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Der Umgang mit den Zwangsarbeitern in Metzingen. Eine Studie


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Der Umgang mit den Zwangsarbeitern in Metzingen.

Eine Studie

Henning Kober

Maybachstraße 19/4

72555 Metzingen


Erweiterte Fassung November 2001

Inhaltsverzeichnis



  1. Thema und Vorgehensweise.......................................................3



  1. Begriffsklärung Zwangsarbeiter..................................................3

3. Die Zwangsarbeiterdiskussion.....................................................4

4. Metzingen im Dritten Reich........................................................5

5. Das Ostarbeiterlager.................................................................7

6. Das Leben als Zwangsarbeiter....................................................9

Das Leben als Westarbeiter

Das Leben als Ostarbeiter (Zeitzeugenberichte)

7. Die Firma Hugo Boss...............................................................16

Firmengeschichte

Zwangsarbeit (Zeitzeugenberichte)

8. Beispiele für einen offensiven Umgang mit der Vergangenheit.......22

Der Volkswagen Konzern

Geschichte

Aufarbeitung

Die Stadt Ulm

9. Schlussbemerkung..................................................................25

10. Bibliographie.......................................................................26

1. Thema und Vorgehensweise

Meine Arbeit nimmt die in den letzten Jahren entflammte Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter zum Anlass, den Umgang der Metzinger Bevölkerung mit den ausländischen Arbeitern zu untersuchen, im Dritten Reich und in der Gegenwart.

Im Januar 2001 stellte das Stadtarchiv Metzingen eine umfangreiche Dokumentation „Metzingen in der Zeit des Nationalsozialismus“ vor. Auch dem Thema Zwangsarbeit ist dort ein Kapitel gewidmet. Die darin gemachten Aussagen bleiben jedoch oft vage, weil den Autoren keine Berichte von ehemaligen Zwangsarbeitern, die in Metzingen eingesetzt waren, zur Verfügung standen. Deshalb habe ich versucht, mit überlebenden Zwangsarbeitern (aus organisatorischen und finanziellen Gründen begrenzt auf Polen) einen Schriftwechsel zu beginnen. Die Aussagen dieser zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung nach Metzingen meist unter 20 Jahre alten Männer und Frauen, zeichnen zusammen mit den Ergebnissen der bekannten Quellen ein authentisches Bild der Zwangsarbeit in Metzingen.

Die Arbeit gliedert sich folgendermaßen: Über die Definition des Begriffs Zwangsarbeiter, eine Beschreibung der Situation in Metzingen während des Dritten Reichs und einen Überblick über die Entschädigungsdebatte habe ich versucht, mich dem Thema anzunähern. Genauer befasst habe ich mich mit dem Ostarbeiterlager, mit der unterschiedlichen Behandlung von Arbeitern aus West- und Osteuropa und im besonderen mit der Rolle der Firma Hugo Boss. Hier haben die neuen Erkenntnisse aus der für dieses Studie erfolgten Zeitzeugenbefragung Berücksichtigung gefunden. Als Beispiel für einen erfolgreichen Dialog und offensiven Umgang mit der Geschichte habe ich schließlich die Aufarbeitung des VW-Konzerns und der Stadt Ulm beschrieben.


2. Begriffsklärung Zwangsarbeiter

Entsprechend der Industriedichte ist die Gesamtzahl der in Metzingen beschäftigten Zwangsarbeiter relativ hoch. 1241 Menschen, überwiegend aus Polen und der Sowjetunion waren nach Metzingen verschleppt worden1. In Neuhausen waren es 1052. Sie wurden in 25 Betrieben sowie auf mehreren Bauernhöfen und in Privathaushalten beschäftigt3 (siehe Anlage).

Drei Gruppen von Zwangsarbeitern können unterschieden werden:


  1. Fremdarbeiter, die zumeist in den ersten Kriegsjahren in ihren Heimatländern angeworben wurden und freiwillig nach Deutschland gekommen waren. Nach der Invasion der Deutschen in deren Heimatländern wurden sie teilweise auch gegen ihren Willen nach Deutschland gebracht. Sie kamen überwiegend aus Frankreich und den Beneluxstaaten, vereinzelt auch aus Polen. Sie wurden als sogenannte „Westarbeiter“ bevorzugt behandelt. Ihre Arbeitgeber schlossen mit ihnen Verträge ab, die sie weitgehend mit ihren deutschen Kollegen gleichstellten.

