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Ocr-texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 06. 10. 1997


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Willst du, Freund, – so könnte Bauer vielleicht gesagt haben – das Allerrealste nicht bloß in einigen abgerissenen Fetzen zu sehen bekommen, so mußt du kennen lernen, was uns alle dort bewegt. Gewiß ist, daß dort Irrtum und Wahrheit noch dicht gemengt sind . . . Aber dazu eben leben wir: um „Kritik“ zu üben!

Und Stirner ging hin –; die „Kritik“ war heut offenbar das Allerrealste. Noch realer selbst als der Feuerbachsche, schien sich „der Mensch“ Bruno Bauers anzukündigen; Bruno Bauer aber war ein Einzelner – und so, als Einzelner, schien er Stirner noch in einer derben Täuschung befangen. Bei Hippel aber sitzen sie, die in ihm das anerkannte Haupt erblicken: müßte nicht an dieser Welt im kleinen, dieser Quintessenz des Realen, das seine Zeit geschaffen – so spiegelt sich’s noch im Kopfe Stirners –, offenbar werden, was Brauchbares überhaupt diese Zeit hervorgebracht hat? Er ging hin – und traf, was er naturgemäß treffen konnte: nicht das reinere Bild, den sozusagen in Betracht kommenden Teil Menschheit, sondern im Gegenteil das hundertfach gebrochene, verzogene, zerstückte, verspiegelte Zerrbild. Diese Menschen meinten es einzeln tagsüber jedenfalls alle ernst; aber doch nicht gar so sehr, wenn sie zum Glase Wein zusammenkamen? Das sieht der Menschenentwöhnte gar nicht; er sieht nur, mit welcher Wonne sie politisieren, Gott und Welt anrufen, Gott und Welt verdonnern, Mensch und Menschheit hochheben und Mensch und Menschheit mit Füßen treten. Glaubt man nicht [39] wieder in ein Hegelsches Kolleg zu treten? Lauter Ideen – lauter Ideale – lauter Jünglinge; Stirner denkt, wie weit sind sie zurück – wie weit habe ich das hinter mir liegen lassen! Daß es auch an sich ein ganz heiteres Vergnügen abgibt, über Ideen und Ideale zu philosophieren und sich herumzuschlagen – daran denkt er gar nicht. Er fühlt nur, er ist in der Welt – und das hier ist die Welt! Und eine maßlose Verschiebung aller Perspektive für Welt und Menschen vollendet sich in ihm, eine Verschiebung, wie man sie aber bei vielen Menschen dieses Zeitalters finden kann; hat nicht der mittelbegabte Herwegh damals allen Ernstes geglaubt, ein Lied von ihm genüge, um Deutschlands Sklavenjoch zu zerbrechen? So verfällt Stirner in den Irrtum, den Kreis, in welchen er getreten, für das Leben, für die Welt zu halten; und an den kolossalen Abständen, die ihn selbst noch von diesem Kreise trennten, – seine Überlegenheit über die Welt zu messen . . .



