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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Freilich, der Erfolg – und daran wird leider Marie Dähnhardt besonders gemessen haben – scheint in gar keinem Verhältnis zur Mühe gestanden zu haben; so wenig, daß zwischen die erste und zweite Übersetzung jenes völlig mißglückte praktische Unternehmen fallen konnte, auf das wir bereits leise anspielten und dessen Idee wir erstens fast mit Sicherheit – wiewohl alle „berufenen“ Psychologen widerraten werden – einzig auf Stirner selbst, nicht Marie Dähnhardt, zurückführen möchten, das uns zweitens aber auch die natürlichste Erklärung für das „verspielte und verschwiemelte Geld“ (Worte M. D.’s) geben dürfte. Gerade Naturen wie die Stirnersche wollen einmal mit einem coup aus aller Beengtheit und Bedrängtheit des täglichen Zählenmüssens heraus, wollen wohl auch beweisen, daß das, was der mittlere Geschäftsmann versteht, durch ihre tiefere Einsicht in die Gründe mindestens ebensogut, wenn nicht besser geleistet werden könne. Schon muß Stirner wahrnehmen, daß durch die öftere Zufluchtnahme zum Kapital, zu der die geringen Einnahmen zwingen, die Zinsen zurückgehen und nur stärkere Angriffe notwendig machen: – da gibt ihm die Lektüre seiner Nationalökonomen plötzlich diesen trefflichen Gedanken ein, und er erkundigt sich, so ganz unauffällig und unter der Hand, nach einigen kaufmännischen Regeln . . . Daß er um diese Zeit überhaupt etwas recht Rettendes, das ihn mit einem Male aller gegenwärtigen und zukünftigen Sorgen überheben sollte, zu wagen beabsichtigte, wissen [71] wir auch sonst; er hat sich damals eingehend über Spekulationen an der Börse erkundigt . . . Also: das, was er jetzt unternahm, kam für diesen Mann der allerwaghalsigsten Spekulation gleich, wiewohl die Idee als solche – nicht schlecht war! Es handelte sich um eine bessere Organisation der Berliner Milchlieferungen, dasselbe, was später, wie Mackay erinnert, einem geringeren Philosophen, aber tüchtigeren Geschäftsmann, keinem andern als dem Berliner „Klingel-Bolle“, sogar sehr glänzend glücken sollte . . . Es ist ja schwer, bei diesem Gedanken ernst zu bleiben, aber wir wiederholen: es liegt trotzdem nicht der geringste Widerspruch weder zum Wesen noch zum System des Mannes darin. Hier galt es doch zunächst eine Unabhängigkeit; den Nagel aber, daß denkende Menschen sich diese nur durch „Wahrheiten“, lyrische Gedichte oder besoldete Professuren erkaufen dürften – den Nagel hatte doch gerade der „Überwahre“ aus dem Hirn der Menschheit entfernen sollen! Daß Stirner nicht Milchverkäufer „sein“ wollte, wird man hoffentlich glauben; das Milchverkaufen drückte eben den Begriff des „Einzigen“ so wenig aus, wie „das“ Ich, die Wahrheit, die Religion usw. usw. Er wollte in der Hauptsache Geld, um ruhig leben zu können, und es muß ihm zunächst sogar ein köstliches Vergnügen bereitet haben, den letzten Zweifel, den er noch mit seinem Buche übrig gelassen: als sei’s ihm eben doch um den Tribut und die Respektsverbeugung vor der „heiligen“ Wahrheit zu tun gewesen, durch sein weiteres Leben gleichsam zu vernichten. Nur leider – dieses weitere Leben war schon wieder halb zu Ende, als das meiste Geld für eigene Wagen, Kellerräume, Laden- [72] miete, Milchankauf usw. gerade verausgabt war; die Vorräte waren da – aber die Kunden blieben aus, und die „sauergewordene Milch floß in den Rinnstein . . .“

