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Ernst Haeckel Natürliche Schöpfungsgeschichte


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Zwölfter Vortrag.


Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme und Individuen. Phylogenie und Ontogenie.

{Siehe Inhaltsverzeichniß ...}

Meine Herren! Wenn der Mensch seine Stellung in der Natur begreifen und sein Verhältniß zu der für ihn erkennbaren Erscheinungswelt naturgemäß erfassen will, so ist es durchaus nothwendig, daß er objectiv die menschlichen Erscheinungen mit den außermenschlichen vergleicht, und vor allen mit den thierischen Erscheinungen. Wir haben bereits früher gesehen, daß die ungemein wichtigen physiologischen Gesetze der Vererbung und der Anpassung in ganz gleicher Weise für den menschlichen Organismus, wie für das Reich der Thiere und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in Wechselwirkung mit einander stehen. Daher wirkt auch die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Dasein ebenso in der menschlichen Gesellschaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgestaltend ein, und ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz besonders wichtig ist diese Vergleichung der menschlichen und thierischen Umbildungsphänomene bei Betrachtung des Divergenzgesetzes und des Fortschrittsgesetzes, der beiden Grundgesetze, die wir am Ende des letzten Vortrags als unmittelbare und nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Dasein nachgewiesen haben.

Ein vergleichender Ueberblick über die Völkergeschichte oder die sogenannte "Weltgeschichte" zeigt Ihnen zunächst als allgmeinstens Resultat einie beständig zunehmende Mannichfaltigkeit der menschlichen Thätigkeit, im einzelnen Menschenleben sowohl als im Familien- und Staaatenleben. Diese Differenzirung oder Sonderung, diese stetig zunehmende Divergenz des menschlichen Charakters und der menschlichen Lebensform wird hervorgebracht durch die immer weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Individuen. Während die ältesten und niedrigsten Stufen der menschlichen Cultur uns überall nahezu dieselben rohen und einfachen Verhältnisse vor Augen führen, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Geschichte eine größere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebräuchen und Einrichtungen bei den verschiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeitstheilung bedingt eine steigende Mannichfaltigkeit der Formen in jeder Beziehung. Das spricht sich selbst in der menschlichen Gesichtsbildung aus. Unter den niedersten Volksstämmen gleichen sich die meisten Individuen so sehr, daß die europäischen Reisenden dieselben gewöhnlich gar nicht unterscheiden können. Mit zunehmender Cultur differenzirt sich die Physiognomie der Individuen. Endlich bei den höchst entwickelten Culturvölkern, bei Engländern und Deutschen, geht die Divergenz der Gesichtsbildung bei allen stammverwandten Individuen so weit, daß wir nur selten in die Verlegenheit kommen, zwei Gesichter gänzlich mit einander zu verwechseln.

Als zweites oberstes Grundgesetz tritt uns in der Völkergeschichte das große Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung entgegen. Im Großen und Ganzen ist die Geschichte der Menschheit die Geschichte ihrer fortschreitenden Entwickelung. Freilich kommen überall und zu jeder Zeit Rückschritte im Einzelnen vor, oder es werden schiefe Bahnen des Fortschritts eingeschlagen, welche nur einer einseitigen und äußerlichen Vervollkommnung entgegenführen, und dabei von dem höheren Ziele der inneren und werthvolleren Vervollkommnung sich mehr und mehr entfernen. Allein im Großen und Ganzen ist und bleibt die Entwickelungsbewegung der ganzen Menschheit eine fortschreitende, indem der Mensch sich immer weiter von seinen affenartigen Vorfahren entfernt und immer mehr seinen selbstgesteckten idealen Zielen nähert.

Wenn Sie nun erkennen wollen, durch welche Ursachen eigentlich diese beiden großen Entwickelungsgesetze der Menschheit, das Divergenzgesetz und das Fortschrittsgesetz bedingt sind, so müssen Sie dieselben mit den entsprechenden Entwickelungsgesetzen der Thierheit vergleichen, und Sie werden bei tieferem Eingehen nothwendig zu dem Schlusse kommen, daß sowohl die Erscheinungen wie ihre Ursachen in beiden Fällen dieselben sind. Ebenso in dem Entwickelungsgange der Menschenwelt wie in demjenigen der Thierwelt sind die beiden Grundgesetze der Differenzirung und Vervollkommnung lediglich durch rein mechanische Ursachen bedingt, lediglich die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Dasein.

Vielleicht hat sich Ihnen bei der vorhergehenden Betrachtung die Frage aufgedrängt: "Sind nicht diese beiden Gesetze identisch? Ist nicht immer der Fortschritt nothwendig mit der Divergenz verbunden?" Diese Frage ist oft bejaht worden, und Carl Ernst Bär z. B., einer der größten Forscher im Gebiete der Entwickelungsgeschichte, hat als eines der obersten Gesetze in der Ontogenesis des Thierkörpers den Satz ausgesprochen: "Der Grad der Ausbildung (oder Vervollkommnung) besteht in der Stufe der Sonderung (oder Differenzirung) der Theile"20). So richtig dieser Satz im Ganzen ist, so hat er dennoch keine allgemeine Gültigkeit. Vielmehr zeigt sich in vielen einzelnen Fällen, daß Divergenz und Fortschritt keineswegs durchweg zusammenfallen. Es ist nicht jeder Fortschritt eine Differenzirung, und es ist nicht jede Differenzirung ein Fortschritt.

Was zunächst die Vervollkommnung oder den Fortschritt betrifft, so hat man schon früher, durch rein anatomische Betrachtungen geleitet, das Gesetz aufgestellt, daß allerdings die Vervollkommnung des Organismus größtentheils auf der Arbeitstheilung der einzelnen Organe und Körpertheile beruht, daß es jedoch auch andere organische Umbildungen gibt, welche einen Fortschritt in der Organisation bedingen. Eine solche ist besonders die Zahlverminderung gleichartiger Theile. Wenn Sie z. B. die niederen krebsartigen Gliederthiere, welche sehr zahlreiche Beinpaare besitzen, vergleichen mit den Spinnen, die stets nur vier Beinpaare, und mit den Insecten, die stets nur drei Beinpaare besitzen, so finden Sie dieses Gesetz, für welches eine Masse von Beispielen sich anführen läßt, bestätigt. Die Zahlreduction der Beinpaare ist ein Fortschritt in der Organisation der Gliederthieren. Ebenso ist die Zahlreduction dre gleichartigen Wirbelabschnitte des Rumpfes bei den Wirbelthieren ein Fortschritt in deren Organsiation. Die Fische und Amphibien mit einer sehr großen Anzahl von gleichartigen Wirbeln sind schon deshalb unvollkommener und niedriger als die Vögel und Säugethiere, bei denen die Wirbel nicht nur im Ganzen viel mehr differenzirt, sondern auch die Zahl der gleichartigen Wirbel viel geringer ist. Nach demselben Gesetze der Zahlverminderung sind ferner die Blüthen mit zahlreichen Staubfäden unvollkommener als die Blüthen der verwandten Pflanzen mit ener geringeren Staubfädenzahl u. s. w. Wenn also ursprünglich eine sehr große Anzahl von gleichartigen Theilen im Körper vorhanden war, und wenn diese Zahl im Laufe zahlreicher Generationen allmählich abnahm, so war diese Umbildung eine Vervollkommnung.

Ein anderes Fortschrittsgesetz, welches von der Differenzirgung ganz unabhängig, ja sogar dieser gewissermaßen entgegengesetzt erscheint, ist das Gesetz der Centralisation. Im Allgemeinen ist der ganze Organismus um so vollkommener, je einheitlicher er organisirt ist, je mehr die Theile dem Ganzen untergeordnet, je mehr die Functionen und ihre Organe centralisirt sind. So ist z. B. das Blutgefäßsystem da am vollkommensten, wo ein centralisirtes Herz da ist. Ebenso ist die zusammengedrängte Markmasse, welche das Rückenmark der Wirbelthiere und das Bauchmark der höheren Gliederthiere bildet, vollkommener, als die decentralisirte Ganglienkette der niederen Gliederthiere und das zerstreute Gangliensystem der Weichthiere. Bei der Schwierigkeit, welche die Erläuterung dieser verwickelten Fortschrittsgesetze im Einzelnen hat, kann ich hier nicht näher darauf eingehen, und muß Sie bezüglich derselben auf Bronn's treffliche "Morphologische Studien"18) und auf meine generelle Morphologie verweisen (I, 370, 550; II, 257-266).