Schon am zweiten oder dritten Abend muß er fühlen, welche schauerliche Einsamkeit – eine viel schauerlichere, als die er eben verlassen – ihn gerade hier stets anwehen werde; und der alten Einsiedlerseele ist das lieb, dem „Realist“-Gewordenen fällt der Umzug in diese neue Welt beinahe süß . . . Nun zeigte sich’s zudem, daß er ja überhaupt einsam, „einzig“, in der Welt als solcher dastehe; hatten künstliche Riegel noch irgendwelchen Sinn? Und er genießt dabei den Vorzug, die Welt ständig beobachten, fixieren, verfolgen, „verzehren“ zu können – ohne selbst wahrgenommen zu werden; kommt nie in die Gefahr, der Wirklichkeit untreu zu werden, Wind- [40] mühlen zu bekämpfen; nein – die hat er mal in der Jugend bekämpft: aber alle Ideen sind nun maustot . . . Sieht man ihn nun im Kreise der „Freien“ dasitzen, „behaglich“, „wie ein Genußmensch“, den Dampfwölkchen seiner Zigarre nachblickend? Sieht man nicht, wie die äußerlich „stillvergnügte“ Miene Stirners nichts als die aus dem Innern hinausgesetzte Freude darüber ist, daß er nun mit allen Ideen fertiggeworden ist – er allein, während sich die andern alle noch um diese oder jene katzbalgen und in den Haaren liegen? Ja, auf solchem Piedestal ist es leicht, „immer freundlich“ zu bleiben; da verzichtet man aber z. B. auch sehr gut und gern – was vielleicht noch merkwürdig erscheinen möchte – auf jede besondere Anerkennung und Auszeichnung der andern. Er schafft nur Distanz, d. i. beweist gerade nur, daß er auch nicht auf den Mund gefallen ist; wirft einige witzige, treffende Bemerkungen hin, sagt der Biograph. Folge, daß ihm mancher gern auf die Schulter klopfen möchte; aber man sehe nur hin – seltsame Abkühlung: der rechte „höhere Mädchenlehrer“! Und während sie alle dem Mädchenlehrer gegenüber die allzugroße Vertraulichkeit zu unterlassen glauben, hat nur – die „Einzigkeit“ des Mannes sich emporgereckt und es für gut befunden, den Schild vorzuhalten, das Aschenbrödelgewand überzuziehen . . . Totale Über- und Unterschätzung des Kreises zugleich von seiten Stirners: war er ihm einerseits bedeutend genug, um mit „Welt“, „Leben“ usw. verwechselt zu werden – war er nicht auch bedeutend genug, um seinen „einzigen“ Gedanken zu vernehmen? Aber er freute sich vielleicht wie ein Kind auf den Tag, wo er [41] sich allen, allen werde entdecken können, wo ihn dann alle erblicken würden; es war ja gerade in diesen Jahren des Verkehrs mit den „Freien“, da er im stillen an seinem Buche schrieb – wo denn endlich zu lesen war, wen er sich eigentlich schon früher immer gern als sein Publikum gedacht, und wo in der Tat getan ist, als wäre die Welt der Bruno Bauer und Feuerbach – die hauptsächlich zu revolutionierende Welt . . . Und doch liegt die tragische Vermutung nicht so fern, daß, als nun das große Werk vollbracht und die erste hohe Sturzwelle in der Öffentlichkeit aufgespritzt und verrauscht war: die frühere, glattere, weniger Rätsel aufgebende Oberfläche dieser Persönlichkeit in aller Erinnerung widerflutete und Buch und Schöpfer begrub . . .

Es erübrigen sich jetzt nur noch einige Worte über die angedeutete Passivität in der Natur Stirners, und in welcher Gestalt dieselbe nun aus der unleugbaren Metamorphose dieser Jahre heraustreten mußte. Wiederum ein höchst interessantes Schauspiel; doch aber, wer nur flüchtig hinblickt, könnte sie ebensogut in der ergriffenen Lehrtätigkeit, wie in dem lauten, lärmenden Verkehr bei Hippel für überwunden erklären, wie ein anderer in der ausgesprochenen Gutwilligkeit, mit der jetzt Stirner alles über sich ergehen läßt: Studentensitzungen, Ausflüge, Silvesterfeiern usw., das nur äußerlich etwas veränderte Stadium eines fortgesetzten laisser faire erblicken dürfte. Dagegen sagen auch wir: diese Natur ist freilich noch, was sie war; aber widerspruchsvoll wie in der Jugend, so äußert sie sich jetzt. Wie wir uns dort nicht scheuen durften, trotz des „guten und fleißi- [42] gen“ Schülers, trotz der merkwürdigen Hartnäckigkeit, mit welcher der zehnmal Herausgerissene scheinbar auf ein „Ziel“ lossteuert und endlich auch das Staatsexamen – nach neun Jahren – absolviert, von „Passivität“ zu sprechen, so werden wir in bezug auf die nächsten neun Jahre, in denen nach außen hin bei weitem noch nicht einmal so viel geschah, sogar von einer Art höchster Aktivität reden können: aber wiederum nur als von einem gesteigerten Rückschlag, und so aus derselben Quelle – der Passivität herrührend! Forcierte, gepeitschte Passivität; der schwere ruhende Block besinnt sich darauf, daß er ist, nämlich durch sein bloßes Ruhen und Wuchten schon etwas ist, durch seine bloße – Selbstbehauptung! Dort, die Stelle, wo er ist, kann – im selben Raum, zur gleichen Zeit – kein Zweiter einnehmen, sowie nichts in der weiten Welt ist, das sein Dasein – nein, nicht den tausendsten Teil eines Atoms der Wirklichkeit nachschaffen, absolut nachahmen oder ersetzen könnte! Ob es Wert hat? Wer ist denn Wertmesser? Kannst du Äpfel mit Pyramiden vergleichen und sagen, was „besser“ ist? So ist schon der geringste Teil meines Wesens, geschweige dieses mein Wesen selbst, absolut einzig, nur einmal vorhanden, eben darum – unvergleichlich; und ich, zu mir selbst zurückgekehrt, von der Welt, die ich immer nur in übertriebener Machtfülle vor mir gesehen, zum letzten Mal in Regionen verlockt, in die ich nun länger ihr zu folgen nicht gesonnen bin, entdecke plötzlich, daß gerade sie an mir ihre Schranken gefunden hat und daß es ihr, der Scheingewaltigen, in der Tat nicht gelungen ist, von mir, dem Meinigen, auch nur die Größe [43] eines Stecknadelkopfs in Besitz zu nehmen, sich zu eigen zu machen.