Und jetzt eben – und als dann noch in der höchsten Not das Darlehnsgesuch in der Zeitung gestanden – da sollte sich jene wirkliche Nichtmehrzugehörigkeit Stirners zu den „Freien“, von der wir sprachen, jene meilentiefe Kluft, die tatsächlich längst zwischen ihm und ihnen, wiewohl noch schwach verhüllt, sich aufgetan hatte, aufs deutlichste offenbaren. Sie lachten, sie spotteten: der hat seine Überlegenheit über alle Welt kundgetan! Ihm ging nichts über sich selbst – darum ist ihm auch die Milch sauer geworden. Der betrügt selbst den Staat – aber die Kunden sind ihm davongelaufen. Der lehrt uns trefflich, wie wir unser Ich, unsere Eigenheit durchsetzen – aber er selbst ist nur ein schlechter Milchhändler! . . . Und wie die Witzworte hin und hergeflogen sein mögen . . . Das ist sicher: von den „Freien“ dünkte sich jeder einzelne zu schade, blickte jeder einzelne viel zu hoheitsvoll, um Milchgeschäfte nicht unter seiner Würde zu halten; Stirner hatte recht gehabt, sie steckten noch voller Vorurteile, noch voller „Ideendienst“, sie starteten noch ganz nach christlichen Werten, maßen mit christlicher Elle – die Wahrheit als das Ewige, Unvergängliche, Heilige, die – Milch als verächtliche, rohe Materie! Er, der Egoist, sollte sich widersprochen haben, indem er auf Treu’ und Glauben um ein Darlehn nachgesucht! Wer ihm, der sich, den eigenen Worten nach, zu nichts verpflichtet fühlte, wohl etwas anvertrauen würde! Die Un- [73] schuldigen taten, als ob es – innerhalb eines Staates! – nicht noch andere Sicherheiten gäbe, als das Wort eines Egoisten! Ihm warfen sie Inkonsequenz vor, die „Freien“, und merkten gar nicht, wie sie in all ihren Vorurteilen, ihren lächerlichen Halbheiten und Vermittlungsversuchen, in ihrer bloß phrasenhaften „Freiheit“ zur echten und wirklichen im Widerspruch standen; zur Freiheit und – zum echten und eigentlichen Max Stirner, den sie gar nicht kannten; sie, die „Freien“, und unter ihnen die „Freie“: Marie Dähnhardt. – –

So löste sich der Bund Stirners mit den Freien. Und auch Marie Dähnhardt ging . . . Ohne Szene schieden sie . . . Stirner hielt sie nicht . . .

Und dann kam die Revolution und fegte auch die anderen „Freien“ auseinander.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Aber der furor igneus, der aus dem Stirnerschen Ich gesprochen hatte, war erloschen . . .

Das Ich, das stumme, das dreißig Jahre durch die Welt gestrichen war: äugend, beobachtend, scharf auslugend – aber verschlossen, hatte den Mund aufgetan, sich auf sich selbst gestellt, hatte im höchsten Moment der Gefahr der einstürzenden Flut den Arm entgegengestreckt. Die Wasser stauten sich, flossen ab, nahmen andere Richtungen, aber unten, an den Wurzeln, fraßen, nagten, sickerten, unterwühlten zurückgebliebene Tropfen das Erdreich. Und eines schönen Tages gab es nach . . .

Aber noch etwas war geschehen: erst jetzt hatte die Welt einen Wehrlosen vor sich! Das Geheimnis des Ringes, der Zwölfmännerstärke verleiht, war verraten! [74] Vielleicht hätte die Welt noch länger lauter blinde Streiche gegen ihn geführt; nun aber ist es heraus, nun weiß sie, wie man ihn packen muß – und gegen Zwölf hat sie nötigenfalls auch Hundert und Tausend aufzubieten!

