, „Die Demütigung Levons des Armeniers“, „Die tscherkessische Geliebte“, „Die Vertreibung“, „Drosoula erzählt von der Fahrt ins Exil“ usw.

Da klagt die vertriebene Drosoula auf Korfu, dass sie im Aufnahmeland nicht verstanden wird: „...das Land hier ist voll von Leuten wie mir, die aus Anatolien hierher gekommen sind, weil sie uns dort nicht haben wollten. Als ich herkam, habe ich nicht mal Griechisch gekonnt, wisst ihr das? Manchmal träume ich heute noch auf Türkisch. Ich bin hier, weil die Christen fort mussten, und für die anderen waren eben alle Christen Griechen. Die Leute, die in der Welt das Sagen haben, die werden nie verstehen, wie kompliziert diese Welt in Wirklichkeit ist, und wenn ihr mich Türkin nennt, glaubt ihr vielleicht, ihr beleidigt mich, aber es ist ja die halbe Wahrheit, und ich schäme mich nicht. Als ich hierher kam, haben die Leute ‚Türkin’ gerufen, und das war nicht gerade als Kompliment gemeint, und sie drängelten sich vor und schubsten mich beiseite und murmelten Beschimpfungen, wenn ich vorbeikam. Vergesst nicht, ich bin ja nicht wie ihr. Ihr seid mit der Vorstellung groß geworden, dass alle Türken Teufel sind, aber ihr habt nie einen gesehen und werdet wahrscheinlich auch nie einen zu Gesicht bekommen, und ihr habt sowieso von nichts eine Ahnung, und es sind immer Dummköpfe wie ihr, die den ganzen Ärger machen. Also spuckt gefälligst nicht, wenn ich vom Imam rede, nur weil er Türke war. Der Imam war ein Heiliger, und wenn ihr das nicht hören wollt, dann erzähl ich es eben jemand anderem, der nicht so starrköpfig ist wie ihr. Ich will euch noch etwas sagen, und es ist mir egal, ob ihr das hören wollt oder nicht; nämlich dass ihr Leute hier wie ein Hund gelebt habt, bevor die klugen Christen aus Kleinasien kamen, so blöd wart ihr, und die Insel war ja so gut wie menschenleer, weil jeder, der auch nur ein Fünkchen Verstand besaß, sich davongemacht hatte. Also, keine Spuckerei mehr, wenn ich vom Imam spreche, und wo wir schon dabei sind, will ich euch auch noch an etwas erinnern, was ihr bestimmt nicht hören wollt, und das ist, dass die Türken uns in Hunderten von Jahren Fremdherrschaft nicht halb so viel Schlimmes angetan haben wie wir Griechen uns gegenseitig in der Zeit des Bürgerkrieges, und ich weiß, wovon ich rede, das könnt ihr mir glauben.“


So wie Sudetendeutsche oder Schlesier seit Jahren in die alte Heimat fahren und oft nur Ruinen vorfinden, gibt es auch den griechischen Nostalgie-Tourismus nach Kleinasien. Da treffen sich auch schon Griechen und Türken zu gemeinsamem Gebet:

Vor einigen Jahren kam ein Bischof aus Rhodos, und ein Imam kam aus Fethiye, und in den Trümmern der Kirche des Aghios Nikolaos beteten sie gemeinsam für die Wiedergeburt der Stadt und ihrer Einwohnerschaft ─ wo Seite an Seite einst Christen lebten, die nur Türkisch sprachen, es aber in griechischen Buchstaben schrieben, und Muslime, die ebenfalls Türkisch sprachen und es ebenfalls auf Griechisch schrieben. Weder Gott, aus Gründen, die Er selbst am besten wissen wird, noch die türkische Regierung, aus nahe liegenden Gründen finanzieller Art, haben die Gebete von Bischof und Imam erhört, und so verharrt das Städtchen Eskibahçe, dessen griechischer Name in byzantinischer Zeit Paleoperiboli lautete, in seinem Todesschlaf, ohne Grabinschrift und ohne einen Menschen, der noch an es denkt.“


Dann schildert der Autor liebevoll die Schönheit der Stadt vor der Umsiedlung bzw. Vertreibung. Anhand der Kapitel über Mustafa Kemals Leben, weiß der Leser um die Chronologie der historischen Ereignisse der großen Politik, so als 1908 nach der Jungtürkischen Revolution Türken, Griechen, Araber, Juden, Serben, Armenier, Bulgaren und Walacher im neuen Parlament in Konstantinopel sitzen, aber es gleichzeitig weiter rumort:

Achtzig Kontorrevolutionäre werden aufgehängt, darunter der Anführer des muslimischen Aufstandes, aber auch der Unglückliche, der für den Sultan den Tabak mischte. In Adana ruft der heißblütige, alles andere als christliche Erzbischof Museg seine Brüder auf, zu den Waffen zu greifen und die Muslime zu töten, und im Gegenschlag wird die Stadt niedergebrannt, zwanzigtausend Armenier und zweitausend Muslime finden den Tod. Kemal Pascha erscheint und sorgt für Ruhe, lässt siebenundvierzig Muslime und einen Armenier hinrichten.“


Rustem Bey findet in Istanbul seine tscherkessische Geliebte, die eigentlich eine Griechin ist, aber was bedeutet das in der Weltstadt am Bosporus?

Es heißt, damals habe man in den Straßen von Istanbul siebzig verschiedene Sprachen hören können. Im gewaltigen Osmanischen Reich, auch wenn es noch so geschwächt und zusammengeschmolzen war, war es alltäglich geworden, dass Griechen in Ägypten lebten, Perser sich in Arabien niederließen, Albaner sich mit Slawen vermischten. Christen und Muslime aller erdenklichen Glaubensrichtungen, Juden, Aleviten, Anhänger des Zarathustra und des Pfauenengels lebten in den unwahrscheinlichsten Mischungen und an den unwahrscheinlichsten Orten Seite an Seite. Es gab muslimische Griechen, katholische Armenier, arabische Christen und serbische Juden. Istanbul war die Nabe dieses Rades mit der holprigen Felge, und auch wenn es damals niemand wissen konnte, sollte dieser Hexenkessel, dieses Babylon zum Vorläufer des Lebens in allen Metropolen der Welt ein Jahrhundert später werden, auch wenn Istanbul selbst, so paradox das war, sein kosmopolitisches Flair bis dahin längst verloren hatte. Vielleicht würde das bunte Leben eines Tages zurückkehren, wenn es nur dem neuen Jahrhundert gelang, den mörderischen Götzen des Nationalismus vom Sockel zu stürzen, den hohlen Patriotismus der moralisch Verkümmerten ein für alle Mal zu überwinden.“


