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Prof. Dr. Sylvia Sasse Sprachkraft und Gedankenmacht. Rezeptionstheorien und -experimente in der russischen und sowjetischen Moderne


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Prof. Dr. Sylvia Sasse
Sprachkraft und Gedankenmacht. Rezeptionstheorien und -experimente in der

russischen und sowjetischen Moderne
Gegenstand des Projektes sind Theorien und Experimente in der russischen und

sowjetischen Moderne, die die unmittelbare Wirkung von (künstlerischer) Sprache

und die Möglichkeit einer Übertragung von Gedanken erforscht und behauptet

haben.


Ausgerichtet ist das Projekt explizit auf jene Theorien und Experimente, die im

Schnittpunkt von künstlerischer Theorie und Praxis und physikalischer, biologischer,

physiologischer und psychologischer Forschung entwickelt worden sind. Die

Perspektive ist somit eine doppelte: Einerseits soll untersucht werden, wie

Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften die künstlerische Praxis und Forschung

bestimmt haben, insbesondere das Wissen über ästhetische Reize und Reaktionen

(u.a. bei Tolstoj, Gor’kij, Mejerchol’d, Evreinov, Belyj, Florenskij, Lunačarskij,

Vygotskij, Ėjzenštejn). Andererseits soll analysiert werden, welche Rolle Sprache

und Gedanken in Experimenten der naturwissenschaftlichen Forscher, in der

Physik, Psychologie und Physiologie gespielt haben (u.a. bei Kotik, Bechterev,

Pavlov, Vygotskij, Kažinskij, Guljaev). Die Untersuchung verfolgt dabei zwei

miteinander verknüpfte Ziele: Sie soll erstens einen Beitrag leisten zur Erforschung

der Wissensgeschichte von Wirkungs- und Rezeptionsprozessen. Zweitens soll

analysiert werden, wie die entwickelten Wirkungs- und Rezeptionskonzepte nach

der russischen Revolution Teil eines entweder politisch ideologischen oder

subversiven Programms geworden sind.

Das Projekt besteht aus zwei Teilprojekten, die kontrastiv und zugleich komplementär zueinander aufgebaut sind. Das erste Teilprojekt beschäftigt sich mit der Frage, wie physikalische, psychophysische, physiologische (insb. sinnesphysiologische) Erkenntnisse in ästhetische Theorien und Praktiken eingegangen sind, die von einer unmittelbaren Wirkung und Wirksamkeit von Sprache und künstlerischen Prozessen ausgehen. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, inwieweit naturwissenschaftliche Forschungen die Auffassungen über das Wesen von Sprache, insbesondere die potentielle mittelbare und unmittelbare Wirkung von Sprache, und von künstlerischen Prozessen mitbestimmt haben.

Das zweite Teilprojekt richtet sein Augenmerk auf physikalische, psychologische, physiologische Theorien und Experimente, in denen nicht mehr nur Sprache und Kunst als Übertragungsmittel und Transportinstrument dienen, sondern bereits von einer immateriellen Übertragungsmöglichkeit durch Gedanken ausgegangen wird. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, auf welcher Grundlage Theorien der Gedankenübertragung entwickelt worden sind, auf welchem Verständnis von Wissen und Wissenschaft diese basieren und wie diese Theorien über Telepathie in der künstlerischen Praxis und Theorie rezipiert worden sind.