Jedoch – auch er selbst ist ja geschwächt! Da sitzt er jahrelang bei der Hebamme Burtz, das Glück eines Weisen genießend. Glück? Nun ja, sieh doch her, Welt: du ganze große Welt – was kannst du mir anhaben? Indes – sie sieht gar nicht her; sie scheint so satt, so vergnügt, so zufrieden gerade, daß er, Johann Kaspar Schmidt, sie nicht – behelligt. Wie? sollten sie am Ende noch ihr Profitchen daraus ziehen, daß er – gar so ein kleiner stiller Mieter bei der Hebamme Burtz ist? Wie sie, die Welt, wohl über ihn denken mag? Sollt’ es möglich sein, diese armselige, verachtete, bemitleidenswerte Welt bemitleidet zuletzt noch – ihn?! Fühlt sie gar nicht, wie reich er ist? Aber sie weiß wohl überhaupt nicht, worin aller Reichtum besteht!? Nun denn – der Schmidt mag euch hingehen; aber der Stirner, ja, der Stirner, den er unabtrennbar, unauflöslich immer mit sich herumträgt, das ist ein Kolossaler, den überbietet ihr mit allen anderen Kostbarkeiten und Schätzen nicht: der hat ja gerade – „sein Sach’ auf nichts gestellt!“ – Oho, fragen wir nun: auf „nichts“? Das scheint freilich „nichts“! Wirklich nichts? – und eben diesen Stirner, möchtest du ihn mal hergeben, preisgeben? Diesen Stirner: nichts anderes als dein Gedrängt- und Gequältsein – dein Reden-Müssen, deine wirkliche Rede damals, als dir der Mund schon zuzuwachsen drohte und du aufschriest: was wärst du wohl ohne [75] diesen Schrei gewesen? War er – nichts? oder war er – Hunger, fürchterlicher Hunger nach der Welt . . .!?

Der Hunger war gestillt. – Aber eine schwere, unverdauliche Speise! . . .

Gleich der Eselin Bileams, so hatte dieses Ich einmal, gepeinigt und gedemütigt, Halt gemacht und dem Reiter – der Welt – seine Ruchlosigkeit zu erkennen gegeben . . . War dann aber doch, unfähig ihn abzuschütteln, geschlossenen Mundes weitergetrabt . . . den unheimlichen Widerhaken der einzigen Rede freilich für ewige Zeiten in seinem Gewissen stecken lassend. –

Wir hören kaum noch etwas von Stirner. Und bald steht es außer allem Zweifel, daß diesem Verstummen und geheimnisvollen Untertauchen eine Absichtlichkeit zugrunde liegt.

Wenn er auch mit den „Freien“ als einem gewissen Ringe, einem bestimmten Milieu auseinandergekommen war, so hatte er doch zu Freunden, Bekannten eben auch die einzelnen, einige einzelne wenigstens, vielleicht sogar ein paar Verehrer, die ihn, wenn er sich gar zu lange nicht hatte blicken lassen, in der ersten Zeit auch sicherlich aufgesucht haben werden. Aber fraglos – er läßt sich verleugnen! Wir können nur noch regelmäßig seinen Wohnungswechsel feststellen und ebenso, daß er „wenig mehr ausgeht“; trotzdem scheint ihn keiner der Bekannten gerade in seinem Heim gesprochen zu haben. Und wenn diese Bekannten noch selbst so spurlos verschwänden; aber die meisten sind noch da, ihre Schicksale lassen sich verfolgen . . . Zumal von Bruno Bauer ist ja aus- [76] drücklich bekannt, daß er dem ihm innerlich Entfremdeten nie als Menschen etwas nachgetragen, stets nur den ehrlichen Gegner in ihm gesehen habe; wenn wir trotzdem nichts mehr aus seinem Mund über ihn erfahren – sollte es seine Schuld gewesen sein? Nur im Sturmjahr selbst sieht man ihn noch öfter bei Hippel; aber an der Revolution nimmt er selbstverständlich nicht den geringsten äußeren Anteil. Was er überhaupt tut und treibt, ist in undurchdringliches Dunkel gehüllt; daß ihn die Feder allein nicht ernähren könne, muß er eingesehen haben, sein Name erscheint auch in keiner Zeitung mehr.