  2. Sogenannte „Ostarbeiter“, die aus Polen und der Sowjetunion stammten. Zum großen Teil wurden sie gewaltsam nach Deutschland gebracht und nach der Rassenideologie der Nationalsozialisten als Untermenschen mit geringsten Rechten behandelt. Sie bildeten die größte Gruppe der Zwangsarbeiter in Metzingen.

  3. Kriegsgefangene

3. Die Zwangsarbeiterdiskussion

War die Zwangsarbeit in den Nürnberger Prozessen noch ein Hauptanklagepunkt, wurde sie danach schnell verdrängt. Im Schuldabkommen von London 1953 wurde eine Entschädigung bis zum Abschluss eines Friedensvertrags zurückgestellt. Auf die 100 Milliarden aus dem Bundesentschädigungsfond von 1953 hatten ausländische NS-Opfer keinen Anspruch. Viele ehemalige Zwangsarbeiter aus Osteuropa waren unterdessen hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden.

Aktuell wurde das Thema erst wieder nach dem Ende des Kalten Krieges. 1,5 Milliarden Mark waren Anfang der neunziger Jahre von der Regierung Kohl an die osteuropäischen Länder überwiesen worden. Das Geld wurde jedoch nur zu einem kleinen Teil ausbezahlt und versickerte oftmals in dunklen Kanälen. Das Bundesverfassungsgericht entschied 1996, dass Klagen von Opfern in Deutschland zulässig sind. Im August 1998 wurden Sammelklagen gegen Volkswagen, BMW, Daimler-Benz, Siemens, Krupp, MAN und Leica eingereicht. Siemens und Volkswagen richteten daraufhin eigene Fonds ein.

Mark Spoerer, Historiker an der Uni Hohenheim, schätzt, dass im Jahr 2000 noch 2,7 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter am Leben sein dürften4. Im Februar 1999 einigten sich Bundeskanzler Gerhard Schröder, der die Entschädigung offensiv angehen wollte und zwölf deutsche Unternehmen auf die Einrichtung eines Stiftungsfonds. Später schlossen sich vier weitere Firmen an, zusammen sind sie die sechzehn Gründer der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.

Otto Graf Lambsdorff (FDP) übernimmt als Beauftragter des Bundeskanzlers die Verhandlungen mit den Opferanwälten. Die Verhandlungen ziehen sich in die Länge, umstritten ist die Höhe der Entschädigungssumme und die Rechtssicherheit für die Firmen. Mitte Juli 2000 kommt es zum entscheidenden Durchbruch bei den Verhandlungen. Mit insgesamt 10 Milliarden Mark wollen Bundesregierung und Industrie, die sich die Kosten je zur Hälfte teilen, die ehemaligen Zwangsarbeiter entschädigen. Die Auszahlungen sollen durch Stiftungen in den jeweiligen Ländern erfolgen. Sogenannte Sklavenarbeiter, die in Konzentrationslagern zur Arbeit gezwungen wurden, werden mit je 15000 Mark entschädigt, Zwangsarbeiter außerhalb von Konzentrationslagern mit 5000 Mark. Allein zwei Drittel der Gesamtsumme geht an Opfer aus Polen. Um deutsche Firmen vor weiteren Klagen zu schützen, gibt die US-Regierung ein "statement of interest" ab, mit dem den Gerichten empfohlen wird, Klagen abzuweisen. Die US-Gerichte sind jedoch unabhängig.

Am 13. März 2001 erklärten die etwa 6000 Firmen, die der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ beigetreten sind, dass sie ihren Wirtschaftsanteil von fünf Milliarden Mark zusammen haben. Als Richtgrößen schlägt die Stiftung bei Industrieunternehmen ein, beim Handel 0,1 Prozent des Umsatz vor. Banken sollen sich mit 0,1 Prozent der Bilanzsumme beteiligen.

Nach Abweisung der letzten Sammelklagen in den USA, stellte der Deutsche Bundestag am 30. Mai 2001 fest, dass ausreichende Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmen gegeben sei. Damit war die Vorraussetzung für Auszahlungen an die Opfer über die Partnerstiftungen gegeben.
4. Metzingen im Dritten Reich

Metzingen war schon früh eine Hochburg der Nationalsozialisten. 1923 wurde in der Kelternstadt eine der ersten Ortsgruppen der NSDAP in Württemberg gegründet. 54,1 Prozent der Stimmen entfielen bei der Reichstagswahl am 5.März 1933 auf die Nazi-Partei, zehn Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt. Für die Deutschnationale Volkspartei, die die NSDAP unterstützte, stimmten noch einmal neun Prozent. Im Wahlkampf war es zu schweren Zusammenstössen zwischen Kommunisten und Nazis gekommen. Die Polizei stellte sich schützend vor die Nationalsozialisten, während die Kommunisten vom Landgericht Tübingen wegen "erschwerten Landfriedensbruchs" verurteilt wurden. Die SPD erreichte bei dieser letzten freien Wahl gerade noch 8,4 Prozent, die KPD 12 Prozent5.