Während Sie hier Fortschrittserscheinungen kennen lernten, die ganz unabhängig von der Divergenz sind, so begegnen Sie andrerseits sehr häufig Differenzirungen, welche keine Vervollkommnungen, sondern vielmehr das Gegentheil, Rückschritte sind. Es ist leicht einzusehen, daß die Umbildungen, welche jede Thier- und Pflanzenart erleidet, nicht immer Verbesserungen sein können. Vielmehr sind viele Differenzirungserscheinungen, welche von unmittelbarem Vortheil für den Organismus sind, insofern schädlich, als sie die allgemeine Leistungsfähigkeit desselben beeinträchtigen. Häufig findet ein Rückschritt zu einfacheren Lebensbedingungen und durch Anpassung an dieselben eine Differenzirung in rückschreitender Richtung statt. Wenn z. B. Organismen, die bisher frei lebten, sich an das parasitische Leben gewöhnen, so bilden sie sich dadurch zurück. Solche Thiere, die bisher ein wohlentwickeltes Nervensystem und scharfe Sinnesorgane, sowie freie Bewegung besaßen, verlieren dieselben, wenn sie sich an parasitische Lebensweise gewöhnen; sie bilden sich dadurch mehr oder minder zürück. Hier ist, für sich betrachtet, die Differenzirung ein Rückschritt, obwohl sie für den parasitischen Organismus selbst von Vortheil ist. Im Kampf um's Dasein würde ein solches Thier, das sich gewöhnt hat, auf Kosten Anderer zu leben, durch Beibehaltung seiner Augen und Bewegungswerkzeuge, die ihm nichts mehr nützen, nur an Material verlieren; und wenn es diese Organe einbüßt, so kommt dafür eine Masse von Ernährungsmaterial, das zur Erhaltung dieser Thiere verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Im Kampf um's Dasein zwischen den verschiedenen Parasiten werden daher diejenigen, welche am wenigsten Ansprüche machen, im Vortheil vor den anderen sein, und dies begünstigt ihre Rückbildung.

Ebenso wie in diesem Falle mit den ganzen Organismen, so verhält es sich auch mit den Körpertheilen des einzelnen Organismus. Auch eine Differenzirung dieser Theile, welche zu einer theilweisen Rückbildung, und schließlich selbst zum Verlust einzelner Organe führt, ist an sich betrachtet ein Rückschritt, kann aber für den Organismus im Kampf um's Dasein von Vortheil sein. Man kämpft leichter und besser, wenn man unnützes Gepäck fortwirft. Daher begegnen wir überall im entwickelteren Thier- und Pflanzenkörper Divergenzprocessen, welche wesentlich die Rückbildung und schließlich den Verlust einzelner Theile bewirken. Hier tritt uns nun vor Allem die höchst wichtige und lehrreiche Erscheinungsreihe der rudimentären oder verkümmerten Organe entgegen.

Sie erinnern sich, daß ich schon im ersten Vortrage diese außerordentlich merkwürdige Erscheinungsreihe als einer der wichtigsten in theoretischer Beziehung hervorgehoben habe, als einen der schlagendsten Beweisgründe für die Wahrheit der Abstammungslehre. Wir bezeichnen als rudimentäre Organe solche Theile des Körpers, die für einen bestimmten Zweck eingerichtet und dennoch ohne Function sind. Ich erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Höhlen oder unter der Erde im Dunkeln leben, und daher niemals ihre Augen gebrauchen können. Bei diesen Thieren finden wir unter der Haut versteckt wirkliche Augen, oft gerade so gebildet wie die Augen der wirklich sehenden Thiere; und dennoch functioniren diese Augen niemals, und können nicht functioniren, schon einfach aus dem Grunde, weil dieselben von dem undurchsichtigen Felle überzogen sind und daher kein Lichtstrahl in sie hineinfällt (vergl. oben S. 11). Bei den Vorfahren dieser Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die Augen wohl entwickelt, von der durchsichtigen Hornhaut überzogen und dienten wirklich zum Sehen. Aber als sie sich nach und nach an unterirdische Lebensweise gewöhnten, sich dem Tageslicht entzogen und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieselben rückgebildet.



Sehr anschauliche Beispiele von rudimentären Organen sind ferner die Flügel von Thieren, welche nicht fliegen können, z. B. unter den Vögeln die Flügel der straußartigen Laufvögel, (Strauß, Casuar u. s. w.), bei welchen sich die Beine außerordentlich entwickelt haben. Diese Vögel haben sich das Fliegen abgewöhnt und haben dadurch den Gebrauch der Flügel verloren; allein die Flügel sind noch da, obwohl in verkümmerter Form. Sehr häufig finden Sie solche verkümmerte Flügel in der Klasse der Insecten, von denen die meisten fliegen können. Aus vergleichend anatomischen und anderen Gründen können wir mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß alle jetzt lebenden Insecten (alle Netzflügler, Heuschrecken, Käfer, Bienen, Wanzen, Fliegen, Schmetterlinge u. s. w.) von einer einzigen gemeinsamen Elternform, einem Stamminsect abstammen, welches zwei entwickelte Flügelpaare und drei Beinpaare besaß. Nun giebt es aber sehr zahlreiche Insecten, bei denen entweder eines oder beide Flügelpaare mehr oder minder rückgebildet, und viele, bei denen sie sogar völlig verschwunden sind. In der ganzen Ordnung der Fliegen oder Dipteren z. B. ist das hintere Flügelpaar, bei den Drehflüglern oder Strepsipteren dagegen das vordere Flügelpaar verkümmert oder ganz verschwunden. Außerdem finden Sie in jeder Insectenordnung einzelne Gattungen oder Arten, bei denen die Flügel mehr oder minder rückgebildet oder verschwunden sind. Insbesondere ist letzteres bei Parasiten der Fall. Oft sind die Weibchen flügellos, während die Männchen geflügelt sind, z. B. bei den Leuchtkäfern oder Johanniskäfern (Lampyris), bei den Strepsipteren u. s. w. Offenbar ist diese theilweise oder gänzliche Rückbildung der Insectenflügel durch natürliche Züchtung im Kampf um's Dasein entstanden. Denn wir finden die Insecten vorzugsweise dort ohne Flügel, wo das Fliegen ihnen nutzlos oder sogar entschieden schädlich sein würde. Wenn z. B. Insecten, welche Inseln bewohnen, viel und gut fliegen, so kann es leicht vorkommen, daß sie beim Fliegen durch den Wind in das Meer geweht werden, und wenn (wie es immer der Fall ist) das Flugvermögen individuell verschieden entwickelt ist, so haben die schlechtfliegenden Individuen einen Vorzug vor den gutfliegenden; sie werden weniger leicht in das Meer geweht und bleiben länger am Leben als die gutfliegenden Individuen derselben Art. Im Verlaufe vieler Generationen muß durch die Wirksamkeit der natürlichen Züchtung dieser Umstand nothwendig zu einer vollständigen Verkümmerung der Flügel führen. Wenn man sich diesen Schluß rein theoretisch entwickelt hätte, so könnte man nur befriedigt sein, thatsächlich denselben bewahrheitet zu finden. In der That ist auf isolirt gelegenen Inseln das Verhältniß der flügellosen Insecten zu den mit Flügeln versehenen ganz auffallend groß, viel größer als bei den Insecten des Festlandes. So sind z. B. nach Wollaston von den 550 Käferarten, welche die Insel Madeira bewohnen, 200 flügellos oder mit so unvollkommenen Flügeln versehen, daß sie nicht mehr fliegen können; und von 29 Gattungen, welche jener Insel ausschließlich eigenthümlich sind, enthalten nicht weniger als 23 nur solche Arten. Offenbar ist dieser merkwürdige Umstand nicht durch die besondere Weisheit des Schöpfers zu erklären, sondern durch die natürliche Züchtung, indem hier der erbliche Nichtgebrauch der Flügel, die Abgewöhnung des Fliegens im Kampf mit den gefährlichen Winden, den fauleren Käfern einen großen Vortheil im Kampf um's Dasein gewährte. Bei anderen flügellosen Insecten war der Flügelmangel aus anderen Gründen vortheilhaft. An sich betrachtet ist der Verlust der Flügel ein Rückschritt; aber für den Organismus unter diesen besonderen Lebensverhältnissen ist er ein Fortschritt, ein Vortheil im Kampf um's Dasein.

Von anderen rudimentären Organen will ich hier noch beispielsweise die Lungen der Schlangen und der schlangenartigen Eidechsen erwähnen. Alle Wirbelthiere, welche Lungen besitzen, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere, haben ein Paar Lungen, eine rechte und eine linke. Da aber, wo der Körper sich außerordentlich verdünnt und in die Länge streckt, wie bei den Schlangen und schlangenartigen Eidechsen, hat die eine Lunge neben der anderen nicht mehr Platz, und es ist für den Mechanismus der Athmung ein offenbarer Vortheil, wenn nur eine Lunge entwickelt ist. Eine einzige große Lunge leistet hier mehr, als zwei kleine neben einander, und daher finden wir bei diesen Thieren fast durchgängig die rechte oder die linke Lunge allein ausgebildet. Die andere ist ganz verkümmert, obwohl als unnützes Rudiment vorhanden. Ebenso ist bei allen Vögeln der rechte Eierstock verkümmert und ohne Function; der linke Eierstock allein ist entwickelt und liefert alle Eier.