Ein einziges Mal allerdings sieht es noch so aus, als wolle sich Stirner der Mitwelt ins Gedächtnis zurückrufen; wiederum aber nur mit einer „Sammlung“, die es wie die letzte nur auf einen äußeren Erfolg abgezielt zu haben scheint, kein einziges Geheimnis des Schreibenden selber preisgab und dann auch rasch – als Fragment – liegen gelassen wurde, offenbar als die erwartete Nachfrage ausblieb. Es handelt sich um eine „Geschichte der Reaktion“, die in zwei Abteilungen zu je zwei Bänden geplant war, von jeder Abteilung aber nur den ersten Band brachte. Und auch von dem Inhalt dieser beiden Bände ist das Geringste Stirners Eigentum, er gibt sowohl die Reaktion, als auch das zu ihrer Erklärung notwendige Gegenteil: die (französische) Revolution – „beide werden im selben Augenblick geboren“, wiewohl „von grundverschiedenen Eltern“ – in den Zeugnissen ihrer bedeutendsten Geschichtsschreiber und Theoretiker wieder (Comtes, Burkes), um nur die Einleitungen und verbindenden Mittelglieder eigenhändig hinzu- [77] zufügen. „Ob sich die Reaktion vor sich selber rechtfertigen kann“ – diese Frage hatte er selbständig auf Grund des in den ersten beiden Bänden niedergelegten Materials alsdann erst erörtern wollen: aber da gerade bricht’s ab. Wo der Stirner noch einmal zum Vorschein kommen könnte – da bricht’s ab; man hat die Empfindung, als ob ihn jeglich’ Wort am Ende gereue . . . Wenn auch wohl etwas anderes von nun ab noch viel gewaltsamer seinen Mund verschloß – –

Denn furchtbar kommt endlich auch die Not über den Mann! Das Jahr nach diesem letzten Unternehmen bedeutet den Gipfel seines Elends; Gläubiger hetzen ihn von Wohnung zu Wohnung, packen ihn dennoch und bringen ihn zweimal in Schuldarrest. Das eine Mal verbleibt er drei Wochen in Haft, das andere Mal sogar fünf, und der Ton der Silvesterglocken dringt in sein Gefängnis . . . Vor gerade zehn Jahren schrieb er die berühmteste Stelle seines Buches – und auch damals läuteten die Glocken; ob er daran gedacht hat in dieser Nacht?

„Horch, eben da Ich dies schreibe, fangen die Glocken an zu läuten, um für den morgenden Tag die Feier des tausendjährigen Bestandes unseres lieben Deutschlands einzuklingeln. Läutet, läutet seinen Grabgesang! Ihr klingt ja feierlich genug, als bewegte eure Zunge die Ahnung, daß sie einem Toten das Geleit gebe. Deutsches Volk und deutsche Völker haben eine Geschichte von tausend Jahren hinter sich: welch langes Leben! Geht denn ein zur Ruhe, zum Nimmerauferstehen, auf daß alle frei werden, die Ihr so lange in Fesseln hieltet. – Tot ist das Volk. – Wohlauf Ich!

[78] O Du mein vielgequältes, deutsches Volk – was war deine Qual? Es war die Qual eines Gedankens, der keinen Leib sich erschaffen kann, die Qual eines spukenden Geistes, der vor jedem Hahngeschrei in nichts zerrinnt und doch nach Erlösung und Erfüllung schmachtet. Auch in Mir hast du lange gelebt, du lieber – Gedanke, du lieber – Spuk. Fast wähnte Ich schon das Wort deiner Erlösung gefunden, für den irrenden Geist Fleisch und Bein entdeckt zu haben: da höre Ich sie läuten, die Glocken, die dich zur ewigen Ruhe bringen, da verhallt die letzte Hoffnung, da summt die letzte Liebe aus, da scheide Ich aus dem öden Hause der Verstorbenen und kehre ein zu den – Lebendigen:

Denn allein der Lebende hat Recht.