Unmittelbar nach der Machtergreifung wurden die bekannten Kommunisten Ernst Ott, Vorsitzender des KJVD (Kommunistischer Jugendverband Deutschlands), Ernst Hettich, der Leiter der Naturfreunde und Heinrich Weiblen, Kassierer der Roten Hilfe verhaftet und in das Konzentrationslager Heuberg gebracht.

Der katholische Stadtpfarrer Alois Dangelmaier wurde am 5. Januar 1934 verhaftet und ins KZ Oberer Kuhberg in Ulm gesperrt, weil er eine Totenmesse für sechs in Köln hingerichtete Kommunisten gelesen hatte.

Die Strickwarenfabrik Adolf Herold und die Mechanische Weberei Pausa, beides von Juden geführte Betriebe, wurden 1938 "arisiert". Das Ehepaar Herold wurde 1941 deportiert und ermordet.

Durch die Umstellung auf Rüstungsprodukte herrschte in Metzingen schon vor 1939 Arbeitskräftemangel. Nach dem Einmarsch in Polen wurden deshalb so schnell wie möglich Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene nach Metzingen gebracht und in Industrie und Landwirtschaft eingesetzt. Insgesamt 1346 dieser Menschen waren während des Krieges in Metzingen und Neuhausen.

Untergebracht wurden die Fremdarbeiter zuerst bei Privatleuten, (hierbei handelte es sich in erster Linie um Landwirtschafts- oder Handwerksbetriebe) oder in firmeneigenen Lagern, später im Ostarbeiterlager oder die Kriegsgefangenen auf dem Gelände des heutigen städtischen Bauhofs, auf dem ab Juli 1944 auch einen Außenstelle des Arbeitserziehungslagers Oberndorf-Aistaig eingerichtet war6.

Mehrere Metzinger Firmen profitierten von den neuen Herrschern. Die Textilbetriebe Fischer&Lohr, Emil Wurster und Hugo Boss stellten für die Wehrmacht Uniformen her. Die Maschinenfabriken Henning und Dörflinger erhielten Rüstungsaufträge7.

Der Kriegsbeginn führte dazu, dass das Ziel der Naziherrscher, eine vollständige wirtschaftliche Autarkie zu erreichen, auch in Metzingen mit Nachdruck verfolgt wurde8. Die knapp werdenden Rohstoffe im Krieg machten auch in Metzingen erfinderisch. Im Schieferwerk (heute an der B28, Ortseingang Metzingen), betrieb die Seifenfabrik G.A. Bazlen eine Anlage zur Rückgewinnung von Fett.
5. Das „Ostarbeiterlager“

In einer Gemeinderatssitzung am 30.5.1941 berichtete Bürgermeister Otto Dipper, dass die Unterbringung der damals 160 Zwangsarbeiter überwiegend in Privathaushalten und dezentralen Barackenlagern bei den beschäftigenden Firmen "zum Teil zu Missständen geführt" habe. Ortsgruppenleiter Mader bemängelte, dass das Verhalten mancher Polinnen und Französinnen "allgemeines öffentliches Ärgernis errege"9. Gemeint sind damit Beziehungen zum männlichen Teil der deutschen Bevölkerung.

Aus diesen Gründen wurde im September 1942 nach Plänen des Stadtbaumeisters Kull auf dem städtischen Grundstück "Auf Schanden" gegenüber der Sägerei Ziegler das Ostarbeiterlager errichtet. Das Lager sollte genossenschaftlich betrieben werden. Große Kontingente hielten die Firma Henning (50), die Stadt Metzingen (35), die Firma Hugo Boss (30) und die Firma Gebrüder Holder (30) (siehe Anlage)10. Die Anteilseigner trafen sich regelmäßig zu Gesprächsrunden mit Bürgermeister Otto Dipper im Rathaus. Über diese Zusammentreffen existieren detaillierte Protokolle11.