Leider ist das Istanbul bzw. Konstantinopel und dem Osmanischen Vielvölkerstaat ebenso wenig gelungen wie Wien und der Donaumonarchie. Auf der Rückreise nach Smyrna erfährt Rustem bereits, wie angespannt die Lage ist: „...wie die jungen griechischen Männer der Stadt über die Stränge schlagen, ohne dass die Älteren etwas dagegen tun, wie sie frech und unverschämt werden, ehrwürdigen alten Männern den Fes vom Kopf schlagen, ehrbare Frauen am Schleier zupfen und in ihrer gottlosen Schrift die Mauern mit großgriechischen Parolen beschmieren. Rustem Bey wird wütend, zieht heftiger an seiner Zigarette und fragt: ‚Wieso lässt der Gouverneur nicht ein paar von ihnen hinrichten? Wo soll das noch hinführen?’ Aber in dieser Stadt ist die Mehrzahl der Bevölkerung griechisch, und die Griechen sind es, die Geld und Einfluss haben, und sie können sich alles erlauben. Er muss allerdings auch zugeben, dass Smyrna ein weitaus unterhaltsamer Ort ist als sein eigenes Städtchen. Der levantinische Überschwang hebt seine Stimmung. Er liebt den geschäftigen Hafen, wo die Schiffe aus so unvorstellbar exotischen Orten wie Buenos Aires oder Liverpool kommen, und er bewundert die mächtigen Kaufmannhäuser am Kai. Er mag die Art, wie die griechischen Frauen, die Augen schwarz getuscht, still an ihren Fenstern sitzen, wo sie dem Leben draußen zuschauen und sich zugleich bewundern lassen. Er mag es, wie manche Männer aus der griechischen Halbwelt sich den Schädel rasieren und nur noch einen langen Zopf im Nacken stehen lassen. Es wäre, geht ihm durch den Kopf, keine schlechte Idee, in Smyrna zu leben. In Smyrna wird sich ein Mensch nie langweilen und nie einsam sein. ‚Griechen sind nun einmal, wie sie sind’, sagt Leyla einfach nur und lächelt ironisch dazu.“
In dieser Zeit 1912 kämpft Mustafa Kemal in Libyen: „Während er in Libyen ist, nehmen die Griechen seine geliebte Heimatstadt ein, und er wird sie nie wieder sehen. Die Griechen zerstören nacheinander sämtliche Moscheen, und alle Türken, die es sich irgend leisten können, verlassen Saloniki. Das große Feuer von 1917 wird die Stadt seiner Jugend noch weiter verwüsten, und die letzten Reste der türkischen Bevölkerung werden am Ende dieser Geschichte im Katastrophenjahr 1923 zwangsumgesiedelt. Die Kolonie spanischer Juden kann vorerst noch bleiben, aber sie erlischt zwanzig Jahre später, als die Griechen Saloniki ihrerseits an die Nazis verlieren.“
Es ist die Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch der beiden Balkankriege, in denen Italien bereits Eroberungspläne im östlichen Mittelmeer durchsetzt. Dem Autor ist zu danken, dass er objektiv aufzeigt, wie das Zusammenleben der Völker von Außen vergiftet wird durch brutale Einmischung in die Politik der Türkei:

Die Italiener greifen Beirut an, nehmen die Dardanellenfestungen unter Beschuss und besetzen Rhodos und einige weitere Inseln des Dodekanes. Sie schicken Torpedoboote in Richtung Istanbul. Dort verbreitet die einst so viel versprechende Revolutionsregierung Willkür und Chaos. Sie löst das Parlament auf und manipuliert das Ergebnis der berüchtigten Sopalçi-seçim-Wahlen zu ihren Gunsten. So wie das Komitee für Einheit und Fortschritt einst die despotische Regierung des Sultans bekämpft hatte, arbeitet jetzt eine ähnliche Gruppe von jungen Offizieren gegen die Willkürherrschaft des Komitees. Paradoxerweise fordern sie den völligen Rückzug des Militärs aus der Politik und freie Parlamentswahlen.



Sie haben Erfolg, und eine neue, liberale Regierung übernimmt die Amtsgeschäfte just in dem Augenblick, in dem die Völker des Balkans sich auf Betreiben der Russen zum ersten und einzigen Mal in ihrer Geschichte verbünden, um gemeinsam ihr Ziel zu verfolgen. Serbien hat es auf die Adriaküste abgesehen, Bulgarien strebt ans Mittelmeer, und Griechenland will Thrakien. Alle drei wollen so viel wie möglich von Makedonien. Die Balkanstaaten tun sich zusammen zu einem gemeinsamen militärischen „Manöver“. In der Zwischenzeit sind auf dem Balkan 120 osmanische Bataillone demobilisiert worden ─ eine unüberlegte Geste der Besänftigung. Am 8. Oktober 1912 erklärte der König von Montenegro dem Osmanischen Reich plötzlich den Krieg, und Serben, Griechen und Bulgaren ziehen wenig später nach. Eleftherios Venizelos, der griechische Premier, kündigt an, sein Volk werde den unterjochten Christen zu Hilfe eilen. Für die muslimische Bevölkerung, auf die die Eindringlinge stoßen, beginnt eine unvorstellbar grausame Verfolgung, an die heute kein Mensch mehr erinnert. Sie sind auf der Flucht, wahnsinnig vor Angst und Erschöpfung, aufgerieben zwischen den gleichermaßen grausamen Armeen, allesamt Plünderer und Vergewaltiger. Es kommt zu schrecklichen Massakern an Muslimen, vor allem durch die Bulgaren. Viele der Flüchtlinge werden sich nach Istanbul durchschlagen, wo sie im Winter in den Innenhöfen der Moscheen zu Tausenden erfrieren und verhungern. Einige Zeit später wird Mustafa Kemal durch Zufall seine Mutter und Schwester entdecken, gerade noch rechtzeitig, um sie vor diesem Schicksal zu bewahren.“
Während sonst der westliche Leser nur die antitürkischen Schilderungen der sogenannten christlichen Völker (Griechen, Serben, Bulgaren) kennt, sieht Bernières auch das damalige Leid der Türken, die immerhin fast 500 Jahre auf dem Balkan waren. Mit Sorge sehen viele Griechen Kleinasiens die antitürkische großgriechische Politik Athens. Als der Schulmeister Leonidas erfahren muss, dass auch sein Sohn in die Philiki Etairia eingetreten war, tobt er:

„‚Was?’, brüllte sein Vater, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte er den Bissen, den er gerade im Mund hatte, über den ganzen Tisch geschleudert. ‚Du bist der Freundschaftsgesellschaft beigetreten? Bist du denn noch bei Trost? Willst du, dass sie uns verhaften? Willst du, dass deine Mutter und ich ins Gefängnis gesteckt werden?’ Er sah seinen Sohn finster an, machte eine Geste, die all die üppig behangenen Wände umfasste, die mit Schnitzereien verzierten Möbel, die schweren Teppiche, den silbernen Leuchter und den Samowar. ‚Willst du, dass wir alles verlieren?’



Die väterliche Wut ließ Leonidas erbleichen, aber er sagte nur: ‚Es ist für Griechenland.’

Vielleicht sollte ich erklären, dass die Philika Etairia Geheimgesellschaften waren, deren Ziel ein neues vereinigtes Griechenland war, und es gab viele, die sagten, Thrakien, die Schwarzmeerküste, die türkische Westküste und natürlich Konstantinopel seien, historisch gesehen, griechisch und größtenteils von Griechen bewohnt und sollten deshalb auch wieder zu Griechenland gehören. Sie träumten von einem neu erstandenen byzantinischen Reich, davon, aus der Hagia Sophia wieder eine Kathedrale zu machen, ein ‚Großgriechenland’ zu schaffen, auf dessen Thron wieder ein König Konstantin sitzen sollte, und das ganze Hirngespinst war bekannt unter dem Namen ‚Große Idee’, Wer weiß, vielleicht gibt es Leute, die es heute noch so nennen.