Fahre wohl, du Traum so vieler Millionen, fahre wohl, du tausendjährige Tyrannin deiner Kinder!

Morgen trägt man dich zu Grabe; bald werden deine Schwestern, die Völker, dir folgen. Sind sie aber alle gefolgt, so ist – – die Menschheit begraben, und Ich bin mein eigen, Ich bin der lachende Erbe!“ („Der Einzige“ S. 252 f.)

Ein lachender Erbe – aber ein nackter Erbe; er hatte alles ausgezogen: Menschheit, Volk, Staat, Gesellschaft, Freunde, Brüder; da konnte es nicht fehlen, daß auch das Geld folgte . . .

„Seine alten Freunde wissen nichts mehr von ihm“. Aber man muß doch verstehen, er hat ja eigentlich nur erreicht, was er selbst so emsig in die Wege geleitet: Unbemerktheit – Unverantwortlichkeit für sein ganzes Tun und Treiben . . . Für jene, für die meisten von ihnen, war ein solcher Mann, der im Schuldturm [79] gesessen, gewiß geächtet, proskribiert; für sich konnte er sicherlich noch „unbeschadet seiner Seele“ weiterexistieren. Mochten jene von solchen Vorurteilen sich unmittelbar abhängig gemacht haben, mochten ihnen „dienen“, mochten Sklaven sein; in diesem Sinn wenigstens blieb er frei bis zuletzt: freier als sie!

Und so hat er denn, in gänzlicher Verschollenheit, noch drei ruhige, windstille Jahre bei einer Mme Weiß in der Philippstraße gewohnt, ohne daß ihm freilich auch je wieder solch ein Glück gekommen wäre, das dem Selbstgenuß seines Ich gerade in seiner Selbstverständlichkeit und Unbedrohtheit tiefer entsprochen hätte. So mußte er dieses Ich vielmehr weiter in die kleinen täglichen Erwerbssorgen stecken, und hat „von Vermittlungsgeschäften, wie sie sich ihm gerade boten, von der Hand in den Mund gelebt“ (Mackay). Aber war er nicht auch jetzt sein eigener bester und weisester Tröster, der einmal in einer Verteidigung seines „Einzigen“ folgende Worte geschrieben hatte (Kl. Schr. S. 123 f.):

„Wenn du dich aber vergessen hast, bist du dann ganz verschwunden, wenn du nicht an dich denkst, hast du dann überhaupt aufgehört zu sein? Wenn du in das Auge deines Freundes blickst oder über eine Freude sinnst, welche du ihm bereiten möchtest, wenn du zu den Sternen aufschaust, ihrem Gesetze nachgrübelst oder auch Grüße ihnen zusendest, die sie in ein einsames Stübchen tragen sollen, wenn du mikroskopisch dich in das Treiben der Infusionstierchen verlierst, wenn du einem Menschen in Feuers- oder Wassernot, ohne der eigenen Gefahr zu denken, zu Hülfe eilst: so ‘denkst’ du gewiß nicht an dich, so [80] ‘vergissest’ du dich. Bist du aber nur, wenn du an dich denkst, und verkommst du, wenn du dich vergissest; bist du nur durch das Selbstbewußtsein? Wer vergäße sich nicht alle Augenblicke, wer verlöre sich nicht tausendmal in einer Stunde aus den Augen?