Folgt daraus – nichts? Mir – Stirner – hat die Welt nichts gegeben; aber hat sie mir – Stirner – auch nur das geringste nehmen können? So bin ich, Stirner, auch keineswegs so machtlos, da ich gegen sie, die man das bei weitem Machtvollste nennt, mich auch nur behauptet habe. Die Aktivität des Passiven beginnt: versuch’s einmal, Welt – große – gewaltige – unendliche – raube mich, den Stirner! mache ihn dir zu eigen! aber mich, den ganzen, einzigen Stirner! Zermalmst, zerschmetterst du mich? – mir, dem lebenden Stirner, kann egal sein, was der tote macht; reißest ein Bein mir aus und sagst, du hättest ein Stirnerbein – mit nichten! Du hast ein totes Bein in der Hand – nicht mein Bein, wie es leibte und lebte!

Das Ruhende, Träumerische, Lebensfremde in Stirner hat gewuchtet, gelastet auf dieser Natur, zuerst als blinder, dunkler, unverstandener Drang; dann bereits als etwas Quälerisches, Sehnsüchtiges, bis es aus den Tiefen des Unbewußten zum Bewußtsein sich emporarbeitete. Und da es bewußt geworden war und also doch Leben verriet– so peitscht und peitscht das Leid hinterher, und der Leidende schreibt, äußert das Sein seines Seins, schüttet die Natur seiner Natur um und um, und was er schreibt, sind Seiten auf Seiten, Blätter auf Blätter – werden zu einem Buche, das erweckt den Schein, als handle es von Völkern und Staaten und mächtigen Menschen, und in Wirklichkeit ist es die im höchsten Stadium der Verzweiflung geborene Selbstrettung eines Menschen vor [44] dem bodenlosen Versinken ins Nichts . . . Schon rückt die Flut heran, droht ihn hinwegzuspülen, als wäre er nie gewesen: da kommt Leben in den versteinten Leib, Sprache in den Schwerverzauberten, und nun kann er sich schützen wenigstens, verbarrikadieren – nicht durch Aktivität; durch „Selbstbehauptung“, schwere, wuchtende . . . Schon öfter hat die Geschichte solche Menschen gesehen – aber ihre Typen gehören zu den dunkelsten, schwerverständlichsten; Stirner selbst würde sich bekreuzigen, wenn er sich in einem Atem mit den Mystikern genannt hörte, mit Jakob Böhme oder Swedenborg, – diesen wirklich „Besessenen“; auch war der politische Himmel bereits zu sehr bezogen, um als bloß wetterleuchtende Vision bei ihm rein-innerlich zu offenbaren, was als fernes Donnergrollen der Revolution fortwährend nach außen zu horchen zwang. Indes man soll es nur zu denken wagen, man wird finden, daß es hier Brücken gibt.