Diese Schwachköpfe mit ihrer Großen Idee’, donnerte sein Vater. ‚Was sie sich vorstellen! Kann Griechenland etwa einen Krieg gegen die Türken gewinnen? Hast Du eine Vorstellung, wie viele Türken es gibt? Du bist verrückt! Du möchtest Athen als Hauptstadt haben? Warst du je in Athen? Ein heruntergekommenes Kaff, mehr nicht! Ein jämmerliches Provinznest mit ein paar Ruinen, aber keinem anständigen Theater, die Straßen voller dummer, unkultivierter Leute, von den Häusern blättert die Farbe, und die Einheimischen können nicht einmal anständig Griechisch! Davon träumst du? Du bist ein Dummkopf.“ Leonides versucht sich zu verteidigen. ‚Das neue Griechenland würde von Konstantinopel aus regiert, Vater, genau wie das alte.’

Wir werden bereits von Konstantinopel aus regiert’ erwiderte der Vater. - ‚Von Türken.’-

Ja und, was macht uns das denn aus? Hier in Smyrna haben wir die schönste, freundlichste Stadt, die man sich nur vorstellen kann. Es geht allen gut. Es kann uns egal sein, was in der Hauptstadt geschieht. An allen wichtigen Stellen sitzen Griechen, wir haben die Macht in der Stadt. Wir haben praktisch unsere eigene Hoheit hier. Wir leben im Paradies, und du und deine Freunde, ihr wollt uns mit eurer lächerlichen Großen Idee daraus vertreiben! Das ist Schnee von gestern! Willst Du, dass sie uns alle an die Wand stellen, nur weil ein paar Träumer sich nach längst vergangenen Zeiten sehnen?“


Es ist inzwischen die Zeit des Zweiten Balkankrieges 1913 gekommen, in der „Griechenland und Serbien die Gebiete, die sie den Bulgaren weggenommen haben, unter sich aufteilten. Letztere unterzeichnen einen Vertrag mit dem Osmanischen Reich, in dem beide sich auf eine Umsiedlungsaktion verständigen; eigentlich betrifft es nur Türken und Bulgaren, aber Envers Regierung nutzt die Gunst der Stunde und weist bei dieser Gelegenheit auch noch 100.000 Griechen aus. Wenig später werden sie weitere 200.000 Griechen von der ägäischen Küste vertreiben. Alles ist ruhig, bis im Juni 1914 der österreichische Thronfolger in Sarajewo ermordet wird. Saloniki bleibt griechisch und heißt fortan Thessaloniki. Mustafa Kemal sagt zu seinen Offizierskollegen: ‚Wie konntet ihr Saloniki verlassen, unsere wunderschöne Heimatstadt? Wie konntet ihr es dem Feind ausliefern und hierher kommen?’ Er wird es nie verwinden, dass die Stadt ohne einen einzigen Schuss in die Hände der Griechen gefallen ist.“
Um die Geschichte der Helden des Buches, von Aişe und Tamara, Ibrahim und Karatavuk, Rustem und allen zu verstehen, fügt der Autor seiner Schilderung und den Briefen, Gedanken und Erinnerungen seiner Gestalten immer wieder historische Exkurse ein:

Wir war es dazu gekommen? Die Historie hat keinen Anfang, denn alles, was geschieht, wird Anlass oder Vorwand für das, was danach geschieht, und diese Kette aus Anlass und Vorwand reicht zurück bis in graue Vorzeit, als der erste Kain des einen Stammes den ersten Abel des anderen erschlug. Jeder Mord ist Brudermord, und deshalb ist die Kette der Schuld unendlich, und sie begleitet jedes Volk und jede Nation auf ihren gewundenen Pfaden, sodass die Opfer des einen Verbrechens die Täter des nächsten werden und jede frisch befreite Nation sogleich zu den Mitteln ihrer vormaligen Unterdrücker greift. Der dreifache Bazillus Utopie, Nationalismus und Religion lässt ein teuflisches Gebräu entstehen, eine Säure so scharf, dass sie das moralische Metall jedes Volkes zerfrisst, und dieses Volk wird schamlos, ja stolz Taten begehen, die es bei anderen als Schandtaten anprangern würde.



Zwischen den Jahren 1821 und 1913 zog sich ein langer, unerbittlich geführter Vernichtungskrieg hin, den wir Heutigen gern vergessen und aus dem wir nicht das Geringste gelernt haben. Im Jahre 1821, zwischen dem 26. März und Ostersonntag, schlachteten die Christen Südgriechenlands im Namen der Freiheit 15.000 griechisch-muslimische Zivilisten ab, plünderten ihren Besitz und brannten Häuser nieder. Der griechische Freiheitsheld Kolokotronis prahlte stolz, es seien so viele Leichen gewesen, dass die Hufe seines Pferdes zwischen den Toren Athens und der Zitadelle nicht ein einziges Mal den Boden berührt hätten. Auf der Peloponnes wurden Tausende von Muslimen, die meisten davon Frauen und Kinder, zusammengetrieben und niedergemetzelt. Tausende von Schreinen und Moscheen wurden zerstört, sodass es heute in ganz Griechenland nur noch ein oder zwei davon gibt.

In den 1820er Jahren wurden im Zuge von serbisch-russischen Kriegen 20.000 Muslime aus Serbien vertrieben.

1875 riefen die bosnischen Serben, orthodoxe Christen, zu einer Mordkampagne an Muslimen insgesamt und osmanischen Beamten im Besonderen auf.

1876 massakrierten bulgarische Christen die türkischstämmigen Bauern; die Zahl der Opfer ist unbekannt.

1877 versuchte Russland dem Osmanischen Reich entwürdigende Zugeständnisse abzupressen, und erklärte auf die Weigerung der Osmanen den Krieg. Mit einer Arbeitsteilung, die sich schon im Kaukasus bewährt hatte, brachten Kosaken unter Mithilfe bulgarischer Bauern und Revolutionäre das gesamte muslimische Vermögen an sich. Die Kosaken umstellten die Dörfer, sodass niemand entfliehen konnte, entwaffneten die Einheimischen und ließen sie dann von den Bulgaren abschlachten. Manchmal machte die Artillerie auch einfach die Dörfer dem Erdboden gleich. Manchmal wurden die Bewohner in die Sklaverei verkauft. Europäische Diplomaten vermerkten auch, dass in dieser Zeit systematisch Methoden entwickelt wurden, die Frauen so langsam wie nur möglich zu Tode zu foltern.

Als Folge dieser Ausrottungskampagne setzte sich ein großer Strom, eine halbe Million halb verhungerter muslimischer Flüchtlinge in Bewegung, geeint durch die Religion, doch verschiedenster ethnischer Herkunft, gnadenlos gehetzt von Banditen, Guerillas und Soldaten. In Edirne starben täglich hundert am Typhus. In Istanbuls großer Kirche, der Hagia Sophia, damals Moschee, suchten viertausend verlorene Seelen Unterschlupf; dreißig starben jeden Tag, aber neue nahmen sogleich ihren Platz ein. Neben und zwischen diesen Muslimen litten und starben, fast unbemerkt von der Geschichte, die Juden, denn der übliche Schrei der Freiheitshelden jener Tage war: ‚Juden und Türken raus!’

In Montenegro wurde die gesamte muslimische Bevölkerung vertrieben oder umgebracht.

1879 war ein Drittel der Muslime von Bosnien-Herzegowina entweder ausgewandert oder tot.