Daß auch der Mensch solche ganz unnütze und überflüssige rudimentäre Organe besitzt, habe ich bereits im ersten Vortrage erwähnt, und damals die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als solche angeführt. Außerdem gehört hierher das Rudiment des Schwanzes, welches der Mensch in seinen 3-5 Schwanzwirbeln besitzt, und welches beim menschlichen Embryo während der beiden ersten Monate der Entwicklung noch frei hervorsteht (Vgl. S. 240 b, c, Fig Bs und Ds). Späterhin verwächst es vollständig. Dieses verkümmerte Schwänzchen des Menschen ist ein unwiderleglicher Zeuge für die unleugbare Thatsache, daß er von geschwänzten Voreltern abstammt. Beim Weibe ist das Schwänzchen gewöhnlich um enen Wirbel länger, als beim Manne. Auch rudimentäre Muskeln sind am Schwanze des Menschen noch vorhanden, welche denselben vormals bewegten.

Ein anderes rudimentäres Organ des Menschen, welches aber bloß dem Manne zukommt, und welches ebenso bei sämmtlichen männlichen Säugethieren sich findet, sind die Milchdrüsen an der Brust, welcher in der Regel bloß beim weiblichen Geschlechte in Thätigkeit treten. Indessen kennt man von verschiedenen Säugethieren, namentlich vom Menschen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Fälle, in denen die Milchdrüsen auch beim männlichen Geschlechte wohl entwickelt waren und Milch zur Ernährung des Jungen lieferten. Daß auch die rudimentären Ohrenmuskeln des Menschen von einzelnen Personen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren verwendet werden können, wurde bereits früher erwähnt (S. 10). Ueberhaupt sind die rudimentären Organe bei verschiedenen Individuen derselben Art oft sehr verschieden entwickelt, bei den einen ziemlich groß, bei den anderen sehr klein. Dieser Umstand ist für ihre Erklärung sehr wichtig, ebenso wie der andere Umstand, daß sie allgemein bei den Embryonen, oder überhaupt in früher Lebenszeit, viel größer und stärker im Verhältniß zum übrigen Körper sind, als bei den ausgebildeten und erwachsenen Organismen. Insbesondere ist dies leicht nachzuweisen an den rudimentären Geschlechtsorganen der Pflanzen (Staubfäden und Griffeln), welche ich früher bereits angeführt habe (S. 12). Diese verhältnißmäßig viel größer in der jungen Blüthenknospe als in der entwickelten Blüthe.

Schon damals (S. 13) bemerkte ich, daß die rudimentären oder verkümmerten Organe zu den stärksten Stützen der monistischen oder mechanistischen Weltanschauung gehören. Wenn die Gegner derselben, die Dualisten und Teleologen, das ungeheure Gewicht dieser Thatsachen begriffen, müßten sie dadurch zur Verzweiflung gebracht werden. Die lächerlichen Erklärungsversuche derselben, daß die rudimentären Organe vom Schöpfer "der Symmetrie halber" oder "zur formalen Ausstattung" oder "aus Rücksicht auf seinen allgemeinen Schöpfungsplan" den Organismen verliehen seien, beweisen zur Genüge die völlige Ohnmacht jener verkehrten Weltanschauung. Ich muß hier wiederholen, daß, wenn wir auch gar Nichts von den übrigen Entwickelungserscheinungen wüßten, wir ganz allein schon auf Grund der rudimentären Organe die Descendenztheorie für wahr halten müßten. Kein Gegner derselben hat vermocht, auch nur einen schwachen Schimmer von einer annehmbaren Erklärung für diese äußerst merkwürdigen und bedeutenden Erscheinungen fallen zu lassen. Es gibt beinahe keine irgend höher entwickelte Thier- oder Pflanzenform, die nicht irgend welche rudimentären Organe hätte, und fast immer läßt sich nachweisen, daß dieselben Producte der natürlichen Züchtung sind, daß sie durch Nichtgebrauch oder durch Abgewöhnung verkümmert sind. Es ist der umgekehrte Bildungsprozeß, wie wenn neue Organe durch Angewöhnung an besondere Lebensbedingungen und durch Gebrauch eines noch unentwickelten Theiles entstehen. Es wird zwar gewöhnlich von unsern Gegnern behauptet, daß die Entstehung ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Descendenztheorie zu erklären sei. Indessen kann ich Ihnen versichern, daß diese Erklärung für denjenigen, der vergleichend-anatomische und physiologische Kenntnisse besitzt, nicht die mindeste Schwierigkeit hat. Jeder, der mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeschichte vertraut ist, findet in der Entstehung ganz neuer Organe ebenso wenig Schwierigkeit, als hier auf der anderen Seite in dem völligen Schwunde der rudimentären Organe. Das Vergehen der letzteren ist an sich betrachtet das Gegentheil vom Entstehen der ersteren. Beide Prozesse sind Differenzirungserscheinungen , die wir gleich allen übrigen ganz einfach und mechanisch aus der Wirksamkeit der natürlichen Züchtung im Kampf um das Dasein erklären können.

Die unendlich wichtige Betrachtung der rudimentären Organe und ihrer Entstehung, die Vergleichung ihrer paläontologischen und ihrer embryologischen Entwickelung führt uns jetzt naturgemäß zur Erwägung einer der wichtigsten und größten biologischen Erscheinungsreihen, nämlich des Parallelismus, welchen uns die Fortschritts- und Divergenzerscheinungen in dreifach verschiedener Beziehung darbieten. Als wir im Vorhergehenden von Vervollkommnung und Arbeitstheilung sprachen, verstanden wir darunter diejenigen Fortschritts- und Sonderungsbewegungen, und diejenigen dadurch bewirkten Umbildungen, welche in dem langen und langsamen Verlaufe der Erdgeschichte zu einer beständigen Veränderung der Flora und Fauna, zu einem Entstehen neuer und Vergehen alter Thier- und Pflanzenarten geführt haben. Ganz denselben Erscheinungen des Fortschritts und der Differenzirung begegnen wir nun aber auch, und zwar in derselben Reihenfolge, wenn wir die Entstehung, die Entwickelung und den Lebenslauf jedes einzelnen organischen Individuums verfolgen. Die individuelle Entwickelung oder die Ontogenesis jedes einzelnen Organismus vom Ei an aufwärts bis zur vollendeten Form, besteht in nichts Anderem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs- und Fortschrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weise von den Thieren, wie von den Pflanzen und Protisten. Wenn Sie z. B. die Ontogenie irgend eines Säugethiers, des Menschen, des Affen oder des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klasse verfolgen, so finden Sie überall wesentlich dieselben Erscheinungen. Jedes dieser Thiere entwickelt sich ursprünglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei. Diese Zelle vermehrt sich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen, und durch Wachsthum dieses Zellenhaufens, durch ungleichartige Ausbildung der ursprünglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung und Vervollkommnung derselben, entsteht der vollkommene Organismus, dessen Zusammensetzung wir bewundern.

Hier scheint es mir nun unerläßlich, Ihre Aufmerksamkeit etwas eingehender auf jene unendlich wichtigen und interessannten Vorgänge hinzulenken, welche die Ontogenesis oder die individuelle Entwickelung der Organismen, und ganz vorzüglich diejenige der Wirbelthiere mit Einschluß des Menschen begleiten. Ich möchte diese außerordentlich merkwürdigen und lehrreichen Erscheinungen ganz besonders Ihrem eingehendsten Nachdenken empfehlen, einerseits, weil dieselben zu den stärksten Stützen der Descendenztheorie gehören, andrerseits, weil dieselben bisher nur von Wenigen in ihrer unermeßlichen allgemeinen Bedeutung gewürdigt worden sind.