Es geht also in beiden Teilprojekten um einen ganz buchstäblich zu verstehenden Transfer, einen Transfer von Wissen durch Sprache (materiell) und durch Gedanken (immateriell), der sich beim Rezipienten durch eine unmittelbare Wirkung einschreibt, der also Wirklichkeit wird. Dass Ideen, die von der Möglichkeit einer Sprachwirkung und Gedankenübertragung ausgehen auch politisch instrumentalisierbar sind, zeigt – für den zu untersuchenden Zeitraum – die Wissens- und Ästhetikgeschichte nach der russischen Revolution von 1917. Beide Teilprojekte werden sich deshalb damit zu befassen haben, wie ästhetische Praktiken und wissenschaftliche Erkenntnisse Teil eines politisch-ideologischen Programms werden, das davon ausgeht, dass Sprache und Gedanken direkte Wirkungen zeitigen können. Eine solche Auffassung über die Wirkung von Sprache und Gedanken zeigt sich schon in Anatolij Lunačarskijs Konzeption von Agitation und Propaganda, bei der Lunačarskij an Lev Tolstojs Konzept von Ansteckung anschließt und zeitgenössische Übertragungs- und Sprachtheorien zur Untermauerung seines Agitationskonzepts nutzt. Während bei Lunačarskij die mögliche Sprachwirkung noch zur Schaffung eines Gemeinschaftskörpers durch Agitation dient, wird später, in den 30er Jahren, die Möglichkeit der Wirkung, oder genauer Ansteckung durch Worte eher einen potentiell bedrohlichen Aspekt der Sprache unterstreichen und eine verstärkte Kontrolle und Sprachhygiene legitimieren. Wenn Sprache, schlimmer noch bloße Gedanken, direkt wirken können, wenn Wort, Gedanke und Tat ineinander übergehen, wie es die Ästhetik des Sozialistischen Realismus propagiert, dann ist eine zentrale Sprach- und auch Gedankenkontrolle sogar notwendig. Insbesondere Pavlovs signaltheoretische Sprachtheorie unterstützt eine solche Gefährlichkeit des Wortes. Igor Polianski hat in einem noch unveröffentlichten Aufsatz geschildert, wie noch in den 50er Jahren im Krankenhaus Berlin-Buch die Lektüre von Patienten überwacht und diese Rezeptionskontrolle durch Pavlovs Sprachstudien begründet wurde.1 Eine solche Auffassung von Sprache legitimiert Zensur und Sprachkontrolle durch angebliche wissenschaftliche Erkenntnis. Besonders deutlich aber wird die Instrumentalisierung von Wissen gerade auch in den Forschungen zur Gedankenübertragung, die noch viel weniger als die durch Sprache stattfindende Übertragung zu kontrollieren ist.

Teilprojekt I: Ästhetische Reaktionen. Rezeptionsexperimente und -theorien in der russischen Moderne (Sylvia Sasse)

Das Teilprojekt befasst sich mit Sprachwirkungs- und Rezeptionstheorien, die in der Literatur und Kunst zwischen 1850 und 1940 diskutiert und vorgeführt worden sind. Die meisten dieser Theorien sind durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungen motiviert und gehen davon aus, dass Sprache an sich oder Sprache in ästhetischen Prozessen eine unmittelbare Wirkung erzielen kann. Einige dieser Konzepte greifen zwar auf in der Antike oder in Empfindsamkeit bzw. im Sentimentalismus bereits diskutierte Wirkungstheorien (Katharsis, Rührung, Mitleid) zurück, nehmen aber gerade zeitgenössische wissenschaftliche Debatten auf und übertragen diese ganz unterschiedlich auf ästhetische Konzepte. Zu nennen ist hier unter anderem Lev Tolstojs Konzept der Ansteckung (zaraženie) und Maksim Gor’kijs Idee einer ›Wortstrahlung‹, das er in Anlehnung an Wilhelm Ostwalds Energetik in seinem Roman Ispoved’ (Beichte) zum Programm des Gottbauertums erklärt. Auf Ostwalds Theorien beziehen sich auch Andrej Belyj und Pavel Florenskij. Florenskij entwickelt in seinem Essay über die magičnost’ (Magizität) ein energetisches Konzept des Wortes.2 Insbesondere Namen haben nach Florenskij eigene Energien, wobei er sich hier auf eine Namensphilosophie bezieht, die ihren Ursprung in der göttlichen Energie des Namens, im Logos, hat. Auch Andrej Belyj setzt sich in Kriticizm i simvolizm (Kritizismus und Symbolismus, 1904) mit Ostwalds Energielehre auseinander.

Neben diesen Versuchen, unterschiedliche avantgardistische Sprachwirkungstheorien durch wissenschaftliche Konzepte zu stützen, wird die Frage einer möglichen Sprachwirkung nach der Revolution zum Politikum. Die Untersuchung der postrevolutionären künstlerisch-wissenschaftlichen Forschung soll in einem zweiten Schritt des Projekts untersucht werden. Insbesondere Anatolij Lunačarskij wird, sich auf Tolstoj und Pavlov berufend, u.a. Ansteckung zum Kriterium der Wirksamkeit von Agitation erheben; in der Literatur des Sozialistischen Realismus wird die ansteckende Wirkung ebenfalls, wie bei Tolstoj, zum Indiz für die Wahrhaftigkeit des Gesagten.