Sir Henry Layard, britischer Botschafter bei der Hohen Pforte, berichtete, dass die russische Politik gezielt die Ausrottung der Muslime betreibe, um sie durch Slawen zu ersetzen.

1912 erklärte Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland dem Osmanischen Reich den Krieg mit der offenen Absicht, osmanische Territorien an sich zu bringen und die Bevölkerung zu vertreiben. Zu den beschriebenen Taktiken kam noch die neue Technik, Muslime in Scheunen oder Kaffeehäusern zusammenzutreiben und diese dann anzuzünden. Wie schon zuvor wurden männliche Zivilisten ohne Umschweif getötet, Frauen jedoch langsam und grausam zu Tode gefoltert. Mit besonderer Brutalität wurden gefangene osmanische Soldaten behandelt. In Edirne setzte man die Gefangenen auf einer Insel aus und ließ sie verhungern. In den Geschichtsbüchern heißt es schüchtern, die Gräueltaten seien zu abscheulich, um sie zu beschreiben.

In der Regel überfielen Stoßtrupps, die so genannten Komitadjis (auch Guerillas, Banditen, Briganten oder Freiheitshelden genannt), getrieben von Hass und Beutegier (auch Patriotismus genannt), die Dörfer und verjagten die Bewohner. Montenegriner verwüsteten Albanien. Die Griechen trieben die Thrakischen Türken nach Osten, dann drangen bulgarische Truppen nach Süden vor und trieben sie zurück. Elend und Verzweiflung dieser Flüchtlinge sind unvorstellbar. Über eine Strecke von achtzig Meilen ließ die bulgarische Armee nur zerstörte Dörfer zurück. Nach ihrem Sieg beanspruchten Bulgaren, Griechen und Serben allesamt Mazedonien für sich, die beiden Letzteren verbündeten sich zum Krieg gegen die Ersten, und Rumänien stieß bald darauf dazu. Die Osmanen nutzen diese Zwistigkeiten zwischen den christlichen Befreiern und eroberten Edirne und Ostthrakien zurück.

Unmöglich zu sagen, wie viele muslimische, jüdische und türkische Zivilisten in den Balkankriegen umkamen oder wie viele Soldaten fielen, aber belegt ist, dass das Osmanische Reich etwa eine halbe Million neuer Flüchtlinge aufnehmen musste. Die unablässigen Kämpfe und der nie abreißende Strom von Zuwanderern ruinierten die Wirtschaft. Ein weiteres Opfer war die größte Errungenschaft des Osmanischen Reiches, das Milet-System, das allen Bürgern Religionsfreiheit garantiert hatte. Von ein paar Augenblicken der Schwäche abgesehen, hatte das Reich durch all die Jahrhunderte seines Bestandes die verschiedenen Konfessionen geachtet, hatte ihnen gestattet, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln und ihre eigenen Gesetze aufzustellen, was ja der Grund dafür ist, dass die griechisch-orthodoxe Kirche überhaupt überlebt hat, geborgen im Schoß des osmanischen Staates, und die griechische Sprache und die Kultur und Religion der Byzantiner bewahrte, genauso wie die Sultane die byzantinische Verwaltung unverändert übernahmen. Nun aber hatte eine ganze Horde von kleinen Hitlers den Hexenkessel des religiösen und nationalen Hasses angeheizt, und der Balkan bekam ein neues hässlicheres Gesicht, das er bis heute behalten hat.“
Ähnlich wie die Lage auf dem Balkan, also in der ehemaligen Europäischen Türkei, skizziert und schildert der Autor auch kurz und prägnant die Lage im Osten Anatoliens:

Die Spannungen im Osten von Anatolien währten schon viele Jahrzehnte. Dort lebten Armenier und Angehörige anderer Volksgruppen getrennt in eigenen Dörfern, gingen einander mit schöner Regelmäßigkeit an die Gurgel und begingen die Art von Gräueltaten, die zum üblichen Inventar all derer gehören, die der Lust am tiefen Hass auf alle anderen verfallen sind. Besonders schwierig war das Verhältnis zwischen Kurden und Armeniern, beide überzeugt von der Überlegenheit der eigenen Rasse und Religion. Die Kurden waren fanatische Anhänger des Islam, selbst wenn man bezweifeln durfte, dass auch nur je einer von ihnen ein Wort im Koran gelesen hatte, und was die Armenier betraf, so hielten sie sich für die Nachfahren Noahs und folglich für etwas Besonderes. Dabei hätten sie bei halbwegs aufmerksamer Lektüre der Bibel die offensichtliche Schlussfolgerung ziehen müssen, dass, wenn der Bericht stimmte, jeder Mensch ein Nachkomme Noahs ist. Viele Armenier forderten einen eigenen autonomen Staat, der sogar Gebiete umfassen sollte, in denen sie nicht in der Mehrheit waren. Die Kurden waren zur damaligen Zeit noch meistenteils staatstreu, und der Staat selbst war zu chaotisch, um in diesen abgelegenen und rückständigen Gebieten, wo das Leben für alle Völker gleich gefährlich und armselig war, Toleranz oder Ordnung durchzusetzen. Noch heute erzählen die Kurden dieser Gegend und die Nachkommen der Armenier die gleichen Geschichten übereinander. Diejenige, die man wohl am häufigsten hört, ist die, dass man die kleinen Mädchen in Jungenkleider stecken musste und die Frauen in Männerkleider. Die armenischen Untergrundkämpfer verdankten ihre Waffen den großzügigen Spenden russischer Armenier und erhielten Rückendeckung von England, weil die britischen Politiker sich ausrechneten, dass ein unabhängiger armenischer Staat einen ausgezeichneten Puffer gegen das Vordringen der Russen abgäbe.



Jahrelang herrschte zwischen den verfeindeten Gruppen ein blutiger Bandenkrieg mit Raub und Plünderungen, angeheizt durch Schmähschriften, mit denen die Völker, die jahrelang Seite an Seite gelebt hatten, gegeneinander aufgehetzt wurden. Der Staat verfolgte jetzt offiziell unter dem Etikett ‚Osmanisierung’ eine Politik, wonach alle Völker die gleichen Rechte, Freiheiten und Pflichten haben sollten. Zu den Letzteren zählte der Militärdienst, eine Pflicht, von der man sich nur durch die Zahlung einer ebenfalls für alle gleichen Steuer befreien konnte. Die Folge davon war, dass die Armeen des Osmanischen Reiches jetzt zu einem Großteil aus widerwilligen Rekruten bestand, deren Familien das Geld für die Steuer nicht aufbringen konnten. Außerdem gab es unter den Soldaten sehr viele Armenier, die in erster Linie an der Schaffung eines unabhängigen armenischen Staates interessiert waren.

Die große Katastrophe des armenischen Volkes nahm ihren Anfang, als Garo Pastermadjian, ein Abgeordneter des Parlaments von Erzurum, in dem Krieg, den das Osmanische Reich im Osten gegen Russland führte, mit einem Großteil der armenischen Offiziere und Soldaten aus der Dritten Armee zu den Russen überlief und anschließend mit ihnen gemeinsam muslimische Dörfer überfiel und ausplünderte.