Man muß in der That erstaunen, wenn man die tiefe Unkenntniß erwägt, welche noch gegenwärtig in den weitesten Kreisen über die Thatsachen der individuellen Entwickelung des Menschen und der Organismen überhaupt herrscht. Diese Thatsachen, deren allgemeine Bedeutung man nicht hoch genug anschlagen kann, wurden in ihren wichtigsten Grundzügen schon vor mehr als einem Jahrhundert, im Jahre 1759, vom dem großen deutschen Naturforscher Caspar Friedrich Wolff in seiner klassischen "Theoria generationis" festgestellt. Aber gleichwie Lamarck's 1809 begründete Descendenztheorie ein halbes Jahrhundert hindurch schlummerte und erst 1859 durch Darwin zu neuem unsterblichen Leben erweckt wurde, so blieb auch Wolff's Theorie der Epigenesis fast ein halbes Jahrhundert hindurch unbekannt, und erst nachdem Oken 1806 seine Entwickelungsgeschichte des Darmkanals veröffentlich und Meckel 1812 Wolffs Arbeit über denselben Gegenstand in's Deutsche übersetzt hatte, wurde Wolff's Theorie der Epigenesis allgemeiner bekannt, und die Grundlage aller folgenden Untersuchungen über individuelle Entwickelungsgeschichte. Das Studium der Ontogenesis nahm nun einen mächtigen Aufschwung, und bald erschienen die klassischen Untersuchungen der beiden Freunde Christian Pander (1817) und Carl Ernst Bär (1819). Insbesondere wurde durch Bär's epochemachende "Entwickelungsgeschichte der Thiere"20) die Ontogenie der Wirbelthiere in allen ihren wichtigsten Thatsachen durch so vortreffliche Beobachtungen festgestellt, und durch so vorzügliche philosophische Reflexionen erläutert, daß sie für das Verständniß dieser wichtigsten Thiergruppe, zu welcher ja auch der Mensch gehört, die unentbehrliche Grundlage wurde. Jene Thatsachen würden für sich allein schon ausreichen, die Frage von der Stellung des Menschen in der Natur und somit das höchste aller Probleme zu lösen. Betrachten Sie aufmerksam und vergleichend die sechs Figuren, welche auf den nachstehenden Tafeln (S. 240 b,c) abgebildet sind, und Sie werden erkennen, daß man die philosophische Bedeutung der Embryologie nicht hoch genug anschlagen kann.

Nun darf man wohl fragen: Was wissen unsere sogenannten "gebildeten" Kreise, die auf die hohe Cultur des neunzehnten Jahrhunderts sich so Viel einbilden, von diesen wichtigsten biologischen Thatsachen, von diesen unentbehrlichen Grundlagen für das Verständniß ihres eigenen Organismus? Was wissen unsere speculativen Philosophen und Theologen davon, welche durch reine Speculationen oder durch göttliche Inspirationen das Verständniß des menschlichen Organismus gewinnen zu können meinen? Ja was wissen selbst die meisten Naturforscher davon, die Mehrzahl der sogenannten "Zoologen" (mit Einschluß der Entomologen!) nicht ausgenommen?

Die Antwort auf diese Frage fällt sehr beschämend aus, und wir müssen wohl oder übel eingestehen, daß jene unschätzbaren Thatsachen der menschlichen Ontogenie noch heute den Meisten entweder ganz unbekannt sind, oder doch keineswegs in gebührender Weise gewürdigt werden. Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem schiefen und einseitigen Wege sich die vielgerühmte Bildung des neunzehnten Jahrhunderts noch gegenwärtig befindet. Unwissenheit und Aberglauben sind die Grundlagen, auf denen sich die meisten Menschen das Verständniß ihres eigenen Organismus und seiner Beziehungen zur Gesammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreiflichen Thatsachen der Entwickelungsgeschichte, welche das Licht der Wahrheit darüber verbreiten könnten, werden ignorirt. Allerdings sind diese Thatsachen nicht geeignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu erregen, welche einen durchgreifenden Unterschied zwischen dem Menschen und der übrigen Natur annehmen und namentlich den thierischen Ursprung des Menschengeschlechts nicht zugeben wollen. Insbesondere müssen bei denjenigen Völkern, bei denen in Folge von falscher Auffassung der Erblichkeitsgesetze eine erbliche Kasteneintheilung existirt, die Mitglieder der herrschenden privilegirten Kasten dadurch sehr unangenehm berührt werden. Bekanntlich geht heute noch in vielen Culturländern die erbliche Abstufung der Stände so weit, daß z. B. der Adel ganz anderer Natur, als der Bürgerstand zu sein glaubt, und daß Edelleute, welche ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe dafür aus der Adelskaste ausgestoßen und in die Pariakaste des "gemeinen" Bürgerstandes hinabgeschleudert werden. Was sollen diese Edelleute noch von dem Vollblut, das in ihren prvilegirten Adern rollt, denken, wenn sie erfahren, daß alle menschlichen Embryonen, adelige ebenso wie bürgerliche, während der ersten beiden Monate der Entwickelung von den geschwänzten Embryonen des Hundes und anderer Säugethiere kaum zu unterscheiden sind? (Fig. A-D auf beistehenden Tafel).

{Abbildung A}

Fig. A. Keim des Hundes, 5"' lang (aus der vierten Woche).

Fig. B. Keim des Menschen 5"' lang (aus der vierten Woche).

Fig. C. Keim des Hundes, 8 1/2"' lang (aus der sechsten Woche).

Fig. D. Keim des Menschen, 8 1/2"' lang (aus der achten Woche).

Fig. E. Keim der Schildkröte 7"' lang (aus der sechsten Woche).

Fig. F. Keim des Huhns, 7"' lang (acht Tage alt).

Fig. A und B sind 5 mal, Fig C-F 4 mal vergrößert. Die Buchstaben haben in allen sechs Figuren dieselbe Bedeutung.



v Vorderhirn. z Zwischenhirn. m Mittelhirn. h Hinterhirn.n Nachhirn. r Rückenmark. a Auge. o Ohr. k1, k2, k3 erster, zweiter und dritter Kiemenbogen. w Wirbel. c Herz. bv Vorderbein. bh Hinterbein. s Schwanz.

Da die Absicht dieser Vorträge lediglich ist, die allgemeine Kenntniß der natürlichen Wahrheiten zu fördern, und eine natürgemäße Anschauung von den Beziehungen des Menschen zur übrigen Natur in weiteren Kreisen zu verbreiten, so werden Sie es hier gewiß gerechtfertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Vorurtheile von einer privilegirten Ausnahmestellung des Menschen in der Schöpfung nicht berücksichtige, und Ihnen einfach die embryologischen Thatsachen vorführe, aus denen Sie selbst die Schlüsse von der Grundlosigkeit jener Vorurtheile bilden können. Ich möchte Sie um so mehr bitten, über diese Thatsachen der Ontogenie eingehend nachzudenken, als es meine feste Ueberzeugung ist, daß die allgemeine Kenntniß derselben nur die Veredlung und die Vervollkommnung des Menschengeschlechts fördern kann.

Aus dem unendlich reichen und interessanten Erfahrungsmaterial, welches in der Ontogenie oder individuellen Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere vorliegt, beschränke ich mich hier darauf, Ihnen einige von denjenigen Thatsachen vorzuführen, welche sowohl für die Descendenztheorie im Allgemeinen, als für deren besondere Anwendung auf den Menschen von der höchsten Bedeutung sind. Der Mensch ist im Beginn seiner individuellen Existenz ein einfaches Ei, eine einzige kleine Zelle, so gut wie jeder andere thierische Organismus, welcher auf dem Wege der geschlechtlichen Zeugung entsteht. Das menschliche Ei ist wesentlich demjenigen aller anderen Säugethiere gleich, und höchstens durch seine Größe um ein Geringes davon verschieden. Vergleichen Sie das Ei des Menschen (Fig. 5) mit demjenigen des Affen (Fig. 6) und des Hundes (Fig. 7), und Sie werden keinerlei Unterschied daran wahrnehmen können. Auch die Größe des Eies ist bei den meisten Säugethieren dieselbe wie beim Menschen, nämlich ungefähr 1/10 "' Durchmesser, der 120ste Theil eines Zolles, so daß man das Ei unter günstigen Umständen mit bloßem Auge eben als ein feines Pünktchen wahrnehmen kann. Die Unterschiede, welche zwischen den Eiern der verschiedenen Säugethiere und Menschen wirklich vorhanden sind, bestehen nicht in der Formbildung, sondern in der chemischen Mischung, in der molekularen Zusammensetzung der eiweißartigen Kohlenstoffverbindung, aus welcher das Ei wesentlich besteht. Diese feinen individuellen Unterschiede aller Eier, welche auf der indirecten oder potentiellen Anpassung (und zwar speciell auf dem Gesetze der individuellen Anpassung) beruhen, sind zwar für die außerordentlich groben Erkenntnißmittel des Menschen nicht direct sinnlich wahrnehmbar, aber durch indirecte Schlüsse als die ersten Ursachen des Unterschiedes aller Individuen erkennbar.

{Abbildungen ... }

Fig. 5. Das Ei des Menschen.

Fig. 6. Das Ei des Affen.

Fig. 7. Das Ei des Hundes.

Alle drei Eier sind hundertmal vergrößert. Die Buchstaben bedeuten in allen drei Figuren dasselbe: a Kernkörperchen oder Nucleolus (sogenannter Keimfleck des Eies); b Kern oder Nucleus (sogenanntes Keimbläschen des Eies); c Zellstoff oder Protoplasma (sogenannter Dotter des Eies); d Zellhaut oder Membrana (Dotterhaut des Eies, beim Säugethier wegen ihrer Durchsichtigkeit Zona pellucida genannt). Bei sehr starker Vergrößerung erscheint die Dotterhaut des Säugethiereies von sehr feinen und zahlreichen Kanälen in radialer oder strahliger Richtung durchsetzt.