Pavlovs Sprachstudien, in denen Sprache als Signalsystem gefasst wird, unterstützen diese eher vagen Vermutungen und versuchen sie verifizierbar zu machen. Pavlov ist der Ansicht, dass Sprechakte beim Rezipienten Spuren hinterlassen. Im Grunde entwickelt er eine Theorie weiter, die der Zoologe Richard Semon schon Ende des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet hatte. Semon hatte untersucht, wie Sprache eine physiologische Spur hinterlässt, eine Reizeinwirkung als dauernde strukturelle Änderung im Gehirn, die er als Engramm bezeichnet.3

Neben der Weiterführung von Tolstojs Ansteckungskonzept und Pavlovs Engrammen gibt es parallel dazu zahlreiche weitere Versuche, die Wirkung von Sprache und Kunst in wissenschaftlichen Versuchen zu überprüfen, d.h. sie messen zu wollen. An solchen Experimenten beteiligen sich neben Pavlov auch Bechterev, der Experimente mit Theaterzuschauern durchführt, aber auch Künstler wie Mejerchol’d und Ėjzenštejn, die Mitte der 20er Jahre sogar ein Labor einrichten zur künstlerischen Erforschung von Zuschauerreaktionen und Kunstwerken als Reizerregern. In diesem Laboren geht es nicht mehr nur um die Wirkung von Sprache, sondern ganz allgemein um die Wirkung von künstlerischen Verfahren im Film, Theater, in der bildenden Kunst, in der Architektur oder der Musik.

Zentral für die Überschneidung von ästhetischer und psychophysischer Forschung in den 20er Jahren sind vor allem die Studien und Experimente von Lev Vygotskij, der in seiner 1924 verfassten Arbeit K psichologii iskusstva (Zur Psychologie der Kunst) den Begriff ‹Ästhetische Reaktionen› einführt. Unter ‹ästhetischer Reaktion› versteht er eine durch künstlerische Reizerregungssysteme hervorgerufene Wirkung beim Rezipienten. Vygotskij bezieht sich mit seiner Kunsttheorie sowohl auf die psychophysiologische Ästhetikforschung zu Beginn des Jahrhunderts – u.a. Wundt, Lipps, Fechner, Müller-Freienfels – als auch auf die formalistische Kunsttheorie, die u.a. Viktor Šklovskij und Roman Jakobson seit ca. 1916 entwickelt hatten.

Insbesondere Ėjzenštejn wird auf der Grundlage des von Vygotskij erforschten Wissens über ästhetische Reaktionen mit entsprechenden Reiz-Reaktions-Experimenten arbeiten. Ėjzenštejn entwirft entlang seiner Pathosformeln eine Wirkungsästhetik, die auf einer polyphonen Übertragungsidee basiert. In diesem Sinn spricht Ėjzenštejn auch von einer «Polyphonie» der Reizerreger (Ton, Licht, Schnittrhythmus). Ėjzenštejn findet neben Vygotskijs Studien vor allem in Klages4 Buch Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft von 1923 und dem darin beschriebenen Carpenter-Effekt ein Modell für seine Wirkungsästhetik.5 Ähnliche Phänomene beschreibt auch Wilhelm Wundt in seinen Studien zur Gebärdensprache, auch darauf hat sich Ėjzenštejn direkt bezogen.

Politisierung der Wirkungstheorien: Am Beispiel von Ėjzenštejn, der sich mehrere Jahrzehnte mit immer wieder neuen Wirkungsexperimenten und -konzepten beschäftigt, lässt sich auch die Gratwanderung zwischen totalitärer Ästhetik und avantgardistischer selbstzweckhafter Erprobung von Wirkungstheorien (›Wirkung als solcher‹) ausmessen. Beide sind der Auffassung, dass Kunst direkt auf den Zuschauer wirken soll, dass Kunst den Zuschauer affizieren soll, indem die im Werk thematisch dargestellten und kompositorisch hergestellten Emotionen auf den Zuschauer übertragen werden sollen. Und dennoch unterscheiden sich Ėjzenštejn und die Vertreter der totalitären Ästhetik in einem wesentlichen Punkt. Ėjzenštejn problematisiert die direkte Beziehung von Sinn und Sinnlichkeit. Seine somatische Ästhetik ist auf eine Verschiebung des Sinns durch den Angriff auf die Sinne ausgerichtet.