Die Osmanen schäumten vor Wut über das, was in ihren Augen Hochverrat war. Sie entfernten die verbleibenden armenischen Offiziere und Soldaten aus der Dritten Armee und steckten sie in Arbeitsbataillone, wo sie wegen der extrem schlechten Bedingungen reihenweise desertierten. Schon bald zogen im Rücken der osmanischen Linien marodierende Banden von Freischärlern durchs Land, zum Teil unter dem Kommando russischer Offiziere. Ob man sie nun als Terroristen, Banditen oder Freiheitskämpfer bezeichnet, ist im Grunde nicht von Belang, da sie mühelos alles drei gleichzeitig waren. Sie unterbrachen Telegraphenleitungen, zerstörten Brücken und attackierten nicht nur Munitions- und Nachschublieferungen, sondern auch Verwundetentransporte auf dem Rückweg von der Front. Bei ihren Angriffen auf kurdische und tscherkessische Dörfer hatten sie leichtes Spiel, weil alle waffenfähige Männer zum Militär eingezogen waren.

Am 2.  Mai 1915 schickte Enver Pascha dem Innenminister Talat Bey ein fatales Telegramm, in dem er darlegte, es gebe nur eine einzige mögliche Lösung für diese unerträgliche Situation: Die Armenier müssten aus den Gebieten hinter den osmanischen Linien entfernt und durch muslimische Flüchtlinge von anderswoher ersetzt werden. Im Laufe der folgenden Monate wurde diese Politik nach und nach umgesetzt; immer wieder kamen Anweisungen aus Istanbul, die jede Form von Misshandlung untersagten. Es war geplant, den Besitz der einzelnen Familien zu versteigern und ihnen das Geld zu geben, sobald sie an ihrem neuen Wohnort eintrafen, damit sie sich dort eine neue Existenz aufbauen konnten.

Die Politik der Umsiedlung und Entschädigung mag auf den ersten Blick wie eine sinnvolle Lösung ausgesehen haben, aber die Regierung hatte keinerlei Einfluss darauf, was in den entlegenen Gebieten tatsächlich geschah, wo es praktisch keine funktionierenden Kommunikationswege oder Kontrollinstanzen gab. Die ganze Unternehmung war schlecht organisiert, es gab weder Transportmittel noch medizinische Versorgung, kein Essen, kein Geld, und Mitleid war ebenfalls Mangelware. In den endlos langen Vertriebenentrecks wüteten Epidemien, sie litten an Durst, Hunger und Erschöpfung und waren leichte Beute für Banditenüberfälle und für die Rache und Grausamkeit der bewaffneten Eskorten, in deren Augen sie Verräter waren. Bei diesen Truppen handelte es sich oft nicht um ordentliche Soldaten ─ die waren alle an der Front ─, sondern um kurdische Milizen, wilde, unwissende Stammeskrieger, die allen Grund hatten, die Flüchtlinge in ihrer Obhut zu hassen.

Es lässt sich nicht abschätzen, wie viele Armenier bei den Gewaltmärschen starben. Im Jahre 1915 sprach man von 300.000, eine Zahl, die seither unter den Bemühungen wütender Propagandisten immer weiter nach oben korrigiert worden ist. Aber es ist müßig und grausam darüber zu streiten, ob 300.000 oder zwei Millionen Menschen umgekommen sind, denn beide Zahlen sind entsetzlich, und das Leid der einzelnen Opfer auf ihrem Weg in den Tod ist in jedem Fall unermesslich.

Manchmal wird behauptet, Talat Bey habe ohne Wissen anderer Regierungsmitglieder sein stillschweigendes Einverständnis zu einer gezielten Ausrottungskampagne gegeben. Ob das zutrifft, müssen andere entscheiden. Was auf jeden Fall nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass die Vertreibungen sich auch auf Gegenden erstreckten, die nicht unmittelbar hinter der Frontlinie lagen. Offensichtlich hing die Entscheidung ganz vom Diensteifer der jeweiligen örtlichen Gouverneure ab.“
Louis de Bernières bringt diese Erläuterungen, um verstehen zu lassen, dass auch im Ort der Handlung seines Romanes, in Eskibahçe ein Trupp von Milizionären auftauchten, um die wenigen Armenier der Stadt umzusiedeln. Es trifft die Familie des Levon Krikorian und andere Armenier, die vor 30 Jahren aus Van in der Osttürkei weggezogen waren, um den Übergriffen der dortigen kurdischen Milizen zu entgehen. Der Türke Rustem Bey wird von Armeniern gebeten, den Deportierten zu helfen:

Und so geschah es, dass Rustem Bey dem Treck der Deportierten entgegenkam, kurz bevor sie an der Weggabelung die Straße nach Süden nahmen. Es war mitten am Nachmittag, die Luft quälend heiß, und die Gruppe hatte seit dem frühen Morgen nichts zu essen und nichts zu trinken mehr bekommen. Drei alte Leute, die nicht mehr weiterkonnten, waren schon mit Gewehrkolben zu Tode geprügelt worden, damit keine Kugeln verschwendet wurden, und allem die gute Schuhe gehabt hatten, hatten sie längst an ihre Eskorte abgeben müssen. Die Steine waren so heiß, dass die Fußsohlen der Vertriebenen voller blutiger Brandwunden waren. Die Frauen hatten ein leises, doch unablässiges Wehklagen angestimmt, und die Männer waren halb blind von dem Schweiß, der ihnen in die Augen lief; sie schickten Gebete zum wolkenlosen Himmel und hofften nur, dass ihre Qual bald ein Ende hatte. Die meisten waren schon mindestens einmal geschlagen worden, und der Treck war noch nicht einmal eine halbe Stunde unterwegs gewesen, da hatte man ihnen die Wertsachen abgenommen, die sie mitbringen sollten.



Rustem Bey hörte die gespenstischen Klagelaute schon aus großer Entfernung, aber er war verblüfft, als er hinter der letzten Wegbiegung die Kolonne vor sich sah. Und noch verblüffter war er, als er die Gesichter von Leuten erkannte, die noch am Tag zuvor Honoratioren der Stadt gewesen waren. Er konnte kaum glauben, wie elend und erbärmlich sie binnen so kurzer Zeit aussahen.“
Es gelingt Rustem „Im Namen des Sultans Padischah, des Herrschers der Welt“ kaltblütig und durch entschiedenes Auftreten, wenigstens drei junge Mädchen zu retten. In den Kapiteln „Karavatuk in Gallipoli“ erfahren wir auch von Griechen, in der türkischen Armee. Aber es waren oft Griechen, die Türkisch sprachen, und nur weil sie Christen waren, als Griechen galten. Sie schrieben ihr gesprochenes Türkisch mit griechischen Buchstaben, was den Kompaniechef nicht mehr verwunderte, sondern misstrauisch macht:

Er sagt: ‚Das sind griechische Buchstaben.’ ‚Aber die Worte sind türkisch’ erwiderte ich. Erst Leutnant Orhan erklärte dem Major: ‚Es gibt Gegenden, wo man Türkisch spricht, aber Griechisch schreibt; ich habe mir sagen lassen, dass es an der Westküste weit verbreitet ist, und besonders im Südwesten, von wo unsere Soldaten kommen. Man nennt diese Leute Karamanliden.’

Wie können wir das überprüfen?’ fragte der Kompaniechef, und der Leutnant antwortete: ‚Wir haben eine ganze Reihe griechischer Ärzte’, und der Kompaniechef sagte: ‚Dann holen Sie einen her.’