Sehr interessant nun, zu verfolgen, wie diese „Selbstbehauptung“, dieser letzte, nicht erste Akt einer Rettung, solange die innere Zerquältheit dauert und schließlich vom Leidenden selber für ein reiches Strömen gehalten wird, solange der innerliche Stimulus, die Hetzpeitsche hinterdrein jagt – als furor igneus tatsächlich die Stelle einer höchsten Aktivität vertritt und wirkliche, unserer höchsten Bewunderung würdige Taten vollbringt, Taten, wie sie mit so geringer äußerer Kraftentfaltung jedenfalls kaum noch übertroffen werden könnte. Diejenigen, welche auch jetzt so obenhin von „passiver Natur“ sprechen, weil sie doch das Werk des Mannes noch nicht erblicken, weil sie ihn weiter den Unterricht der Mädchen geben sehen, ohne daß [45] auch nur eines sich über zu freie Ansichten des Lehrers beklagen könnte, weil sie ihn, anscheinend schon aus Gewohnheit, nachmittags in der Konditorei von Stehely am Schloßplatz, abends bei Hippel finden – die sagen das, weil ihnen nur immer eine höchst ungraziös mit Armen und Ellenbogen herumfuchtelnde Aktivität im Grunde als solche gilt. Von solcher Aktivität bekommt man im Leben Stirners nie, es sei denn einmal, etwas zu spüren, jenes einzige Mal, da das theoretisch so glänzend gewahrte Ich sich einen Augenblick auch zur Überschätzung seiner praktischen Konkurrenzfähigkeit mit dem Volke verleiten läßt: wo sich denn gerade herausstellt, wie innerlich fremd sie dem ganzen Wesen dieses Menschen! Aber wenn man, wie billig, unter Aktivität alle Projektionen, alle Ausstrahlungen eines Ich in die Außenwelt versteht, gleichgültig ob dieses dabei Umläufe um die Sonne, den Mond oder gar – nur um sich selbst vollführt, so hat Stirner in dieser Zeit überhaupt das Höchste geleistet. Meisterhaft spielt dieser Mann ganze Jahre die Rolle eines Philisters, verbirgt meisterhaft vor allen, was gerade aus dem Verdecktliegen, daraus, daß niemand „herankann“, den vorzüglichsten Teil seiner Kräfte saugt! Man denke, wenn dieses Ich, noch bevor es den ganzen Umfang seines Könnens ausgemessen und die ganze „Summe seiner Kräfte sich zusammengeschlossen“ hat, Teilungen vornähme, dem dieses und dem jenes davon abgäbe, disputierte, Erschütterungen zuließe; – wie, würde es noch mit seiner ganzen primitiven Macht wirken können? Und dagegen halte man, wie doch diese Gedanken im Einzigen, der sie hat, glühen, wie sie nach täglicher Mitteilung [46] förmlich schreien müssen! Weiß man es denn? Der Mann ist doch auf der Höhe seines Schaffens, er schreibt, er produziert doch! Ja – aber muß er sich denn die tägliche Qual auferlegen, muß denn gerade er, dem die Einsamkeit nichts Ungewöhnliches, gerade jetzt Menschen aufsuchen? Ja – wenn das nicht der Kern des ganzen Buches wäre! Wie ist denn ein „Ich“: ist es an sich selber, oder ist es nur im Unterschiedensein, im Gegensatz zu „andern“? Käme ein einziges Ich in der Welt je darauf, sich „Ich“ zu nennen – ja, ist dieser Gedanke nur auszudenken, verliert er nicht schon im bloßen Aussprechen allen Sinn? Und was wäre alle „Selbstbehauptung“, alle Berufung deines Ich auf sich selbst, wenn gar nicht die – anderen da wären, die es dir strittig machten? Gerade in dieser Zeit muß Stirner fortwährend die Probe aufs Exempel machen, sich selbst bestärken, er muß an einem Beispiel bewähren, wie man Menschen „verbraucht“ – ohne selbst verbraucht zu werden. Das war keineswegs so leicht; und doch führt er es so meisterhaft durch, daß Bruno Bauer, dem freilich unter allen der Gedanke, daß er hier „verbraucht“ würde, wohl am fernsten gewesen, nach dem Erscheinen des „Einzigen“ nur die Augen aufriß und – verstummte. Es war auch sonst durchaus nicht so leicht, denn unter den „Freien“ saßen, obschon nicht viel „gewichtige“, so sicherlich lauter helle, kluge, spitzfindige – spottlustige Köpfe; mindestens ebenso eifrig mußte also Stirner gleichzeitig darüber wachen, daß nicht umgekehrt er hier „verbraucht“ d. i. der Düpierte, Gefoppte werde. Einige