Das Ei des Menschen ist, wie das aller anderen Säugethiere, ein kugeliges Bläschen, welches alle wesentlichen Bestandtheile einer einfachen organischen Zelle enthält (Fig. 5-7). Der wesentliche Theil desselben ist der schleimartige Zellstoff oder das Protoplasma (c), welches beim Ei "Dotter" genannt wird, und der davon umschlossenen Zellenkern oder Nucleus (b), welcher hier den besonderen Namen des "Keimbläschens" führt. Der letztere ist ein zartes, glashelles Eiweißkügelchen von ungefähr 1/50 "' Durchmesser, und umschließt noch ein viel kleineres, scharf abgegrenztes rundes Körnchen (a), das Kernkörperchen oder den Nucleolus der Zelle (beim Ei "Keimfleck" genannt). Nach außen ist die kugelige Eizelle des Säugethiers durch eine dicke glasartig durchsichtige Haut, die Zellenmembran oder Dotterhaut abgeschlossen, welche hier den besonderen Namen der Zona pellucida führt (d). Die Eier vieler niederen Thiere (z. B. vieler Medusen) sind dagegen nackte Zellen, indem ihnen die äußere Hülle oder die Zellenmembran fehlt.

Sobald das Ei (Ovulum) des Säugethiers seinen vollen Reifegrad erlangt hat, tritt dasselbe aus dem Eierstock des Weibes, in dem es entstand, heraus, und gelangt in den Eileiter und durch diese enge Röhre in den weiteren Keimbehälter oder Fruchtbehälter (Uterus). Wird inzwischen das Ei durch den entgegenkommenden männlichen Samen (Sperma) befruchtet, so entwickelt es sich in diesem Behälter weiter zum Keim (Embryo), und verläßt denselben nicht eher, als bis der Keim vollkommen ausgebildet und fähig ist, als junges Säugethier durch den Geburtsakt in die Welt zu treten.

Die Formveränderungen und Umbildungen, welche das befruchtete Ei innerhalb des Keimbehälters durchlaufen muß, ehe es die Gestalt des jungen Säugethiers annimmt, sind äußerst merkwürdig, und verlaufen vom Anfang an beim Menschen ganz ebenso wie bei den übrigen Säugethieren. Zunächst benimmt sich das befruchtete Säugethierei gerade so, wie ein einzelliger Organismus, welcher sich auf seine Hand selbstständig fortpflanzen und vermehren will, z. B. eine Amoebe (Vergl. Fig. 2, s. 145). Die einfache Eizelle zerfällt nämlich durch den Proceß der Zellentheilung, welchen ich Ihnen bereits früher beschrieben habe, in zwei Zellen. Zunächst entstehen aus dem Keimfleck (dem Kernkörperchen der ursprünglichen einfachen Eizelle) zwei neue Kernkörperchen und ebenso dann aus dem Keimbläschen (dem Nucleus) zwei neue Zellenkerne. Nun erst schnürt sich das kugelige Protoplasma durch eine Aequatorialfurche dergestalt in zwei Hälften ab, daß jede Hälfte einen der beiden Kerne nebst Kernkörperchen umschließt. So sind aus der einfachen Eizelle innerhalb der ursprünglichen Zellenmembran zwei nackte Zellen geworden (Fig. 8 A).

{Abbildung .. }

Fig. 8 Erster Beginn der Entwickelung des Säugethiereies, sogenannte "Eifurchung" (Fortpflanzung der Eizelle durch wiederholte Selbsttheilung). Fig. 8 A. Das Ei zerfällt durch Bildung der ersten Furche in zwei Zellen. Fig. 8 B. Diese zerfallen durch Halbirung in 4 Zellen. Fig. 8 C. Diese letzteren sind in 8 Zellen zerfallen. Fig. 8 D. Durch fortgesetzte Theilung ist ein kugeliger Haufen von zahlreichen Zellen entstanden.

Derselbe Vorgang der Zellentheilung wiederholt sich nun mehrmals hintereinander. In der gleichen Weise entstehen aus zwei Zellen (Fig. 8 A) vier (Fig. 8 B); aus vier werden acht (Fig. 8 C), aus acht sechzehn, aus diesen zweiundreißig u. s. w. Jedesmal geht die Theilung des Kernkörperchens derjenigen des Kernes, und diese wiederum derjenigen des Zellstoffs oder Protoplasma vorher. Weil die Theilung des letzteren immer mit der Bildung einer oberflächlichen ringförmigen Furche beginnt, nennt man den ganzen Vorgang gewöhnlich die Furchung des Eies, und die Producte desselben, die kleinen, durch fortgesetzte Zweitheilung entstehenden Zellen die Furchungskugeln. Indessen ist der ganze Vorgang weiter Nichts als eine einfache und wiederholte Zellentheilung, und die Producte desselben sind echte nackte Zellen. Schließlich entsteht aus der fortgesetzten Theilung oder "Furchung" des Säugethiereies eine maulbeerförmige oder brombeerförmige Kugel, welche aus sehr zahlreichen kleinen Kugeln, nackten kernhaltigen Zellen zusammengesetzt ist (Fig. 8 D). Diese Zellen sind die Bausteine, aus denen sich der Leib des jungen Säugethiers aufbaut. Jeder von uns war einmal eine solche einfache, brombeerförmige, als lauter kleinen Zellen zsammengesetzte Kugel.

Die weitere Entwickelung des kugeligen Zellenhaufens, welcher den jungen Säugethierkörper jetzt repräsentirt, besteht zunächst darin, daß derselbe sich in eine kugelige Blase verwandelt, indem im Inneren sich Flüssigkeit ansammelt. Diese Blase nennt man Keimblase (Vesicula blastodermica). Die Wand derselben ist anfangs aus lauter gleichartigen Zellen zusammengesetzt. Bald aber entsteht an einer Stelle der Wand ene scheibenförmige Verdickung, indem sich hier die Zellen rasch vermehren; und diese Verdickung ist nun die Anlage für den eigentlichen Leib des Keims oder Embryo), während der übrige Theil der Keimblase bloß der Ernährung des Embryo verwendet wird. Die verdickte Scheibe der Embryonalanlage nimmt bald eine länglich runde und dann, indem rechter und linker Seitenrand ausgeschweift werden, eine geigenförmige oder biscuitförmige Gestalt an (Fig. 9, S. 248). In diesem Stadium der Entwickelung, in der ersten Anlage des Keims oder Embryo, sind nicht allein alle Säugethiere mit Inbegriff des Menschen, sondern sogar alle Wirbelthiere überhaupt, alle Säugethiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fische, entweder gar nicht oder nur durch ihre Größe, oder durch höchst unbedeutsame Mekrmale in Form und äußerem Umriß von einander zu unterscheiden. Bei Allen besteht der ganze Leib aus weiter Nichs, als aus einer ganz einfachen, länglichrunden, ovalen oder geigenförmigen, dünnen Scheibe, welche aus drei über einander liegenden, eng verbundenen Blättern zusammengesetzt ist. Jedes dieser drei Keimblätter besteht aus weiter Nichts, als aus gleichartigen Zellen; jedes hat aber eine andere Bedeutung für den Aufbau des Wirbelthierkörpers. Aus dem oberen oder äußeren Keimblatt entsteht bloß die äußere Oberhaut (Epidermis) nebst den Centraltheilen des Nervensystems (Rückenmark und Gehirn); aus dem unteren oder inneren Blatt entsteht bloß die innere zarte Haut (Epithelium), welche den ganzen Darmcanal vom Mund bis zum After, nebst allen seinen Anhangsdrüsen (Lunge, Leber, Speicheldrüsen, Darmdrüsen u. s. w.) auskleidet; aus dem zwischen beiden gelegenen mittleren Keimblatt entstehen alle übrigen Organe.

Die Vorgänge nun, durch welche aus so einfachem Baumaterial, aus den drei einfachen, nur aus Zellen zusammengesetzten Keimblättern, die verschiedenartigen und höchst verwickelt zusammengesetzten Theile des reifen Wirbelthierkörpers entstehen, sind erstens wiederholte Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens Arbeitstheilung oder Differenzirung dieser Zellen, und drittens Verbindung der verschiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen zur Bildung der verschiedenen Organe. So entsteht der stufenweise Fortschritt oder die Vervollkommnung, welche in der Ausbildung des embryonalen Leibes Schritt für Schritt zu verfolgen ist. Die einfachen Embryonalzellen, welche den Wirbelthierkörper zusammensetzen wollen, verhalten sich wie Bürger, welche einen Staat gründen wollen. Die einen ergreifen diese, die anderen jene Thätigkeit, und bilden dieselben zu Besten des Ganzen aus. Durch diese Arbeitstheilung oder Differenzirung, und die damit im Zusammenhang stehende Vervollkommnung (den organischen Fortschritt), wird es dem ganzen Staate möglich, Leistungen zu vollziehen, welche dem einzelnen Individuum unmöglich wären. Der ganze Wirbelthierkörper, wie jeder andere mehrzellige Organismus, ist ein republikanischer Zellenstaat, und daher kann derselbe organische Functionen vollziehen, welche die einzelne Zelle als Einsiedler (z. b. eine Amoebe oder eine einzellige Pflanze) niemals leisten könnte.