Kurz darauf meldete sich ein griechischer Arzt von seiner Sanitätseinheit, betrachtete den Brief und sagte: ‚Das sind griechische Buchstaben, aber die Sprache ist Türkisch. Das könnte nur ein Grieche lesen, der auch Türkisch spricht.’
Die Vertreibung der Armenier bringt Not in den kleinen Ort, denn die armenischen Geschäfte waren geplündert und zerstört, christliche junge Männer in den Arbeitsbataillonen, sodass Landwirtschaft und Fischfang darniederlagen. So geht es bis Kriegsende, das der Autor wieder in eingeschobenen Exkursen kommentierend schildert: Die französische Besetzung Kilikiens eben so wie heute in Mitteleuropa wenig bekannte italienische Okkupation in Lykien.

Der griechische Premier Eleftherios Venizelos veröffentlicht ein Memorandum, in dem Griechenland Anspruch auf Thrakien und Westanatolien erhebt. Er schlägt eine freiwillige Umsiedlung von türkischen und griechischen Bevölkerungsteilen vor. Die Idee klingt erschreckend plausibel, als sei es durchaus vernünftig, das Leben von Hunderttausenden von unschuldigen Menschen im Interesse neu zu bestimmender Nationalstaaten willkürlich aus den Angeln zu heben. In Istanbul verkündet der griechisch-orthodoxe Patriarch im Namen der griechischen Bevölkerung, dass sie sich nicht mehr als Osmanen verstehen, und erklärt den Anschluss an Griechenland. Es überrascht nicht, dass daraufhin überall in der Türkei Vereinigungen zur Verteidigung der nationalen Rechte der Türken aus dem Boden schießen. Um den Griechen einen Strich durch die Rechnung zu machen, schicken die Italiener Truppen nach Antalya. Unter den Alliierten sind sie die Einzigen, die die türkische Bevölkerung bei jeder Gelegenheit unterstützen und die osmanischen Gesandten höflich behandeln.“


Gerade diese Kapitel sind von besonderem Interesse, weil ohne die griechische Besetzung Izmirs und den folgenden gescheiterten Aggressionskrieg gegen Ankara der Bevölkerungsaustausch des Vertrages von Lausanne 1923 nicht verständlich ist. Die Franzosen verlassen rechtzeitig Kilikien, die Italiener Antalya, nur die Griechen glauben immer noch an die „Große Idee“ eines neuen Byzanz.

Zu diesem Zeitpunkt verlieren die Griechen endgültig die Sympathie der restlichen Welt. Sie machen den Fehler, dass sie ihre Gräueltaten zu nahe an Istanbul verüben, wo jeder sie bemerkt. Auf dem Rückzug richten sie gewaltige Zerstörungen an und hinterlassen anstelle von Städten, Dörfern und blühenden Landschaften nur verbrannte Erde. Griechische Freischärler, die sich ‚Schwarzes Schicksal’ nennen, ermorden wahllos türkische Zivilisten.



Die Gräueltaten der Türken spielen sich mehr im Verborgenen ab, da, wo die alliierten Beobachter bereits abgezogen sind. Nurettin Pascha unterdrückt mit brutaler Gewalt einen Kurdenaufstand. Im Pontus an der Schwarzmeerküste bombardiert ein griechisches Schlachtschiff Inebolu, den Versorgungshafen von Ankara. Pontus hat sehr viele griechische Einwohner, insbesondere seit dem Zustrom griechischer Flüchtlinge aus Russland, und um einem möglichen Aufstand zuvorzukommen, empfiehlt Nurettin Pascha, alle griechische Männer zwischen fünfzehn und fünfzig ins Landesinnere zu deportieren. Kemal ist mit dem Plan einverstanden, und was nun folgt, ist eine exakte Neuauflage der Todesmärsche der ägäischen Griechen im Jahr 1914, der Todesmärsche der Armenier im Jahr 1915 und der Todesmärsche britischer Kriegsgefangener nach dem Fall von Kut. In Samsun richten die Türken jeden hin, der auch nur im Verdacht steht, ein griechischer oder armenischer Rädelsführer zu sein. Ein berüchtigter türkischer Guerillaführer, der Lahme Osman, tut sein Schlimmstes, und die Griechen machen alles noch schlimmer, indem sie den Hafen von Samsun vom Meer beschießen.“
Man muss selber den Gesamttext lesen, um zu erfahren, wie konzentriert der Verfasser diesen Krieg bis zur Eroberung Izmirs durch Mustafa Kemal schildert. Hier nur gekürzt das Ende von Izmir, dem alten Smyrna:

Es gehört zu den kleinen Ironien der Geschichte, dass, nachdem die Griechen in einem Jahrhundert einen Unabhängigkeitskrieg gegen die Türken geführt haben, nun im darauf folgenden die Türken einen Unabhängigkeitskrieg gegen die Griechen führen. In der letzten Schlacht dieses Krieges verloren die Griechen 70.000 Mann und die Türken 13.000. Smyrna ist der Schauplatz der letzten großen Katastrophe. Nun ist es an der Zeit, dass die Christen das erleben, was vorher den Muslimen widerfahren ist. Nachdem sie gesehen haben, was die griechischen Truppen in Anatolien angerichtet haben, wollen die türkischen Soldaten nur noch Rache.

Nurettin Pascha lässt Erzbischof Chrysostom herbeizitieren, den demagogischen Priester, der im Jahr 1919 dafür gesorgt hatte, dass der Pascha seinen Posten in Smyrna verlor. Er liefert den Erzbischof den türkischen Massen aus, die ihn gnadenlos verstümmeln, bis eine mitleidige Seele seinen Qualen schließlich ein Ende bereitet und ihn erschießt. Eine französische Patrouille wird Zeuge der Ereignisse, greift aber nicht ein.

Das armenische Viertel geht in Flammen auf, und bald sind das europäische und das griechische Viertel ebenfalls zerstört. Die Türken behaupten, die Griechen seien dafür verantwortlich, weil sie nicht wollten, dass die Stadt ihnen in die Hände fiel. Schließlich hätten sie auf ihrem Rückzug auch alles andere niedergebrannt. Aber in diesem Fall war die griechische Armee bereits einige Tage vorher abgezogen. Einige behaupten, die Armenier hätten ihr Viertel angezündet, damit es nicht in türkische Hände fiel. Manche behaupten, das Feuer sei ausgebrochen, weil sich in einigen Häusern armenische Heckenschützen verborgen hielten, und im Krieg sei es nun einmal üblich, Heckenschützen auszuräuchern. Einige behaupten, türkische Soldaten hätten den Brand absichtlich gelegt, um zu verbergen, wie sie mit den armenischen Zivilisten umgesprungen waren, die vergewaltigt und mit aufgeschlitzten Leibern in den Häusern lagen, oder um sicherzugehen, dass die Armenier nie wieder zurückkehren würden. Einige geben Mustafa Kemal die Schuld, andere dem Volksverhetzer und Demagogen Nurettin Pascha. Einige beschuldigen die regulären türkischen Truppen, andere die unberechenbare Freischärler, die die Feuer zu ihrem Vergnügen gelegt hätten. Mit anderen Worten, jeder beschuldigt und verachtet einen anderen für das, was mit der schönsten und blühendsten und wohlhabendsten Hafenstadt der gesamten Levante geschah. Letzten Endes aber liegt die Schuld bei Venizelos und den Alliierten und vor allen anderen bei David Lloyd George.