Gegendiskurse: Neben der Diskussion der künstlerischen und wissenschaftlichen Wirkungskonzepte und deren politischer Instrumentalisierung soll ein drittes Dispositiv einbezogen werden: ein Gegendiskurs, dessen Autoren sowohl die Widerständigkeit des Kunstwerks, dessen Form und Material, als auch die Widerstandsfähigkeit des Rezipienten in den Mittelpunkt stellen. In diesem Kontext wird gerade eine spezifische Form von Wirkungs- und Rezeptionsschwäche zur Widerstandskraft. Dies ist u.a. zu beobachten bei Čechov, dessen Protagonisten sich aufgrund von Müdigkeit, Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit oder Fehlreaktionen nicht als Ziel von direkter Sprachwirkung eignen, oder bei Mejerchol’d, der fingierte Zuschauer in den Zuschauerraum setzt, die immer dann zu weinen oder zu lachen beginnen, wenn die gespielte Szene dazu überhaupt keinen Anlass gibt. Zu dieser Gruppe der Antidiskurse gehört auch die Poetik der «Wirkungen ohne Ursachen», die sich bei den Oberiuten (u.a. bei Charms und Vvedenskij) beobachten lässt. Diese Wirkungen ohne Ursachen bilden zudem einen Ausgangspunkt für die Untersuchung politischer, totalitärer Prozesse, den «Terrorologiken», die nach Michail Ryklin ebenfalls durch eine Wirkung, die auf keine Ursache zurückgeführt werden kann, gekennzeichnet sind.

Geplant ist die Erarbeitung einer Monographie mit dem Titel Ästhetische Reaktionen. Die Monographie umfasst drei große Abschnitte: 1. Rezeptionsängste, 2. Rezeptionsexperimente, 3. Rezeptionsschwächen. Der erste Abschnitt diskutiert u.a. Fedor Dostoevskijs Überlegungen zur Resonanzhaftigkeit (otsyvčivost‘) von Sprache, Lev Tolstojs Konzept der Ansteckung und drittens Maksim Gor’kijs Überlegungen zur Wort-Strahlung. Der zweite Abschnitt behandelt Rezeptions- bzw. Wirkungsexperimente, die in der künstlerischen Praxis der Avantgarde thematisiert und untersucht werden und sich nicht mehr nur auf Literatur und Sprache beziehen: 1. Reflexe (Bechterev, Pavlov, Mejerchol’d) 2. Ästhetische Reaktionen (Vygotskij, Formalisten), 3. Ästhetische Reizerreger (Ėjzenštejn, Tret’jakov, Institut für Zuschauerforschung), 4. Darstellung der Rezeption in den Texten des Sozialistischen Realismus: Jubel, Enthusiasmus, Pathos. Drittens geht es um die ästhetische Konzeption von (produktiven und subversiven) Rezeptionsschwächen: 1. Reaktionslosigkeit (Čechov), 2. Fehlreaktionen (Mejerchol’d, Ėjzenštejn), 3. Wirkung als solche, Wirkung ohne Richtung, reine Intensität (Malevič), 4. Wirkung ohne Ursache (Charms, Vvedenskij).

Die Forschung zum vorliegenden Projekt wird sich vor allem auf unveröffentlichtes Archivmaterial und kaum berücksichtigte Publikationen Ende des 19. Jahrhunderts stützen. Dazu gehört insbesondere die philosophisch psychologische Forschung im Kontext der Zeitschrift «Fragen der Psychologie und Philosophie» (Voprosy psichologii i filosofii), die Forschung in psychophysiologischen Instituten, z.B. in den Laboratorien von Bechterev und Pavlov nach der Jahrhundertwende und schließlich ab 1920 die Experimente im GAChN (Staatliche Akademie der künstlerischen Wissenschaften) – einem experimentell ästhetisch-psychologischen Laboratorium. Die Geschichte des GAChN (1920-1930) – als staatliches Projekt der Synthese von Kunst und Wissenschaft – ist, bis auf Čubarovs jüngste Publikationen und Herausgaben, insgesamt bislang nur auszugsweise aufgearbeitet. Die interdisziplinäre Forschung am GAChN betrifft vor allem auch Fragen der ästhetischen Wahrnehmung und Einwirkung des Kunstwerks auf die Affekte des Zuschauers und Zuhörers. Vorbereitende Archivstudien hat die Antragstellerin bereits unternommen.

Teilprojekt II: Gedankenübertragung. Psychogramme des Denkens in der frühen Sowjetunion (Wladimir Velminski)