Diese Selbstvergessenheit, dieses Selbstverlieren ist ja nur eine Weise unserer Befriedigung, ist nur Genuß unserer Welt, unseres Eigentums, d. h. Weltgenuß.“

Er war weise genug, nach der Gedankenfülle auch die „Gedankenlosigkeit“, wie der „Einzige“ sagt, als Weltgenuß zu empfinden; sie ist ihm nur die eine Seite desselben, nicht sein Gegenteil. Wer nicht geneigt ist, mit der gesamten modernen Philosophie die sklavische Anbetung des Gedankens mitzumachen, wird hier bei Stirner ganz neue Perspektiven auftauchen sehen. –

Aber verschollen ist er jetzt wirklich gänzlich: unter seinen noch sehenden Augen erscheint der Brockhaus von 1854 – und weiß nicht mehr das geringste über den Verfasser des „Einzigen und sein Eigentum“ zu sagen; er soll „Max Schmidt“ geheißen haben! Sollte Stirner nicht wirklich einmal in ganzen zwei Jahren daran gedacht haben, nachzuspüren, wieviel denn noch von seinem Werk in der Welt wäre? Aber nichts verlautet, daß er je Gerüchten über seine Person die „Wahrheit“ entgegengesetzt habe. Er „diente“ ja gar nicht der Wahrheit; so mögen sie denn auch über ihn „Wahres“ und „Falsches“ durcheinandermengen. Er selbst ist der letzte, es den Leuten übelzunehmen; wo er selbst es für nötig fand, gab er dem „Falschen“ den Vorzug. Bitte, Ich bin der Herr der Wahrheit, Ich bin der „Überwahre“! So nennt er sich noch in [81] den letzten Jahren „abwechselnd Gymnasiallehrer, Dr. phil. und – Rentier“: und alle Philister geifern natürlich . . . Die so geifern, sollten doch bloß einmal hinschauen, mit welcher Welterhabenheit der Mann auch seinerseits über den tausend Verleumdungen stand, die im Laufe der Jahre über ihn verbreitet wurden! Wieviel ist nicht unter seinen hörenden Ohren allein über die Geschichte seiner Trauung zusammengelogen worden; hat er je dementiert? Hat er je den Leuten gesagt, sie sollten nicht so lügen – es sei unanständig? Dazu waren seine Lügen, gegen die ihren gehalten, noch der harmlosesten Art; aber wozu das? Mögen es doch Lügen bleiben!

Aber wahrlich: es war Stil und Größe in dem Mann bis zum letzten Atemzuge! In der Philippstraße, dort bei Frau Weiß war es, wo eine letzte Ironie diesem Leben, das mit einer Ironie schon in die Welt getreten war, auch sein Ende bereitete. Stirner war durchaus rüstig und gesund, erst im fünfzigsten Jahre, und hatte immer auf ein hohes Alter gerechnet: da stach ihn eine vergiftete Fliege in den Nacken, und in wenigen Tagen, am 25. Juni 1856, raffte ihn „allgemeiner Geschwulst“ dahin. Über dem Grabe der „Menschheit“ hatte sich der „Einzige“ erhoben; den „Einzigen“ aber tötete eine – Fliege.

War das ein Beweis gegen den „Einzigen“? – So war es jedenfalls auch einer gegen – Welt und Menschheit!

Nun besannen sich noch einige alte Freunde. Dieselben, die seine Trauzeugen gewesen waren, Bruno Bauer und Ludwig Buhl, sind plötzlich auch an seinem Grabe. So lange hörten wir nichts mehr von einem [82] Verkehr. Es kann doch nicht anders sein; Stirner muß es gewesen sein, der sich absichtlich allen zu entziehen gewußt hatte.

In der Öffentlichkeit war Stirner längst tot; kaum daß – nach einigen Tagen erst! – ein paar Zeitungen von seinem Tode erfuhren und dürftige Notizen brachten.