Am 19.9.1942 wurden in der ersten Versammlung Ernst Henning und Ernst Ruth zu den Geschäftsführern gewählt. Als Lagerführer wurde Friedrich Hammer bestimmt. Bei der Volksbank wurde ein Konto eingerichtet. Die Gesellschafter zahlten entsprechend ihrer Anteile Geld ein.

Untergebracht waren die Arbeiter in Baracken für je 60 Mann. Insgesamt sollte das Lager Platz für 300 Arbeiter bieten. Lagerführer Hammer berichtete am 25.11.42, dass die Einrichtung einer Kantine geplant sei, in der die Lagerinsassen Bier, Mineralwasser, Schuhputzzeug und dergleichen erwerben können. Dr. med. Bornhäuser übernahm die medizinische Betreuung, alle drei Tage sollte es einen Sprechtag geben. Lagerführer Hammer berichtete am 23.12.42 gegenüber dem Vorstand der Gesellschaft, das Essen im Lager sei sehr gut und reichlich. Bürgermeister Otto Dipper besuchte selbst das Lager, um sich durch Kostproben von der Qualität des Essens zu überzeugen.

Dass sie Gefangene sind, bekamen die Arbeiter trotzdem zu spüren. So durften sie das Lager am Abend nur in Fünfergruppen verlassen. Eine Person musste sich gegenüber der Lagerführung als "Beauftragter" erklären, es wurde ein Ausweis ausgegeben. Die Wachkräfte müssten unbedingt bewaffnet werden, erklärte Ernst Henning in einer Versammlung am 26.2.43. Von Anfang an machte die Belegung des Lagers Probleme, was vor allem zu wirtschaftlichen Nachteilen führte. So wollte die Firma Robert Bräuchle ihr eigenes Arbeitslager nicht aufgeben. Vorstand Henning erwog darauf hin, auch Franzosen und Belgier in das Lager aufzunehmen. Die Firmenchefs zögerten mit einer Überweisung, weil sie fürchteten, die Arbeitskraft ihrer Arbeiter würde geschmälert.

Um das Lager zu füllen und den Widerstand der Firmenchefs zu brechen, holte sich Ernst Henning Unterstützung. Zu der Vollversammlung aller Gesellschafter am 5.3.43 hatte er Ortsgruppenleiter Gerhard Mader eingeladen. Nachdrücklich sprach sich Mader für eine vollständige Einweisung aller Ostarbeiter in das Lager aus. Und er hatte Erfolg. Ein Vertreter der Firma Hugo Boss erklärte, dass die Polinnen, die zum Teil schon seit drei Jahren in Metzingen waren, sich bei ihren Zimmervermieterinnen häuslich niedergelassen hätten und dort auch im Haushalt helfen würden. Gleichzeitig erklärte er sich jedoch bereit, die Polinnen in das Lager zu überweisen.

In seinem Bericht über den Zeitraum von Dezember 42 bis März 43 wies Hammer am 16.4.43 auf einen erheblichen finanziellen Verlust hin. Rentabilität sei erst zu erreichen, wenn 100 bis 150 Insassen im Lager wären. Um Kosten zu sparen, mussten die Lagerinsassen selbst Gemüse anbauen.

Bei der Gesellschafterversammlung am 27.9.1943 wurde besprochen, dass die Ostarbeiter Luftschutzgräben am Lager ausheben müssen. Den Zwangsarbeitern war es nicht erlaubt, den gleichen Schutzraum wie die Metzinger aufzusuchen. Als 1945 die Angriffe häufiger wurden und Zwangsarbeiter im Luftschutzstollen „Im Auchtert“ Zuflucht suchten, wurden sie von Metzingern vertrieben. Lagerführer Hammer wollte seinen Posten abgeben, der Umgang mit den verschiedenen Nationen und die Situation im Lager rege ihn so sehr auf, dass er nachts nicht mehr schlafen könne.

Unter den Zwangsarbeitern selbst gab es große Rangunterschiede. Die deutlich kleinere Zahl Westarbeiter erwartete eine bessere Behandlung als ihre Leidensgenossen aus dem Osten. Die Westarbeiter, die in erster Linie aus Frankreich und den Beneluxstaaten stammten, waren zum Teil freiwillig nach Deutschland gekommen oder aber als Kriegsgefangene verschleppt worden. Für Bürgermeister Dipper war es keine Frage, dass bei einer Aufnahme von Westarbeitern in das Lager ein separater Speisesaal eingebaut wird12.