Vorbeugungsmaßregeln in diesem Sinne haben wir ihn schon treffen sehen; er wird es keineswegs [47] wagen, sich nur als Philister zu gerieren – er gibt schon „Proben“ seines Geistes . . . Sie genügen aber nicht, und tatsächlich hat Stirner schon in den Jahren von 1842-1844 einige Aufsätze seinem Hauptwerk vorangeschickt; sie werden bei der Entwicklung seines Denkens vor uns noch berücksichtigt werden. Aber welch ein Gegensatz zur Sprache des „Einzigen“; in wie knapper besonnener Weise, durchaus erst auf bloßen Respekt, nirgends auf Überraschungen zielend, sind sie geschrieben! Man kann die Vermutung gar nicht von sich weisen, daß es völlig bewußt geschieht: entsteht doch das Hauptwerk beinahe nebenan! Und auf den eigensten, ursprünglichsten Gedanken wird auch nicht etwa verzichtet; o nein, fast vollständig ist er schon da und kann doch, so mitten in der Tagespresse obendrein, im Moment des Lesens als pikanter Bissen und – weiter nichts gut und gern verschlungen werden . . . Denn noch ist der große Moment der Entdeckung nicht erschienen, und für den gegenwärtigen Zweck sind eben die Maße genommen, ist jedes Wörtchen fein und gut erwogen . . . Das alles ist höchste Aktivität, ohne Zweifel! Und nun erst denke man an das Werk selber, den „Einzigen und sein Eigentum“, an die zähe Richtschnur, die er dort seinen Gedanken gegeben hat, sie keinen Augenblick vergessen läßt, daß nun, wo das Ich in seiner Verschiedenheit von allen Ichen gezeigt, wo es selbst zum natürlichen Feinde aller (auch derer, die es liebt!) geworden ist und also kämpfen muß – bei jedem seiner eigenmächtigen Schritte auch die bloße Möglichkeit eines Kampfes erwogen sein will! Das wird im einzelnen erst die genauere Betrachtung ergeben können, wie [48] stark hier wirkliche Aktivität arbeitet, nämlich Aktivität eines Schlauen, Klugen, Berechneten, d. h. wieder nichts, wovon man nach außen Schwerthiebe und Funkenstieben wahrnimmt, statt dessen ein Vorgehen und Vorsehen, wie sich’s von jedem David einem Goliath gegenüber nur geziemt! Man denke doch, dieser Stirner erwägt ganz ernsthaft die Aussichten, die der Einzelne hat, sich unter Millionen in seiner absoluten Eigenart erhalten zu können, ohne daß diese Millionen bei der geringsten unbequemen Regung Miene machen, ihn zu zerquetschen; wird er dumm genug sein, mit dem Säbel zu rasseln, an den Schild zu schlagen, wird die Welt herausfordern, sie auch nur auf sich – aufmerksam machen? Auch solche Ich-Propheten hat’s nämlich gegeben, Giordano Bruno war einer von ihnen; Stirner wird ihn mit Recht im Jenseits gefragt haben: nun, deine Wahrheit in allen Ehren, aber war es denn gar nicht möglich, sie ein bißchen – – taktvoller zu verkünden? Ich höre, du brauchtest gar nicht zu verbrennen . . .; war es nötig, allen diese übertriebene Furcht vor der „Macht“ einzujagen? Allerdings, dir hat das Verbranntzuwerden Spaß gemacht! – – Was Stirner betrifft, er fand die Macht gar nicht so unbesieglich, aber man müsse es freilich ein bißchen geschickt anfangen. Und er hat es wirklich so geschickt angefangen, daß man vor Verwunderung starr bleibt; er hat ohnedies über Gedankenfreiheit das Beste gesagt, was seit Menschengedenken geschrieben ist. Aber – gesagt? Ihr werdet noch immer meinen, geistreiche Paradoxen, jene Idiosynkrasien gerade der Weltfremdheit; o nein, darauf wollten wir ja hinaus: dieser „Passive“ hat’s in seiner [49] besten Zeit selbst dem Staate heimgezahlt. Er ist wirklich, er ganz allein, als der durchaus ebenbürtige Gegner einer Regierung aufgestanden; geräuschlos, wie es sich für die „Passiven“ geziemt; aber er hat obgesiegt! Er hatte sich vorgenommen, in einer Zeit, wo die Zensur in Blüte stand, sein Buch, das zu andern damals beschlagnahmten Schriften sich wie ein Raubtier zu Lämmern verhielt, durchzubringen; und hat es durchgebracht, lediglich indem er einen Ton anschlug, der für alle verständlich war – nur gerade nicht für Geheimräte und Allongeperücken . . .