Aber seltsam, wie das Schicksal noch über seinen Tod hinaus für die Verschwiegenheit sorgte, die dem Lebenden so teuer gewesen! Daß gerade Buhl es war, vielleicht sein letzter und treuester Verehrer, an den nun der schriftliche Nachlaß kam: das hat für alle Zukunft beinahe die Hoffnung vernichtet, in dieses Leben einmal tiefer noch blicken zu können, als es sein Biograph uns möglich gemacht hat. Buhl ward eines Morgens tot vor seinem Schreibtisch gefunden; wahrscheinlich hat er selbst Hand an sich gelegt, als ihm wieder ein Prozeß drohte. Seine Hinterlassenschaft, welche die Gläubiger sofort mit Beschlag belegten, flog in alle Winde – eigene und Stirnersche Papiere mögen unbesehen in Bündeln nach dem Gewicht verkauft worden sein. – –

Und ähnlich ist es den beiden Zeichnungen ergangen, die das Bild des Verstorbenen, auf dem Totenbett, festhalten sollten und deren eine für Bruno Bauer bestimmt gewesen war; sie sind beide spurlos verschwunden. Aber Bruno Bauer soll voller Bewunderung damals von der „charaktervollen Formation“ des Kopfes gesprochen haben, welche die „geistige Bedeutung des Verstorbenen mit voller Entschiedenheit ausprägte“. Auf die kolossale Stirn spielt übrigens auch das Pseudonym an; Studenten gaben ihm dieser [83] Stirn wegen einst den Spitznamen, und er ergriff ihn und machte ihn selbst zu seinem Ehrennamen.

Ein wundervoller Ursprung; ein prachtvolles, stolzes Pseudo-, nein Alethonym! – Von seiner Mutter soll Stirner überlebt worden sein; mit ihr ist dann das ganze Geschlecht ausgestorben. Geburts- und Sterbehaus, selbst das Grab mußt vom Biographen erst wiederentdeckt werden; er hat für eine Erinnerungstafel am Hause Philippstraße 19, sowie ein Gruftdenkmal auf dem Sophienkirchhof zu Berlin – eine mächtige Granitplatte mit Stirners Namen – gesorgt, und kein Geringerer als Hans von Bülow ist hierbei werbend am Werke gewesen, einer der verständnisvollsten Bewunderer Stirners.

Wie Hamlet aber, an der Schädelstätte des menschlichen Geistes, rufen wir an dieser Gruft:
„Imperious Cesar, dead and turn’d to clay

Might stop a hole to keep the wind away:

O, that that earth, which kept the world in awe

Should patch a wall to expel the winter’s flaw.“



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Zum Schlusse müssen wir noch erwähnen, daß auch an dieses also verlaufene Leben sich der Psychiater von fern schon einmal herangewagt hat, um auch hier die bescheidene Möglichkeit wenigstens vorhandener Geisteskrankheit anzudeuten. Daß die bei der Mutter Stirners im 50. Lebensjahr auftretende Psychose jedoch eins der schwerwiegendsten Verdachtsmomente abgegeben hat, wagt Ernst Schultze*) nicht [84] zu sagen; er bleibt sachlich und objektiv, wie alle Psychiater in so wichtigen Fällen, er überläßt das unbesonnene, fixe Urteil kühl und skeptisch dem Laien und Philister, der aber natürlich auf solche Gelegenheit nur immer lauert, um sein durch Stirner zufällig einmal erschüttertes Gleichgewicht mit dem erleichternden Seufzer zurückzugewinnen: „Ach so – der Mann war ‘also’ wahnsinnig!“ Man kann diese vagen Betrachtungen, die sich immer wieder an irgendwelche psychischen Verrückungen heranmachen, von denen die Zeitgenossen seltsamerweise nicht das geringste bemerkt haben, im Grunde genommen nicht genug verurteilen. Von der entgegengesetzten Konsequenz, daß ein Geisteskranker, weil er einem scharfsinnigen Denker in vielen Ansichten nahegekommen ist, aus der Irrenanstalt entlassen worden sei, hat man ja noch nichts gehört. Wir hüten uns auch als Laie, etwa dafür zu plädieren: denn so wenig uns ein Psychiater noch einen Philosophen dauernd ins Irrenhaus zu sperren vermochte, so wenig haben leider seine ja übrigens redseligen Krankenberichte die Welt veranlassen können, ein neues philosophisches System in ihre Geschichtsbücher einzutragen: „fehlt leider nur das geistige Band.“ Fehlt immer nur das Tüpfelchen auf dem I, das den möglicherweise Kranken für uns hinwiederum zum Genie zu stempeln vermöchte; fehlt leider gerade die Hauptsache, das tertium comparationis immer – was der Psychiater freilich auch empfindet und bloß in jener grenzenlosen Distanz von echter Logik nie sehen zu können scheint, über die ihn jeder Durchschnittler beinahe schon besser aufklären möchte. Aber vielleicht haben die Psychiater recht, und vielleicht sind gerade [85] sie einmal dazu berufen, die Welt von jeder und jeglicher, auch der letzten – Borniertheit zu heilen. Sie sind schon heute im Grunde die furchtbarsten Skeptiker; sie verwischen uns am leichtesten die Grenzen zwischen Wahrheit und Irrtum; nicht umsonst müssen sie sich zuletzt immer, um das eigentlich Normale herauszukriegen, an das – Bürgerliche Gesetzbuch halten. Sie geben uns vielleicht noch einmal eine Freiheit des Geistes, welche alle Irrenhäuser der Welt für Verbrechen an der Individualität erklärt; wenn das toll erscheint, so sollen sich’s die Psychiater nur auf die eigene Rechnung setzen . . . In diesem Fall handelte es sich für Schultze um eine Frau, die mit aller „logischen Konsequenz“ Ideen geltend machte und auch schriftlich fixierte, nach denen sie zu allem, was ihr Wille, besser die Laune, ihr vorschreibe, berechtigt sei. Dieser Wille, diese Laune, sind ihr zugleich das höchste Vernunftgesetz, unter dessen Alleinherrschaft sie aber, ohne zu fragen, ob es nicht auch Herrschaft sei, bedingungslos stehen darf. Bei Stirner heißt es, „meine Macht gibt mir Recht“; wie weit er von Laune und Zügellosigkeit fern ist, werden die folgenden Ausführungen zeigen, und unter eine – Herrschaft begibt sich Stirner nie. Das Wichtigste ist aber, daß Stirner, der individualistische Philosoph, an jedes und jegliches Einzel-Ich sich wendet, um es an seine Individualität, seine Macht und sein Recht zu erinnern; daß diese Frau hingegen lediglich von sich spricht, nur sich selbst alles Recht in der Welt zuerkennt und alle andern als nur von ihrem Willen Abhängige betrachtet. Damit meinen wir doch aber eine überhaupt nicht so seltene Form des Größenwahns vor uns zu haben? Das [86] sieht auch der Psychiater, er sieht auch genau die Differenzpunkte und bezeichnet scharf die Schnittlinie, wo der „normale“ Stirner sich eben prinzipiell von diesem Fall unterscheidet. Aber wozu dann die ganzen Ausführungen? Weil sie wieder Gelegenheit geben, die ohne den ersten Teil des „Einzigen“ absolut mißverständlichen Zitate aus Stirners Darlegungen über Recht, Staat, Gesellschaft, Eigentum usw. abzudrucken. Dazu wird noch behauptet, daß Stirner „die Liebe verdammt habe, weil sie ohne Pflichten nicht denkbar sei“! Solche groben Entstellungen können aber nie ausbleiben, wenn die Grenzlinien zwischen den Wissenschaften verwischt werden, was schon Kant so verurteilt hat. Nein, wenn etwas bei Stirner Verdacht erregen konnte, so war es von je wohl gerade das unauffällig – Normale seines äußeren Lebens, das alle möglichen Mißverständnisse über diesen Denker hat aufkommen lassen. Unsere Biographie hat darum ihre einzige Aufgabe auch nur darin gesehen, diese mit dem Werk seltsam kontrastierende „Normalität“ gerade auf ihre verborgenen Ursachen zu prüfen, zu zeigen, daß sie sehr wohl auch die absichtliche Maske einer Tiefe gewesen sein kann, die keiner seiner Zeitgenossen von fern zu ahnen vermochte.

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