Das Ziel des zweiten Teilprojektes ist die Untersuchung von Theorien und Experimenten zur Gedankenübertragung (Telepathie) in einem Zeitraum zwischen 1890 und 1940. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der in unterschiedlichen Disziplinen (Physik und Parawissenschaft, Ästhetik und Medientheorie) unternommene Versuch, Kommunikation nicht mehr durch Sprache, also durch eine materielle Form der Übertragung, stattfinden zu lassen, sondern einen immateriellen Weg von Übertragung durch Gedanken als möglich zu erachten. Gegenstand der Untersuchung sind insbesondere die Theorien von Vladimir Bechterev, Naum Kotik, Ivan Pavlov, Bernard Kažinskij und Pavel Guljaev. In einem weiteren Schritt ist zudem zu überlegen, wie das Wissen über die Möglichkeit von Gedankenübertragung im künstlerischen Diskurs rezipiert wurde. Dazu gehört beispielsweise Maksim Gor’kijs Rezeption von Naum Kotiks Theorie der Gedankenübertragung, die er neben der Energielehre Ostwalds als Möglichkeit der Schaffung eines Gemeinschaftskörpers betrachtet hat (zumindest lässt die programmatische Schrift des Gottbauertums Ispoved’ eine solche Interpretation zu). Dazu gehören aber auch anti-utopische, futuristische oder phantastische Visionen bei Evgenij Zamjatin, Velimir Chlebnikov und Aleksandr Beljaev. Gedankenübertragung ist zudem zentrales Motiv von Dystopien und Science-Fiction.

Erste Theorien zur Gedankenübertragung entstanden schon Ende des 19. Jahrhunderts. Zu nennen sind hier Ivan Sikorskijs Artikel O čtenij myslej (Über das Gedankenlesen) von 1884, Jakov Žuks Arbeit über unsichtbare Kommunikation zwischen physikalischen Körpern von 1902 (Vzaimnaja svjas’ meždu organizmami) Naum Kotiks Studien Čtenie myslej i N-luči (Das Lesen von Gedanken und N-Strahlen, 1904), Die Emanation der psychophysischen Energie. Eine experimentelle Untersuchung über die unmittelbare Gedankenübertragung im Zusammenhang mit der Frage über die Radioaktivität des Gehirns (1908) sowie Konstantin Kudrjavcevs Forschung zur Emanation Emanacija psichofizičeskoj energii (Die Emanation der psychophysischen Energie, 1908). Kotik beispielsweise war davon überzeugt, dass die Wirkung der Übertragung von Gedanken die der Übertragung von und mit Sprache energetisch noch übersteigt, d.h. effizienter wirkt. Er erklärte das dadurch, dass nach dem Gesetz der Energieerhaltung beim Sprechen die in den «Redezentren entwickelte Energie für die Erregung von Kontraktionen von Zungen- und Mundmuskeln verbraucht»6 werde, während dies beim Denken natürlich nicht der Fall sein sollte. Nach Kotik ist die Gedankenübertragung der sprachlichen Übertragung dann vorzuziehen, wenn eine unmittelbare Wirkung ohne energetischen Verlust erzielt werden soll. Kotik hat seine Experimente mit Hilfe eines von ihm selbst angefertigten phosphoreszierenden Schirmes durchgeführt, der sich bei Gedankenübertragung verändert haben soll. Er stellt fest, dass das Denken «mit der Aussendung von Gehirnstrahlen einhergeht, die das Leuchten des phosphoreszierenden Schirmes verstärken und bestimmte physikalische Eigenschaften besitzen»7. Kotik verwendet für die Idee der Übertragung auch den Ausdruck psychische Infektion. Die Rede von der psychischen Infektion kommt jedoch weder aus dem Kontext der Energetik noch dem der Parapsychologie, sondern aus der Psychologie. Schon 1895 hatte Vladimir Bechterev in seinem Buch über Suggestion ausgeführt, dass Anschauungen, Vorstellungen und Überzeugungen durch die Sinnesorgane übertragbar seien. Bechterev bezeichnet Suggestion als ein contagium psychicum (im Unterschied zum contagium vivum), Kotiks Experimente zur Gedankenübertragung jedoch sind für ihn später aufgrund ihrer methodischen Schwäche reine Spekulation.8

Zu untersuchen wäre hier in einem ersten Schritt, u.a. um den wissenschaftlichen Status der Texte zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, wie das spekulative Gebiet der Gedankenübertragung rhetorisch begründet und in Experimenten dargestellt und inszeniert wird. In einem zweiten Schritt ist zu analysieren, wie die Studien zur Gedankenübertragung in den ästhetischen Diskurs einwandern und für die künstlerische Praxis genutzt wurden. Als Beispiel ist auch hier Maksim Gor’kij zu nennen.