Es wird keinem vernünftigen Menschen einfallen, in den zweckmäßigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Einzelnen in jedem menschlichen Staate getroffen sind, die zweckmäßige Thätigkeit eines persönlichen überirdischen Schöpfers erkennen zu wollen. Vielmehr weiß Jedermann, daß jene zweckmäßigen Organisationseinrichtungen des Staats die Folge von dem Zusammenwirken der einzelnen Bürger und ihrer Regierung, sowie von deren Anpassung an die Existenzbedingungen der Außenwelt sind. Ganz ebenso müssen wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurtheilen. Auch in diesem sind alle zweckmäßigen Einrichtungen lediglich die nätürliche und nothwendige Folge des Zusammenwirkens, der Differenzirung und Vervollkommnung der einzelnen Staatsbürger, der Zellen; und nicht etwa die künstlichen Einrichtungen eines zweckmäßig thätigen Schöpfers. Wenn Sie diesen Vergleich recht erwägen und weiter verfolgen, wird Ihnen deutlich die Verkehrtheit jener dualistischen Naturanschauung klar werden, welche in der Zweckmäßigkeit der Organisation die Wirkung eines schöpferischen Bauplans sucht.

Lassen Sie uns nun die individuelle Entwickelung des Wirbelthierkörpers noch einige Schritte weiter verfolgen, und sehen, was die Staatsbürger dieses embryonalen Organismus zunächst anfangen. In der Mittellinie der geigenförmigen Scheibe, welche aus den drei zelligen Keimblättern zusammengesetzt ist, entsteht eine gerade feine Furche, die sogenannte "Primitivrinne", durch welche der geigenförmige Leib in zwei gleiche Seitenhälften abgetheilt wird, ein rechtes und ein linkes Gegenstück oder Antimer. Beiderseits jener Rinne oder Furche erhebt sich das obere oder äußere Keimblatt in Form einer Längsfalte, und beide Falten wachsen dann über der Rinne in der Mittellinie zusammen und bilden so ein cylindrisches Rohr. Dieses Rohr heißt das Markrohr oder Medullarrohr, weil es die Anlage des Centralnervensystems, des Rückenmarks (Medulla spinalis) ist. Anfangs ist dasselbe vorn und hinten zugespitzt, und so bleibt dasselbe bei den niedersten Wirbelthieren, den gehirnlosen Röhrenherzen oder Leptocardiern (Amphioxus) zeitlebens. Bei allen übrigen Wirbelthieren aber, die wir von letzteren als Beutelherzen oder Pachycardier unterscheiden, wird alsbald ein Unterschied zwischen vorderem und hinterem Ende des Medullarrohrs sichtbar, indem das erstere sich aufbläht und in eine rundliche Blase, die Anlage des Gehirns verwandelt.

Bei allen Pachycardiern, d. h. bei allen mit Gehirn versehenen Wirbelthieren, zerfällt das Gehirn, welches anfangs bloß die blasenförmige Auftreibung vom vorderen Ende des Rückenmarks ist, bald in fünf hinter einander liegende Blasen, indem sich vier oberflächliche quere Einschnürungen bilden. Diese fünf ursprünglichen Hirnblasen, aus denen sich späterhin alle verschiedenen Theile des so verwickelt gebauten Gehirns hervorbilden, haben folgende Bedeutung.

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Fig. 9. Embryo des Hundes.

Fig. 10. Embryo des Huhns.

Fig. 11. Embryo der Schildkröte

Alle drei Embryonen sind genau aus demselben Entwickelungsstadium genommen, in dem soeben die fünf Hirnblasen angelegt sind. Die Buchstaben bedeuten in allen drei Figuren dasselbe: v Vorderhirn, z Zwischenhirn. h Hinterhirn. n Nachhirn. p Rückenmark. a Augenblasen. w Urwirbel. d Rückenstrang oder Chorda.

Die erste Blase, das Vorderhirn (v) ist insofern die wichtigste, als sie vorzugsweise die sogenannten großen Hemisphären, oder die Halbkugeln des großen Gehirns bildet, denjenigen Theiles, welcher der Sitz der höheren Geistesthätigkeiten ist. Je höher diese letzteren sich bei dem Wirbelthier entwickeln, desto mehr wachsen die beiden Seitenhälften des Vorderhirns oder die großen Hemisphären auf Kosten der vier übrigen Blasen und legen sich von vorn und oben her über die anderen herüber. Beim Menschen, wo sie verhältnismäßig am stärksten entwickelt sind, entsprechend der höheren Geistesentwickelung, bedecken sie später die übrigen Theile von oben her fast ganz. (Vergl. S. 240c, Fig. C-F.) Die zweite Blase, das Zwischenhirn (z) bildet besonders denjenigen Gehirntheil, welchen man Sehhügel nennt, und steht in der nächsten Beziehung zu den Augen (a), welche als zwei Blasen rechts und links aus dem Vorderhirn hervorwachsen und später am Boden des Zwischenhirns liegen. Die dritte Blase, das Mittelhirn (m) geht größtentheils in der Bildung der Vierhügel auf, eines hochgewölbten Gehirntheiles, welcher besonders bei den Reptilien (Fig. E, S. 240c) und bei den Vögeln (Fig. F) stark ausgebildet ist, während er bei den Säugethieren (C, D) viel mehr zurücktritt. Die vierte Blase, das Hinterhirn (h) bildet die sogenannten kleinen Hemisphären oder die Halbkugeln nebst dem Mitteltheil des kleinen Gehirns (Cerebellum), ein Gehirntheil, über dessen Bedeutung man die widersprechendsten Vermuthungen hegt, der aber vorzugsweise die Coordination der Bewegungen zu regeln scheint. Endlich die fünfte Blase, das Nachhirn (n), bildet sich zu demjenigen sehr wichtigen Theil des Centralnervensystems aus, welchen man das verlängerte Mark (Medulla oblongata) nennt. Es ist das Centralorgan der Athembewegungen und anderer wichtiger Functionen, und seine Verletzung führt sofort den Tod herbei, wahrend man die großen Hemisphären des Vorderhirns (oder die "Seele" im engeren Sinne) stückweise abtragen und zuletzt ganz vernichten kann, ohne daß das Wirbelthier deßhalb stirbt; nur seine höheren Geistesthätigkeiten schwinden dadurch.

Diese fünf Hirnblasen sind ursprünglich bei allen Wirbelthieren, die überhaupt ein Gehirn besitzen, gleichmäßig angelegt, und bilden sich erst allmählich bei den verschiedenen Gruppen so verschiedenartig aus, daß es nachher sehr schwierig ist, in den ganz entwickelten Gehirnen die gleichen Theile wieder zu erkennen. Wenn Sie die jungen Embryonen des Hundes, des Huhns und der Schildkröte in Fig. 9, 10 und 11 vergleichen, werden Sie nicht im Stande sein, einen Unterschied wahrzunehmen. Wenn Sie dagegen die viel weiter entwickelten Embryonen in Fig. C-F mit einander vergleichen, werden Sie schon deutlich die ungleichartige Ausbildung erkennen, und namentlich wahrnehmen, daß das Gehirn der beiden Säugethiere (C und D) schon stark von dem der Vögel (F) und Reptilien (E) abweicht. Bei letzteren beiden zeigt bereits das Mittelhirn, bei den ersteren dagegen das Vorderhirn sein Uebergewicht. Aber auch noch in diesem Stadium ist das Gehirn des Vogels (F) von dem der Schildkröte (E) kaum verschieden, und ebenso ist das Gehirn des Hundes (C) demjenigen des Menschen (D) jetzt fast noch gleich. Wenn Sie dagegen die Gehirne dieser vier Wirbelthiere im ausgebildeten Zustande mit einander vergleichen, so finden Sie dieselben so sehr verschieden, daß Sie nicht einen Augenblick darüber in Zweifel sein können, welchem Thiere jedes Gehirn gehört.

Ich habe Ihnen hier die ursprüngliche Gleichheit und die erst allmählich eintretende und dann immer wachsende Sonderung oder Differenzirung des Embryo bei den verschiedenen Wirbelthieren speciell an dem Bespiele des Gehirns erläutert, weil gerade dieses Organ der Seelenthätigkeit von ganz besonderem Inderesse ist. Ich hätte aber ebenso gut das Herz oder die Leber oder die Gliedmaßen, kurz, jeden anderen Körpertheil statt dessen anführen können, da sich immer dasselbe Schöpfungswunder hier wiederholt, nämlich die Thatsache, daß alle Theile ursprünglich bei den verschiedenen Wirbelthieren gleich sind, und daß erst allmählich die Verschiedenheiten sich ausbilden, durch welche die verschiedenen Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen u. s. w. sich von einander sondern und abstufen.