Wir haben noch von einer letzten „Aktivität des Passiven“ zu erzählen; und die galt der Eroberung eines – Weibes . . .

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Wir erwähnten schon, daß bei den „Freien“ auch Damen verkehrten. Unter ihnen war Marie Wilhelmine Dähnhardt (geb. 1818), Tochter eines wohlhabenden Apothekers aus Gadebusch, die, vom Emanzipationsgelüst jener Tage gepackt, nach Berlin gekommen war, um hier das „größere“ Leben kennen zu lernen. Stirner traf mit ihr im Hause eines „Freien“, des Dr. Friedr. Zabel, späteren Begründers der Nationalzeitung, zusammen, und von da ab öfter an den Abenden bei Hippel. Wer eine erste Ausgabe des „Einzigen“ (Leipzig, Otto Wigand, 1845) in die Hand bekommt, findet auf dem Titelblatt die Widmung: „Meinem Liebchen Marie Dähnhardt.“

Da sie, im Gegensatz zu Stirner, durchaus nicht so geheimnisvoll durch ihre Zeit geschritten ist, die „Aufmerksamkeit so vieler auf sich gezogen hat“, „all- [50] gemein geachtet und allgemein beliebt, die unbestrittene weibliche Zierde des Hippelschen Kreises war, wenn sie in ihm erschien“, so ist uns ihr Bild erhalten. Wir geben es am besten mit den Worten des Biographen selber wieder (Mackay, „Max Stirner“ S. 126):

„Eine schlanke, anmutige Blondine von kleiner, voller Gestalt mit auffallend reichem Haarschmuck, den sie, um es mit dem Ausdruck der damaligen Zeit zu bezeichnen: à la neige – in geringelten, die Schläfen bedeckenden Locken – trug, mit zartem, rosig angehauchten Teint, von raschem und energischem Wesen, ‘durchaus verständig’, aber ohne besondere geistige Begabung, übte sie mehr durch ihre natürliche Frische als durch eigentliche Schönheit – denn eine Schönheit war sie nicht – eine unverkennbare Anziehungskraft auf die Männer aus. Dieser Kraft war sie sich bewußt; wenigstens war sie es sich in Berlin geworden.“

Wie aber sah Stirner aus? Wie war seine äußere Erscheinung, mit der wir uns bisher noch gar nicht zu beschäftigen Gelegenheit fanden?

Ungleich schwerer ist es für den Biographen gewesen, aus den wenigen Mitteilungen der Zeitgenossen zusammenzustellen, was durch kein einziges Bild, kein Porträt zur letzten Anschaulichkeit in ihm selbst erhoben werden konnte. Es existiert nichts dergleichen als eine von Friedrich Engels aus der Erinnerung gezeichnete Skizze, die aber ausdrücklich von Leuten, die Stirner noch gekannt haben, für „unähnlich“ erklärt wurde. Trotzdem ist es großer Liebe und Verehrung gelungen, mit einem Hauch von Leben die toten Züge zu beseelen; nachfolgende Schilderung, die [51] wir daher ebenfalls am besten mit Mackays eigenen Worten wiedergeben, soll es beweisen („Stirner“, S. 99/100):

„Äußerlich von Mittelgröße – eher unter als über ihr – war Max Stirner ein gutgewachsener, schlanker, fast hagerer Mann, unauffällig in jeder Weise. Einfach, aber stets mit peinlicher Sorgfalt und Sauberkeit gekleidet, war seine gedrungene Erscheinung durchaus die eines Menschen ohne jede äußere Prätension, und wenn er hier und da für einen Dandy erklärt wurde, so mag daran erinnert werden, daß manche schon jeden ordentlichen, wenn auch noch so einfach gekleideten Menschen für einen Stutzer halten, was Stirner ganz gewiß nicht war. Er hatte vielmehr etwas von einem höheren Lehrer an sich, ‘einem höheren Mädchenlehrer besserer Art’, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die silberne Brille – als Lehrer bei der Frau Gropuis soll er eine ‘dünne Stahlbrille mit kleinen Gläsern’ getragen haben –, die, wenn er sie abnahm, was er öfters tat, den durch sie verursachten starken Einschnitt über der Nase zeigte.

Nie erschien er vernachlässigt, wenn er auch in späteren Jahren, als Not und Vereinsamung ihn bedrängten, nicht mehr die alte Genauigkeit auf sein Äußeres verwandt haben mag.