Neben diesen frühen Studien zur Gedankenübertragung soll in einem zweiten Teil der Arbeit erforscht werden, wie Gedankenübertragung im Kontext der Erfindung und Forschung zum Radio eine neue Rolle zu spielen beginnt.9 Chlebnikov veranschaulicht die phantastischen Sujets der Gedankenübertragung beispielsweise in seinen Textpassagen Radio budučšego (Radio der Zukunft). Chlebnikov listet dort Radioklubs, Radioausstellungen, Radiokonferenzen auf und träumt von einem Radio, das den Menschen Geschmack und Empfindungen übermitteln kann. Dieser Traum einer vollkommenen elektromagnetischen Welt, die unmittelbar an die Erfindung des Radios gebunden ist, wird später in den Allmachtsphantasien der politischen Elite in der Sowjetunion instrumentalisiert. Chlebnikov knüpft in seinen Texten an jene Psychogramme des Denkens an, die in den populären Diskursen relevantes Wissen generieren. Denn parallel werden derartige Wissensbilder von transmaterialen Utopien in der frühen Sowjetunion von Forschern um Bechterev im Laboratorium zur Erforschung des Gehirns wissenschaftlich untersucht. Bechterev grenzt seine Hypnose-Forschungen gegen traditionelle schamanistische Heilmethoden ab und bezeichnet sie als «klinische Realität», die durch Suggestion hervorgerufen wird, die «nichts anderes ist, als eine Verimpfung – mit Hilfe des Wortes oder mit irgendwelchen anderen psychischen Phänomenen, z.B. mit Hilfe des Gefühls, der Sinnempfindung, der Idee oder der Handlung – der Person, die sich der willensmäßigen Konzentration entzieht.

Bechterev sah im Bewusstsein eine Begleiterscheinung bestimmter Gehirnfunktionen und betrachtete seelische Äußerungen als Effekte einer neuropsychischen Energie. Bechterev war davon überzeugt, dass der lebende Organismus andere Energieformen in neuropsychische Energie umwandelt und daher eine Art von Strahlenenergie als Übermittler nötig ist; dies veranlasst Bechterev, ein Modell des Radiogehirns zu erstellen.10

Die Annahmen, im Bewusstsein eine Begleiterscheinung bestimmter Gehirnfunktionen zu sehen, wurden im naturwissenschaftlichen und ästhetischen Diskurs ganz unterschiedlich rezipiert. Beispielsweise beschäftigte sich mit der Erforschung der Gehirn-Strahlen der Psychophysiker und das Akademiemitglied Bernard Kažinskij. Er bezeichnet die Strahlen als Ce-Strahlen (Cerebrale) und entwirft ein Modell des Menschen, das im Radio seine Wurzeln hat. Um die Eigenschaft dieser Strahlen zu erforschen, konstruiert Kažinskij im Jahr 1927 einen so genannten ›Faradayschen Käfig‹. Der berühmte russische Clown Lev Durov, der durch seine telepathischen Kommunikationen mit Tieren bekannt geworden war, wurde in einen solchen Käfig eingesperrt, der alle Gedankenstrahlen des Clowns abschirmte und somit die Tiere von den sklavischen Befehlen des Herren befreite. Darin sahen die Telepathieforscher die Bestätigung ihrer Forschung für die elektromagnetische Eigenschaft der Zerebralen-Strahlen.

An die Experimente mit Gedanken knüpfen auch die Romane Aleksandr Beljaevs an. Sie stehen für einen populärwissenschaftlichen Diskurs, den die Theorien zur Gedankenübertragung provozieren. Fast 40 Jahre bevor Marshall McLuhan in Understandig Media das Radio als «heißes Medium» charakterisiert und in dem Aufheizen der Sinne eine Massen-Hypnose erkennt,11 verdeutlichen bereits Beljaevs literarische Experimente in Radiomozg (Radiogehirn) die Macht der Beeinflussungstechnik im Schnittpunkt unterschiedlicher Diskurse: Naturwissenschaft, Ästhetik, Politik. Bereiche also, in denen Phantasmen, physikalische Gesetze und statistische Berechnungen mit einander konkurrieren und sich gegenseitig hervorbringen.

Das Teilprojekt wird zu untersuchen haben, wie Medientechniken, Wissenspraktiken und Machtstrategien miteinander korrelieren und – nach 1917 – im politischen Diskurs der Sowjetunion zur Konzeption eines Subjekts dienen, das als telepathisch steuerbarer Mensch entworfen wird.

Ziel des Projekts ist die Erarbeitung einer Studie, die insbesondere die Telepathieforschung in der frühen Sowjetunion zum Gegenstand hat. Ausgehend von den Forschungen, die bereits um die Jahrhundertwende stattgefunden haben, soll herausgearbeitet werden, inwiefern Telepathieforschung zunächst als politisches Mittel, später dann als subversive Gefahr im öffentlichen Diskurs betrachtet wurde. Neben den wissenschaftlichen und parawissenschaftlichen Texten zur Telepathieforschung sollen auch ästhetische Texte (Literatur, Film) herangezogen werden, in denen die Möglichkeit einer Gedankenübertragung dargestellt und vorgeführt wird. Die wissenschaftliche Studie wird ergänzt durch die Publikation und Kommentierung von Archivmaterialien zur Telepathieforschung in der Sowjetunion.