Es giebt gewiß wenige Körpertheile, welche so verschiedenartig ausgebildet sind, wie die Gliedmaßen oder Extremitäten der verschiedenen Wirbelthiere. Nun bitte ich Sie, in Fig. C-F auf S. 240c die vorderen Extremitäten (bv) der verschiedenen Embryonen mit einander zu vergleichen, und Sie werden kaum im Stande sein, irgend welche bedeutende Unterschiede zwischen dem Arm des Menschen (Dbv), dem Flügel des Vogels (Fbv), dem schlanken Vorderbein des Hundes (Cbv) und dem plumpen Vorderbein der Schildkröte (Ebv) zu erkennen. Ebenso wenig werden Sie bei Vergleichung der hinteren Extremität (bh) in diesem Figuren herausfinden wodurch das Bein des Menschen (D) und des Vogels (F), das Hinterbein des Hundes (C) und der Schildkröte (E) sich unterscheiden. Vordere sowohl als hintere Extremitäten sind jetzt noch kurze und breite Platten, an deren Endausbreitung die Anlagen der fünf Zehen noch durch Schwimmhäute verbunden sind. In einem noch früheren Stadium (Fig. A und B) sind die fünf Zehen noch nicht einmal angelegt, und es ist ganz unmöglich auch nur vordere und hintere Gliedmaßen zu unterscheiden. Diese sowohl als jene sind nichts als ganz einfache rundliche Fortsätze, welche aus der Seite des Rumpfes hervorgesproßt sind. In dem frühen Stadium, welches Fig. 9-11 darstellt, fehlen dieselben überhaupt noch ganz, und der ganze Embryo ist ein einfacher Rumpf ohne eine Spur von Gliedmaßen.

An den Embryonen des Hundes (Fig. A) und des Menschen (Fig. B) aus der vierten Woche der Entwickelung, in denen Sie jetzt wohl noch keine Spur des erwachsenen Thieres werden erkennen können, möchte ich sie noch einmal aufmerksam machen auf eine äußerst wichtige Bildung, welche allen Wirbelthieren ursprünglich gemeinsam ist, welche aber späterhin zu den verschiedensten Organen umgebildet wird. Sie kennen gewiß Alle die Kiemenbogen der Fische, jene knöchernen Bogen, welche zu drei oder vier hinter einander auf jeder Seite des Halses liegen, und welche die Athmungsorgane der Fische, die Kiemen tragen (Doppelreihen von rothen Blättchen, welche das Volk "Fischohren" nennt). Diese Kiemenbogen nun sind beim Menschen (B) und beim Hunde (A) ursprünglich so gut vorhanden, wie bei allen übrigen Wirbelthieren. (In Figur A und B sind die drei Kiemenbogen der rechten Halsseite mit den den Buchstaben k1, k2, k3 bezeichnet). Allein nur bei den Fischen bleiben dieselben in der ursprünglichen Anlage bestehen und bilden sich zu Athmungsorganen aus. Bei den übrigen Wirbelthieren werden dieselben theils zur Bildung des Gesichts (namentlich des Kieferapparats), theils zur Bildung des Gehörorgans verwendet.

Endlich will ich nicht verfehlen, Sie bei Vergleichung der in Fig. A-F, S. 240 b,c abgebildeten Embryonen nochmals auf das Schwänzchen des Menschen (s) aufmerksam zu machen, welches derselbe mit allen übrigen Wirbelthieren in der ursprünglichen Anlage theilt. Die Auffindung "geschwänzter Menschen" wurde lange Zeit von vielen Monisten mit Sehnsucht erwartet, um darauf eine nähere Verwandtschaft des Menschen mit den übrigen Säugethieren begründen zu können. Und ebenso hoben ihre dualistischen Gegner oft mit Stolz hervor, daß der gänzliche Mangel des Schwanzes einen der wichtigsten körperlichen Unterschiede zwischen dem Menschen und den Thieren bildet, wobei sie nicht an die vielen schwanzlosen Thiere dachten, die es wirklich giebt. Nun besitzt aber der Mensch in den ersten Monaten der Entwicklung ebenso gut einen wirklichen Schwanz, wie die nächstverwandten schwanzlosen Affen (Orang, Schimpanse, Gorilla) und wie die Wirbelthiere überhaupt. Während derselbe aber bei den Meisten, z. B. beim Hunde (Fig. A, C) im Laufe der Entwickelung immer länger wird, bildet er sich beim Menschen (Fig. B, D) und bei den ungeschwänzten Säugethieren von einem gewissen Zeitpunkt der Entwickelung an zurück und verwächst zuletzt völlig. Indessen ist auch beim ausgebildeten Menschen der Rest des Schwanzes als verkümmertes order rudimentäres Organ noch in den drei bis fünf Schwanzwirbeln (Vertebrae coccygeae) zu erkennen, welches das hintere oder untere Ende der Wirbelsäule bilden (S. 235).

Die meisten Menschen wollen noch gegenwärtig die wichtigste Folgerung der Descendenztheorie, die paläontologische Entwickelung des Menschen aus affenähnlichen und weiterhin aus niederen Säugethieren nicht anerkennen, und halten eine solche Umbildung der organischen Form für unmöglich. Ich frage Sie aber, sind die Erscheinungen der individuellen Entwickelung des Menschen, von denen ich Ihnen hier die Grundzüge vorgeführt habe, etwa weniger wunderbar? Ist es nicht im höchsten Grade merkwürdig, daß alle Wirbelthiere aus den verschiedensten Klassen, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere, in den ersten Zeiten ihrer embryonalen Entwickelung gradezu nicht zu unterscheiden sind, und daß selbst viel später noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Vögel sich deutlich von den Säugethieren unterscheiden, Hund und Mensch noch beinahe identisch sind? Fürwahr, wenn man jene beiden Entwicklungsreihen mit einander vergleicht, und sich fragt, welche von beiden wunderbarer ist, so muß uns die Ontogenie oder die kurze und schnelle Entwickelungsgeschichte des Individuums viel räthselhäfter erscheinen, als die Phylogenie oder die lange und langsame Entwickelungsgeschichte des Stammes. Denn eine und dieselbe großartige Formwandlung und Umbildung wird von der letzteren im Laufe von vielen tausend Jahren, von der ersteren dagegen im Laufe weniger Monate vollbracht. Offenbar ist diese überaus schnelle und auffallende Umbildung des Individuums in der Ontogenesis, welche wir jeden Augenblick thatsächlich durch directe Beobachtung feststellen können, an sich viel wunderbarer, viel erstaunlicher, als die entsprechende, aber viel langsamere und allmählichere Umbildung, welche die lange Vorfahrenkette desselben Individuums in der Phylogenesis durchgemacht hat.

Beide Reihen der organischen Entwickelung, die Ontogenesis des Individuums, und die Phylogenesis des Stammes zu welchem dasselbe gehört, stehen im innigsten ursächlichen Zusammenhange. Ich habe diese Theorie, welche ich für äußerst wichtig halte, im zweiten Bande meiner generellen Morphologie4) ausführlich zu begründen versucht. Wie ich dort zeigte, ist die Ontogenesis, oder die Entwickelung des Individuums, eine kurze und schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung (Recapitulation) der Phylogenesis oder der Entwickelung des zugehörigen Stammes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Indviduums bilden. (Gen. Morph. II, S. 110-147, 371).

In diesem innigen Zusammenhang der Ontogenie und Phylogenie erblicke ich einen der wichtigsten und unwiderleglichsten Beweise der Descendenztheorie. Es vermag Niemand diese Erscheinungen zu erklären, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpassungsgesetze zurckgeht; durch diese erst sind sie erklärlich. Ganz besonders verdienen dabei die Gesetze unsere Beachtung, welche wir früher als die Gesetze der abgekürzten, der gleichzeitigen und der gleichörtlichen Vererbung erläutert haben. Indem sich ein so hochstehender und verwickelter Organismus, wie es der menschliche oder der Organismus jedes anderen Säugethiers ist, von jener einfachen Zellenstufe an aufwärts erhebt, in dem fortschreitet in seiner Differenzirung und Vervollkommnung, durchläuft er dieselbe Reihe von Umbildungen, welche seine thierischen Ahnen vor undenklichen Zeiten, während ungeheurer Zeiträume durchlaufen haben. Schon früher habe ich auf diesen äußerst wichtigen Parallelismus der individuellen und Stammesentwickelung hingewiesen (S. 9). Gewisse, sehr frühe und tief stehende Entwickelungsstadien des Menschen und der höheren Wirbelthiere überhaupt entsprechen durchaus gewissen Bildungen, welche zeitlebens bei niederen Fischen fortdauern. Es folgt dann eine Umbildung des fischähnlichen Körpers zu einem amphibienartigen. Viel später erst entwickelt sich aus diesem der Säugethierkörper mit seinen bestimmten Charakteren, und man kann hier wieder in den auf einander folgenden Entwickelungsstadien eine Reihe von Stufen fortschreitender Umbildung erkennen, welche offenbar den Verschiedenheiten verschiedener Säugethierordnungen und Familien entsprechen. In derselben Reihenfolge sehen wir aber auch die Vorfahren des Menschen und der höheren Säugethiere in der Erdgeschichte nach einander auftreten: zuerst Fische, dann Amphibien, später niedere und zuletzt erst höhere Säugethiere. Hier ist also die embryonale Entwickelung des Individuums durchaus parallel der paläontologischen Entwickelung des ganzen zugehörigen Stammes; und diese äußert interessante und wichtige Erscheinung ist einzig und allein durch Darwin's Selectionstheorie, durch die Wechselwirkung der Vererbungs- und Anpassungsgesetze zu erklären.