Draußen im Hafen sieht die Besatzung der alliierten Kriegsschiffe zu, wie die Stadt im Inferno untergeht und die christliche Bevölkerung sich an den Hafenmauern drängt. Die Schiffe sollen die eigenen Landsleute retten, nicht die einheimische Bevölkerung. Anfangs sorgen türkische und alliierte Patrouillenboote gemeinsam dafür, dass sie nicht zu den Schiffen gelangen, aber schließlich können die Kapitäne und Mannschaften der Kriegsschiffe die Grausamkeit nicht mehr länger mit ansehen und lassen die Flüchtlinge an Bord. Insgesamt retten sie etwa 20.000 Menschen, aber viele haben ihnen nie verziehen, dass sie damit so lange warteten.

Für viele kommt jede Hilfe zu spät, erschossen, über Bord geworfen, untergegangen im öligen Wasser, Leute wie Georgio P. Theodorou, Händler für Waren aller Art, Stammgast in Rosas Etablissement, Philanthrop, Stifter und Erbauer der schönen klassischen Brunnenstube von Eskibahçe.“
Die Romanhelden meditieren über die Tragödie des Krieges. Dabei nennen sie die Schuldigen und Dummköpfe, Fliegenhirne und Phantasten und fangen ganz oben an: bei Venizelos und den Gottesmännern mit ihrem Geschwätz von Byzanz. Auch den toten Georgio Theodorou lässt der Autor noch am Grunde des Meeres zu Wort kommen, und er nennt die Präsidenten und Premierminister der Alliierten Spatzenhirne „weil sie es für gut hielten, wenn die Altgriechen Teile der Türkei besetzten.“ Objektiv sieht der tote Theodorou beide Seiten und ihre Schuld.

Was sollen wir davon halten, wenn Erzbischof Chrysostomos höchstpersönlich sich die Mitra aufsetzt und die griechischen Truppen segnet, als sie an Land gehen, und türkische Gendarmen mit seinem Bischofsstab schlägt und sein Gefolge auch noch auffordert, sie zu bespucken? Ich kann euch sagen, wie das aussah, und zwar für alle hier. Es sah nicht aus wie eine alliierte Besatzung, es sah aus wie ein bescheuerter Kreuzweg, nur ein paar Jahrhunderte später. Sicher, es tut mir leid, was mit Chrysostomos passiert ist, als die Türken die Stadt zurückeroberten. Er hatte es nicht verdient, dass die Menge ihn zerriss, genauso wenig wie ich das Ertrinken verdiene, aber er war doch ein Unruhestifter und heiliger Narr, und schade ist nur, dass jetzt, wo er zum Märtyrer geworden ist, die Leute vergessen werden, was für ein Scheißkerl er war.



Man muss ja auch bedenken, was die Altgriechen bei ihrer Eroberung mit dem Polizeichef gemacht haben. Er wartete in seinem Büro auf sie, um die Amtsgeschäfte zu übergeben, und sie schlugen ihn zusammen und schnitten ihm die Ohren ab und drückten ihm die Augen aus, und alle waren mächtig stolz, als er in der Nacht im Krankenhaus starb, und ihr könnt Gift darauf nehmen, dass dieselben Leute entsetzt waren über die Verstümmelung des Erzbischofs, dieselben Leute, die vor Genugtuung geseufzt haben, als das Gleiche mit dem Polizeichef geschah.“
Aber auch der griechische König Konstantin wird nicht vergessen und geschont, auch nicht der „größte Einfaltspinsel von allen ... der britische Premierminister, der Ehrenwerte Summschwätzer David Lloyd George, weil er den wackeren Venizelos und die Griechen auch noch ermuntert hat.“

Im Roman finden wir auch ein griechisches Lied jener Zeit, in dem die Rede ist, dass Türkenblut fließen muss, dass nach der griechischen Besetzung Smyrnas nun die Hagia Sophia auf Befreiung wartet, dass Moscheen brennen sollen und das Kreuz der Lohn ist.



Ein Grieche benennt die griechischen Gräueltaten, ein Kaufmann:

Ich war viel unterwegs auf dem Lande, im Vilayet Aydin und im Sanyak von Smyrna. Für mich wurde die Lage immer ungünstiger. Banditen kamen von Mytilene herüber, ganze Dörfer wurden ausgelöscht als Vergeltung für den Mord an einem einzigen Gendarmen, ein Massaker in Menemem, wo die Griechen weiße Kreuze an ihre Türen malten, damit die Truppen wussten, welche Haushalte auszumerzen waren, Beamte, die von Haus zu Haus zogen und die Türken zwangen, Dokumente zu unterzeichnen, in denen sie versicherten, wie glücklich sie über die griechische Besatzung seien, Soldaten, die Jagdgewehre konfiszierten, obwohl ihre Besitzer gültige Waffenscheine dafür hatten, die gesamte Einwohnerschaft von Karatepe in die Moschee eingesperrt und bei lebendigen Leibe verbrannt, Soldaten, die mit Fes und Kalpak Erstochener auf ihren Bajonetten paradierten, die den Türken alles abnahmen, sogar ihre schmutzigen Taschentücher, die türkischen Männer in der Moschee versammelten, unter dem Vorwand, es werde eine Proklamation verlesen, während derweil ihre tapferen Kameraden die Häuser plünderten und die Frauen schändeten, Häuser, die angesteckt wurden, weil angeblich Heckenschützen darin lauerten, ständige Appelle, die die Feldarbeit unmöglich machten, die Maschinengewehre, die sie auf den Minaretten von Aydın postiert hatten, als sie das türkische Viertel ansteckten, sodass sie jeden, der nicht brennen wollte, bequem abschießen konnten, das achte Kreterregiment, von dessen Zerstörungswut von Tag zu Tag schönere Nachrichten kamen, ein hübsches Massaker in Ahmetli, griechischer Mob mit Waffen, die sie aus türkischen Arsenalen geraubt hatten, Türken, denen fünfzehn Piaster für das Privileg abgeknüpft wurde, Kokarden zu erwerben und ‚Zito Venizelos!’ zu brüllen, Plünderung im Büro des italienischen Majors Carossi, der damals alliierter Inspektor der Gendarmerie war, die üblichen improvisierten Kaiserschnitte bei schwangeren Frauen, die üblichen Amputationen von Körperteilen, die eingeschlagenen Zähne, die gestohlenen Pferde, der Einsatz von Dorfbewohnern als Zugtiere, die üblichen Misshandlungen junger Mädchen, die dann anschließend aus dem Fenster geworfen wurden, die Schießübungen zur Unterhaltung von müßigen Truppen, bei denen sie auf die Muezzins feuerten, wenn sie vom Balkon der Minarette zum Morgengebet riefen, die Prügelstrafen, die es für Türken gab, die keine Trauerkleider anlegten, als König Alexander von einem Affenbiss dahingerafft wurde, die Erschießung von Kaufleuten, die Piaster statt Drachmen forderten, Männer, denen sie die Füße zwischen die Beine setzten, damit sie ihnen leichter die Stiefel abziehen konnten, die Städte und Dörfer, die in Flammen aufgingen, als die Armee so unehrenhaft und unerwartet den Rückzug antreten musste ... Oh ja, es war eine endlose Reihe von Gräueltaten, großen und kleinen, die bittere Wahrheit dieser strahlenden Wiedergeburt Konstantinopels und der kleinasiatischen Griechen, befreit vom Joch der grausamen, barbarischen, gottlosen Türken.“
So ist es kein Wunder, wenn die Reaktion der Türken erfolgte:

Und dann kommen die siegreichen Rächer Mustafa Kemals, eine bunte Mischung aus abgerissenen Freischärlern und schmucken Regulären, und sie kreuzigten die Priester und erdrosselten sie mit der Knotenschnur, sie schändeten die schönsten Jungfrauen und werfen sie zum Fenster hinaus, sie schütten Benzin über die Griechen, die in Booten fliehen wollen, sie schirmen das Armenviertel ab, damit sie keiner dort bei ihrem Vergnügen stört, und dann steht die Stadt in Flammen, und genau die gleichen Schandtaten geschehen ein zweites Mal, nur dass jetzt die Türken sie für die Türkei verüben und Kleinasien vom Joch der grausamen, barbarischen, gottlosen Griechen befreien.“


So kommt auch für Eskibahçe das Jahr 1923 mit dem Friedensvertrag von Lausanne,

der unter anderem vorsieht, dass der größte Teil der türkischen Christen, egal welche Sprache sie sprechen, nach Griechenland umgesiedelt wird. Im Gegenzug soll der größte Teil der griechischen Muslime, ob nun griechischen oder türkischen Ursprungs und egal welche Sprache sie sprechen, von Griechenland in die Türkei ziehen. Entscheidendes Kriterium ist ausdrücklich die religiöse, nicht die ethnische Zugehörigkeit, und da dieser Plan helfen kann, zukünftig religiöse Auseinandersetzungen zu verhindern, hört er sich tatsächlich durchaus vernünftig an, zumindest solange man sich nicht ausmalt, was den unschuldigen Menschen dabei widerfährt.



Später wird man dies alles in der Türkei die ‚demographische Katastrophe’ nennen, denn es sind die Christen, die das notwendige Wissen für das Alltagsleben haben. Türken sind Soldaten und Bauern und Landbesitzer, aber die Kaufleute und die Handwerker sind Christen. Ihr Exodus wird die wirtschaftliche Entwicklung des Landes um Jahrzehnte zurückwerfen.

In Griechenland spricht man von der ‚kleinasiatischen Katastrophe’.

Diejenigen, die fort müssen werden bis ans Ende ihrer Tage das Gefühl haben, dass sie ohne jede Schuld aus dem Paradies vertrieben wurden. Anderthalb Millionen von ihnen kommen nach Griechenland und stellen eine Regierung, die sie aufnehmen und unterbringen muss, vor kaum zu bewältigende Schwierigkeiten. Was sie mitbringen, sind ihre Bildung, ihre Kultur, ihr Talent, die Sehnsucht nach ihrer Heimat und eine Musik, die man Rembetiko nennen wird. Und sie bringen ihr Elend mit, das Gefühl, dass ihnen tiefes Unrecht geschehen ist, und das wird vielleicht mehr als alles andere zum Aufstieg des Kommunismus in Griechenland beitragen, was wiederum zum griechischen Bürgerkrieg führt.

In der Türkei werden in alle Gemeinden mit christlichen Bevölkerungsteilen Komitees geschickt. Sie sollen die Werte der Besitztümer abschätzen, und diese sollen vorausgeschickt werden oder der Betrag soll den Flüchtlingen bei der Ankunft in Gleichwertigem erstattet werden. Allerdings ist kein Transport vorgesehen, aus dem einfachen Grunde, dass es in der Türkei nach einem ganzen Jahrzehnt Krieg keinerlei Transportmittel mehr gibt, und die so getreulich inventarisierten Güter werden nie ihren Bestimmungsort erreichen. Für viele Flüchtlinge ist die Umsiedlung nur ein weiterer Todesmarsch.“
Wie Yasar Kemal in seiner „Ameiseninsel“ schildert auch Bernières realistisch und ergreifend die Umsiedlung der Griechen, denen Sergeant Osman den Ausweisungsbefehl bringt.

Die Christen kehren zu ihren Häusern zurück, noch immer ungläubig, außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen, und dann widmeten sie sich der unmöglichen Frage, was sie mitnehmen sollten. Manche Familien zogen Jahr für Jahr mit ihren Tieren auf die Sommerweiden, und sie waren daran gewöhnt, dass sie mitnahmen, was sie nur tragen konnten, aber auch sie hatten noch nie mit solcher Hast und so viel Ungewissheit aufbrechen müssen. Für die meisten war die Aufregung, in die sie gerieten, etwas ganz und gar Ungewohntes, und sie waren zutiefst verwirrt. Manchen war der Schreck so sehr in die Glieder gefahren, dass sie nur teilnahmslos dasaßen, andere heulten hysterisch, wieder andere führten große Reden, dass sie sich widersetzen wollten, sich verstecken, bis die Gendarmen fort waren, und rafften doch dabei schon ihre Besitztümer zusammen.



Einige beluden sich nur mit Nahrung und Wasser, andere setzten ihre Hoffnung auf Wertsachen, die sie unterwegs verkaufen wollten, kupferne Töpfe etwa und Familienschmuck. Manche gaben ihren Hausrat zu Schleuderpreisen an die Nachbarn, weil sie sich ausmalten, dass Geld ihnen nützlicher sein würde als Waren. Wieder andere nahmen Erinnerungsstücke, und manch einer packte mehr oder weniger willkürlich Dinge ein, die sich als nützlich erweisen konnten, eine Garnrolle etwa oder eine Harke. Es war einer jener außerordentlich raren Fälle, in denen Armut tatsächlich ein Segen ist, denn der weitaus größte Teil der Familien lebte in bescheidenen Verhältnissen, und es gab nicht viel, woraus sie auswählen mussten. Diese armen Seelen schnürten das wenige, was sie hatten, zu Bündeln und versammelten sich auf dem Meydan. Und noch bescheidener als sie war das Dutzend Bettler christlicher Herkunft, die als Einzige mit optimistischer Miene an diesen Ort der Verzweiflung kamen. Einige waren beschränkt, andere schwachsinnig, dritte schwermütig oder jähzornig, aber alle hofften sie auf ein neues und besseres Leben in der neuen Heimat, die Ihnen so unerwartet versprochen wurde. Sie würden dem Flüchtlingstreck folgen und bei denen, die selbst nichts hatten, um Almosen betteln.“
Der Lehrer Leonidas weigerte sich zu gehen und muss sich doch fügen. Pater Kristofous geht dann an der Spitze des Zuges, als Vater und Hirte seiner Herde. Auch Leylan Hanim, die „tscherkessische Geliebte“ Rustems, schließt sich dem Zug an.

In Kapiteln wie „Ich bin Ayse“ oder „Ich bin Ibrahim“ berichten Türken vom Abzug der Griechen, von der Öde und Leere im Ort, von den Schwierigkeiten mit den muslimischen Neuansiedlern. Das gleiche tun die Epiloge von Iskander dem Töpfer und Karatavuk dem Schreiber.


Ein Postscriptum des Autors beschreibt die heutige Stadt Fethiye, der Markt und die Touristen, die Händler, die in London und Berlin lebten, der Alltag. „Das Einzige was wirklich merkwürdig ist, das Einzige was auffällt an Fethiye und seinem Markt und an dem ganzen Landstrich Lykien, das ist, dass es keine Griechen dort gibt.“
Rudolf Grulich

Angaben zum Buch

Louis de Bernieres, Traum aus Stein und Federn, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN-10 3100071255, ISBN-13 9783100071255, gebunden, 668 Seiten, 19,90 EUR






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