Projektergebnisse:

Sylvia Sasse, Wladimir Velminski, Hirngespinste. Denkprozesse zwischen Störung, Genialität und Fiktionalität (in Vorbereitung).



Sylvia Sasse:

Ästhetische Reaktionen. Wirkungskonzepte und -theorien und in der russischen Moderne (in Vorbereitung).

Moralische Infektion. Lev Tolstojs Theorie der Ansteckung und die Symptome der Leser, in: Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, hg. von Mirjam Schaub und Nicola Suthor, München: Fink 2005, 275-293.

Mnimyj zdorovyj. Teatroterapija Nikolaja Evreinova v kontekste teatral’noj ėstetiki vozdejstvija (Der eingebildete Gesunde. Die Theatertherapie Nikolaj Evreinovs im Kontext theatraler Wirkungsästhetik), in: Medicina i russkaja literatura. Ėstetika, Ėtika, Telo, hg. von Riccardo Nicolosi und Aleksandr Bogdanov, Moskva: ecce homo 2006, 209-219.

Rezeptionsschwächen. Zur Fehllektüre des Nichttuns bei Anton Čechov, in: Performanzen des Nichttuns, hg. von Barbara Gronau und Alice Lagaay, Wien: Passagen, 103-116.

Pathos und Antipathos. Pathosformeln bei Sergej Ėjzenštejn und Aby Warburg, in: Transformationen des Pathos, hg. von Cornelia Zumbusch, Berlin: Akademie 2009, S. 171-190.

Metalepsen im Denken? Weckträume in Psychologie, Literatur und Kunst, in: Hirngespinste. Denkprozesse zwischen Störung, Genialität und Fiktionalität, hg. v. Sylvia Sasse u. Wladimir Velminski (in Vorbereitung).

Wladimir Velminski

Gehirnprothesen. Poetologische Konfigurationen des Neuen Denkens, Berlin: Merve 2010 (in Vorbereitung)

Sendungen. Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht, Bielefeld: transcript 2009.

Aleksej Popov. Schnurlose Telegraphie. Ausgewählte Schriften, hg. mit Wolfgang Hagen. Berlin: Kadmos 2011 (in Vorbereitung)

Weinende Gedanken. Sigizmund Kržižanovskijs Bilder des Denkens, in: Hirngespinste. Denkprozesse zwischen Störung, Genialität und Fiktionalität, hg. v. Sylvia Sasse u. Wladimir Velminski (in Vorbereitung).

Hirngespinste. Zur Einleitung, in: Hirngespinste. Denkprozesse zwischen Störung, Genialität und Fiktionalität, hg. v. Sylvia Sasse u. Wladimir Velminski (in Vorbereitung).

Zum Aufspüren von Schwingungen. Über Aleksej Popovs Experimentallabor, in: Aleksej Popov. Schnurlose Telegraphie. Ausgewählte Schriften, hg. v. Wolfgang Hagen u. Wladimir Velminski, Berlin: Kadmos 2011 (in Vorbereitung)

Triumph des Symbolischen. Fernsehgraphische Leidenschaften in der frühen Sowjetunion, in: Bildtelegraphie. Eine Mediengeschichte in Patenten, hg. v. Albert Kümmel-Schnur u. Christian Kassung, Bielefeld: transcript 2010 (im Druck).

Zaveščanie professora Douėlja (dt. Das Vermächtnis des Professors Douel‘), in: 100 fil‘mov. Kanon rossijskogo kino, hg. v. Ekaterina Vassilieva. Moskva 2009 (im Druck).

Didididahdahdahdididit. Zur Einleitung, in: Sendungen. Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht, hg. v. Wladimir Velminski, Bielefeld: transcript 2009, S. 9-16.

Die Herrschaft des Schweigens. Von medialen Resonanzfeldern und ihren Auswirkungen“, in: Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, hg. v. Karsten Lichau, Vikotria Tkaczyk, Rebecca Wolf, München: Fink 2009, S. 177-192.

Krieg der Gedanken. Experimentelle Lesesysteme im Dienste der Telepathie“, in: Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860-1960, hg. v. Matthias Schwartz, Wladimir Velminski u. Torben Philipp, Frankfurt am Main: Lang 2008, S. 393-413.