Das zuletzt angeführte Beispiel von dem Parallelismus der paläontologischen und der individuellen Entwickelungsreihe lenkt nun unsere Aufmerksamkeit noch auf eine dritte Entwickelungsreihe, welche zu diesen beiden in den innigsten Beziehungen steht und denselben ebenfalls im Ganzen parallel läuft. Das ist nämlich diejenige Entwickelungsreihe von Formen, welche das Untersuchungsobject der vergleichenden Anatomie ist, und welche wir kurz die systematische oder specifische Entwickelung nennen wollen. Wir verstehen darunter die Kette von verschiedenartigen, aber doch verwandten und zusammenhängenden Formen, welche zu irgend einer Zeit der Erdgeschichte, also z. B. in der Gegenwart, neben einander existiren. Indem die vergleichende Anatomie die verschiedenen ausgebildeten Formen der entwickelten Organismen mit einander vergleicht, sucht sie das gemeinsame Urbild zu erkennen, welches den mannichfaltigen Formen der verwandten Arten, Gattungen, Klassen u. s. w. zu Grunde liegt, und welches durch deren Differenzirung nur mehr oder minder versteckt wird. Sie sucht die Stufenleiter des Fotschritts festzustellen, welche durch den verschiedenen Vervollkommnungsgrad der divergenten Zweige des Stammes bedingt ist. Um bei dem angeführten Beispiele zu bleiben, so zeigt uns die vergleichende Anatomie, wie die einzelnen Organe und Organsysteme des Wirbelthierstammes in den verschidenen Klassen, Familien, Arten desselben sich ungleichartig entwickelt, differenzirt und vervollkommnet haben. Sie erklärt uns, in welchen Beziehungen die Reihenfolge der Wirbelthierklassen von den Fischen aufwärts durch die Amphibien zu den Säugethierordnungen, eine aufsteigende Stufenleiter bildet. Diesem Bestreben, eine zusammenhängende anatomische Entwickelungsreihe herzustellen, begegnen Sie in den Arbeiten der großen vergleichenden Anatomen aller Zeiten, in den Arbeiten von Goethe3), Meckel, Cuvier, Johannes Müller, Gegenbaur21, Huxley.

Die Entwickelungsreihe der ausgebildeten Formen, welche die vergleichende Anatomie in den verschiedenen Divergenz- und Fortschrittsstufen des organischen Systems nachweist, und welche wir die systematische Entwickelungsreihe nannten, ist parallel der paläontologischen Entwickelungsreihe, weil sie das anatomische Resultat der letzteren betrachtet, und sie ist parallel der individuellen Entwickelungsreihe, weil diese selbst wiederum der paläontologischen parallel ist. Wenn zwei Parallelen einer dritten parallel sind, so müssen sie auch unter einander parallel sein.

Die mannichfaltige Differenzirung und der ungleiche Grad von Vervollkommnung, welchen die vergleichende Anatomie in der Entwickelungsreihe des Systems nachweist, ist wesentlich bedingt durch die zunehmende Mannichfaltigkeit der Existenzbedingungen, denen sich die verschiedenen Gruppen im Kampf ums Dasein anpaßten, und durch den verschiedenen Grad von Schnelligkeit und Vollständigkeit, mit welchem diese Anpassung geschah. Die conservativen Gruppen, welche die ererbten Eigenthümlichkeiten am zähesten festhielten, blieben in Folge dessen auf der tiefsten und rohesten Entwickelungsstufe stehen. Die am schnellsten und vielseitigsten fortschreitenden Gruppen, welche sich den vervollkommneten Existenzbedingungen am bereitwilligsten anpaßten, erreichten selbst den höchsten Vollkommenheitsgrad. Je weiter sich die organische Welt im Laufe der Erdgeschichte entwickelte, desto mehr mußte diese Divergenz der niederen conservativen und der höheren progressiven Gruppen werden, wie das ja eben so auch aus der Völkergeschichte ersichtlich ist. Hieraus erklärt sich auch die historische Thatsache, daß die vollkommensten Thier- und Pflanzengruppen sich verhältnißmäßig in kurzer Zeit zu sehr bedeutender Höhe entwickelt haben, während die niedrigsten, conservativsten Gruppen durch alle Zeiten hindurch auf der ursprünglichen, rohesten Stufe stehen geblieben, oder nur sehr langsam und allmählich etwas fortgeschritten sind. Auch die Ahnenreihe des Menschen zeigt dies Verhältniß deutlich. Die Haifische der Jetztzeit stehen den Urfischen, welche zu den ältesten Wirbelthierahnen des Menschen gehören, noch sehr nahe, ebenso die heutigen niedersten Amphibien (Kiemenmolche und Salamander) den Amphibien, welche sich aus jenen zunächst entwickelten. Und ebenso sind unter den späteren Vorfahren des Menschen die Beutelthiere, die ältesten Säugethiere, zugleich die unvollkommensten Thiere dieser Klasse, die heute noch leben. Die uns bekannten Gesetze der Vererbung und Anpassung genügen vollständig, um diese äußerst wichtige und interessante Erscheinung zu erklären, die man kurz als den Parallelismus der individuellen, der paläontologischen und der systematischen Entwickelung, des betreffenden Fortschrittes und der betreffenden Differenzirung bezeichnen kann. Kein Gegner der Descendenztheorie ist im Stande gewesen, für diese höchst wunderbare Thatsache eine Erklärung zu liefern, während sie sich nach der Descendenztheorie aus den Gesetzen der Vererbung und Anpassung vollkommen erklärt.

Wenn Sie diesen Parallelismus der drei organischen Entwickelungsreihen schärfer in's Auge fassen, so müssen Sie noch folgende nähere Bestimmung hinzufügen. Die Ontogenie oder die individuellen Entwickelungsgeschichte jedes Organismus (Embryologie und Metamorphologie) bildet eine einfache, unverzweigte oder leiterförmige Kette von Formen; und ebenso derjenige Theil der Phylogenie, welcher die paläontologische Entwickelungsgeschichte der directen Vorfahren jenes individuellen Organismus enthält. Dagegen bildet die ganze Phylogenie, welche uns in dem natürlichen System jedes organischen Stammes oder Phylum entgegentritt, und welche die paläontologische Entwickelung aller Zweige dieses Stammes untersucht, eine verzweigte oder baumförmige Entwickelungsreihe, einen wirklichen Stammbaum. Untersuchen Sie vergleichend die entwickelten Zweige dieses Stammbaums und stellen Sie dieselben nach dem Grade ihrer Differenzirung und Vervollkommnung zusammen, so erhalten Sie die baumförmig verzweigte systematische Entwickelungsreihe der vergleichenden Anatomie. Genau genommen ist also diese letztere der ganzen Phylogenie parallel und kann mithin nur theilweise der Ontogenie parallel sein; denn die Ontogenie selbst ist nur einem Theile der Phylogenie parallel.

Alle im Vorhergehenden erläuterten Erscheinungen der organischen Entwickelung, insbesondere dieser dreifache genealogische Parallelismus, und die Differenzirungs- und Fortschrittsgesetze, welche in jeder dieser drei organischen Entwickelungsreihen sichtbar sind, sodann die ganze Erscheinungsreihe der rudimentären Organe, sind äußerst wichtige Belege für die Wahrheit des Descendenztheorie. Denn sie sind nur durch diese zu erklären, während die Gegner derselben auch nicht die Spur einer Erklärung dafür aufbringen können. Ohne die Abstammungslehre läßt sich die Thatsache der organischen Entwickelung überhaupt nicht begreifen. Wir würden daher gezwungen sein, auf Grund derselben Lamarck's Descendenztheorie anzunehmen, auch wenn wir nicht Darwin's Züchtungstheorie besäßen. Die letztere ist gewissermaßen der directe Beweis für die erstere, während jene großen Thatsachen der organischen Entwickelung den indirecten Beweis dafür liefern.


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