Er trug einen kurzen blonden Backen- und Schnurrbart, während das Kinn stets glatt rasiert war, und das blonde, ins Rötliche spielende, leichtgelockte und kurzgeschnittene weiche Haar ließ die mächtige, gewölbte, ganz auffallend hohe und bedeutende Stirn völlig frei.

Hinter der Brille blickten helle, blaue Augen ruhig [52] und sanft, weder träumerisch noch durchbohrend, auf Menschen und Dinge. Den feinen, schmallippigen Mund umspielte gern ein freundliches Lächeln, das sich indessen mit den Jahren verschärfte und die innerliche Ironie verriet, wie überhaupt von manchem eine ‘stille Geneigtheit zum Spott’ bei Stirner bemerkt wurde. Dieser Zug, von anderen wieder als Verbitterung ausgelegt, hatte ihn aber in den Jahren, in denen er uns hier erscheint, sicher noch nicht ergriffen, und hat sich noch weniger jemals gegen irgend jemand verletzend gewandt.

Die Nase war mäßig groß, kräftig, spitz auslaufend; das Kinn ebenfalls von energischer Form. Besonders schön waren Stirners Hände: weiße, wohlgepflegte, schlanke, ‘aristokratische’ Hände . . .

Alles in allem war so seine stattliche Erscheinung durchaus sympathisch. Selbstbewußt, ruhig, ohne hastige und eckige Bewegungen, soll ihr ein leiser Zug von Pedanterie nicht gefehlt haben . . .“ – –

So sahen diese beiden Menschen aus, die am 21. Oktober 1843 den Ehebund schlossen; von einer Leidenschaft verlautet wiederum auf keiner Seite etwas. Wir erfahren nichts von der Vorgeschichte, nichts von der Werbung; nur daß das Band „mit Einwilligung“ der Mutter Marie Dähnhardts geknüpft wurde. Dennoch steht wenigstens auf Stirners Buch: „meinem Liebchen“ – zur Zeit, als Marie Dähnhardt längst Frau war. Das ist sehr beachtenswert; denn wollte er sie einfach ehren, ihr (aus irgendwelchem Interesse) schmeicheln, so hätte er dasselbe mit „Meiner Frau“ erreicht. Oder will man Tendenz darin erblicken? Dann hätte er noch weniger lügen dürfen, [53] sagen wir besser – gelogen! War Marie Dähnhardt eine „Emanzipierte“, so soll man nicht vergessen, daß auch der Emanzipiertesten noch der Name „Frau“ besser als „Liebchen“ klingt; der Allerfreiesten aber – mindestens ebensogut. Wollte Stirner also gar kränken oder vielmehr: wollte er Rechthaber sein, irgend etwas prätendieren, auf etwas ostentativ bestehen? Dann brauchte man nur auf eine Stelle im „Einzigen“ zu deuten (S. 394): „Die Dinge schaut man eben recht an, wenn man aus ihnen macht, was man will (unter Dingen sind hier Objekte, Gegenstände überhaupt verstanden, wie Gott, unsere Mitmenschen, ein Liebchen, ein Buch usw.)“ – ein Wort, das ganz zufällig unterlaufen sein kann, übrigens auch schon eine ganz andere Terminologie für „wollen“ voraussetzt. Seien wir einfach und sagen, daß die Widmung, so wie sie dasteht: auf dem Titelblatt eines Werkes, dem ein Mensch zum ersten und einzigen Male seine Seele anvertraut hat, das nun dauernd in der Welt sein soll und im ganzen viel zu groß angelegt scheint, um irgend einen persönlichen Zwist in Permanenz zu erklären – im Gegenteil nur eine wirkliche und höchste Liebeserklärung bedeuten könne. Aber wieder quälen uns Zweifel; paßte denn überhaupt vor dieses Buch, das sich über dem Schutt von zehn Jahrhunderten aufpflanzt und einer zweitausendjährigen Moral die eklen Mitleidsfetzen vom Leibe reißt, die – häusliche Widmung? Es ist anzunehmen, daß Marie Dähnhardt das Werk nicht verstanden oder doch, nach ihrem Verhalten zu schließen, in seinem Werte nie zu würdigen gewußt hat; sollte sich doch etwas Tieferes hinter dieser Zuneigung verbergen, eine [54] neue „Aktivität“, etwa um die Zensur, etwa um Marie Dähnhardt selbst – einzuwiegen?

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