Bazarovs Erben. Ästhetische Aneignungen von Wissenschaft und Technik in Russland und Sowjetunion“, in: Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860-1960, hg. v. Mathias Schwartz, Wladimir Velminski u. Torben Philipp, Frankfurt am Main: Lang 2008, S. 9-36 (zus. mit M. Schwartz u. T. Philipp).

Radiogehirne. Von Sowjetischen Fiktionen der Kommunikation, in: Relating Radio. Communities. Aesthetics. Access. Beiträge zur Zukunft des Radios, hg. v. Golo Föllmer u. Sven Thiermann, Leipzig 2006, S. 300-306.

Psichon - Das Medium der Sowjetmacht“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2. Schwerpunkt Materialität/Immaterialität, Berlin 2010 (im Druck).

1989. Televisionäre Telepathie, in: Der Freitag. 17. Dezember 2009, S. 12.



In Vorbereitung:

Internationale Konferenz zum Thema: Gedankenübertragung (Zürich, Januar 2011)





1 Vgl. Polianski, Igor J.: Zwei Seelen einer gespaltenen Stadt. Der Nachkriegsberliner zwischen Pawlow und Freud. Mündlicher Vortrag auf dem Workshop «Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg 1948-1975. Wissenschaft, Technik, Kultur und Alltag im Schaufenster» am 27. Januar 2006. Der Konferenzsammelband erscheint im Böhlau Verlag 2007.

2 Vgl. u.a. Kuße, Holger; Dukova, Ute. «Etymologie und Magie. Zur Sprachtheorie Pavel Florenskijs», in: Gerd Freidhof, Holger Kuße, Franz Schindler (Hrsg.): Slavische Sprachwissenschaft und Interdisziplinarität, Bd. 1, München: Sagner, 1995, 77-105. (Specimina philologiae Slavicae; 106)

3 Semon definiert das Engramm als eine «beantwortete Reizerscheinung». Nach der Auffassung von Semon ist die Reizsubstanz des Körpers nach einer affektiven Einwirkung dauerhaft verändert. Er nennt das eine engraphische Wirkung, die verbunden ist mit dem Einschreiben des Reizes in die organische Substanz. Diese bleibt dem Körper erhalten und kann unter erneuter Reizeinwirkung wieder freigesetzt werden.

4 Mit Klages beschäftigt sich Ėjzenštejn bereits Anfang der 20er Jahre, zunächst anlässlich eines Aufsatzes zur Ausdrucksbewegung, den er gemeinsam mit Sergej Tret’jakov verfasst. Für diesen Aufsatz liest er die Schriften Bodes und rezipiert über Bode auch Klages, mit dessen Schriften er sich allerdings erst 1924 beschäftigt und dessen Konzept der Ausdrucksbewegung Ėjzenštejn in seinem Aufsatz «Montage der Attraktionen» reformuliert.

5 Nach Carpenter, einem englischen Arzt, der Mitte des 19. Jahrhunderts praktizierte, löst das Sehen einer Bewegung die Tendenz zur Ausführung dieser Bewegung aus.

6 Kotik, Naum: Die Emanation der psychophysischen Energie. Eine experimentelle Untersuchung über die unmittelbare Gedankenübertragung im Zusammenhang mit der Frage über die Radioaktivität des Gehirns. Wiesbaden 1908, 114.

7 Ebd., 116.

8 Vgl. Agursky: «An Occult Source», 252.

9 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die Geschichte des Radios bis heute nur aus westeuropäischer und amerikanischer Perspektive dargestellt ist und die Erfindungen Aleksandr S. Popovs vollständig ausgeblendet wird. Vgl. Hagen, Wolfgang: Radio xxx, München 2005.

10 Ende der 1890er Jahre hatte Bechterev, der bei Charcot in Paris studierte, als wichtigstes Übertragungsmittel noch die Sprache, insbesondere die Rede und die mit ihr verbundenen optischen wie auditiven Sinneseindrücke angesehen. Als Spezifikum der Suggestion beschrieb Bechterev damals die indirekte Übertragung, die Beeinflussung eines Individuums unter Umgehung «des inneren Ich», unter «Umgehung des Willens, der Vernunft und der Aufmerksamkeit». Bechterew, Vladimir: Suggestion und ihre soziale Bedeutung. Rede gehalten auf der Jahresversammlung der Kaiserl. Medizin. Akademie 1897, St. Petersburg, Leipzig 1899, 7. Auch Kotik beschäftigt sich mit Massenphänomenen, die er auf eine «psychische Infektion» zurückführt. Kotik, Die Emanation, 130.

11 McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Basel 1995, S. 44-61.


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