Selbst unter den Polen gab es Rangunterschiede. Auf der Gesellschafterversammlung am 3.12.1943 wird folgender Vorfall diskutiert. Mehrere Polinnen, die gut deutsch sprachen, sogenannte „eindeutschungsfähige Polen“ hatten sich über verlauste Baracken beschwert und gefordert, wie die Französinnen behandelt zu werden. Die Firmenchefs waren bemüht, möglichst wenig Probleme mit den Arbeitern zu haben, für sie stand maximale Arbeitsleistung im Vordergrund. Die Versammlung beschloss darauf hin, den betroffenen Polinnen eine Unterbringung in einem separaten Raum zu ermöglichen.

Gegen Ende des Krieges wurde auch in Metzingen die Versorgungslage immer schlechter. In der Versammlung vom 9.2.1944 berichtete Lagerführer Hammer von den Schwierigkeiten, Gemüse, Kartoffeln und Sauerkraut zu bekommen. Hugo Boss stellte deshalb den Antrag, seine Arbeiterinnen in der Werkskantine versorgen zu können. Im Protokoll ist vermerkt, dass Hugo Boss betonte, er wolle mit dieser Maßnahme keine besondere Fürsorge für die Polinnen erreichen. Es handle sich für ihn nur um eine Sicherstellung der Arbeitsleistung, da die Verpflegung, die die Arbeiterinnen im Lager erhalten, nicht ausreiche um eine ordnungsgemäße Arbeitsleistung sicherzustellen. Nach diesem Statement entbrannte eine Diskussion. Der wieder anwesende Ortsgruppenleiter Mader sagte, die Verpflegung im Lager sei politisch gewollt. Am Ende einigte man sich auf den Kompromiss, dass die Arbeiterinnen zwar in der Werkskantine versorgt werden dürfen, allerdings erst in der nächsten Versorgungsperiode.

In einem Entnazifizierungsschreiben gibt Boss später an, die Lagerverpflegung sei ein "menschenunwürdiger Fraß gewesen(..) mit dem kein Mensch arbeiten könne"13.

Auch bei anderen Einsparungen waren zuerst die Zwangsarbeiter betroffen. So forderte ein Schreiben des württembergischen Innenministers vom 6.12.1944 den Bürgermeister auf, Entbindungen von Ostarbeiterinnen im Krankenhaus zukünftig nicht mehr zu zulassen. Der Mangel von Krankenhausbetten zwinge zu dieser Maßnahme, die schwangeren Frauen sollen in "Wochenstuben" zu Hause bei den Hebammen entbinden. Im Metzingen konnte dies trotz Bemühens des Bürgermeisters nicht umgesetzt werden, weil sich keine Hebamme fand, bei der dies möglich gewesen wäre.


6. Das Leben als Zwangsarbeiter

In den Arbeitsbüchern jedes Fremdarbeiters stand:


"Wie der deutsche, so dient auch der ausländische Arbeiter der Stirn und Faust durch seinen Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, dem Neuaufbau Europas und dem Kampf um die lebenswichtigen Voraussetzungen für eine glückliche Zukunft und Wohlfahrt der Völker im europäischen Raum. Der ausländische Arbeiter muss sich dieser Aufgabe und Auszeichnung stets bewusst sein. Auf diesem Gedanken beruht sein Einsatz, seine Arbeitsleistung und seine persönliche Haltung".

Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz14.


Jeder der 1346 ausländischen Arbeiter in Metzingen und Neuhausen dürfte diese Sätze als blanken Hohn verstanden haben. Trotzdem gab es große Unterschiede zwischen dem Leben eines Arbeiters aus Westeuropa und dem eines aus Osteuropa. Schuld daran ist das rassenideologische Motiv der Nationalsozialisten. In der Anschauung der Nazis waren die Franzosen und Niederländer zwar Kriegsgegner, sowjetische Arbeiter als „Untermenschen“ jedoch weitaus verachtenswerter.

Das Leben als „Westarbeiter“
Auskunft über das Leben als Westarbeiter gibt das Tagebuch des Holländers Harmen Atema. Es ist das einzig bekannte Tagebuch eines Fremdarbeiters. Als 22jähriger wurde Atema 1944 nach Hannover geschickt, er setzte sich jedoch in Richtung Süden ab. In der heimatlichen Werkstatt hing ein Plakat der Metzinger Firma Holder. Nach einer abenteuerlichen Fahrt erreichte Atema Metzingen, wo er von Firmenchef Max Holder aufgenommen wurde und in der Firma arbeiten konnte. Atema konnte sich relativ frei bewegen und hatte gute Kontakte zu anderen Zwangsarbeitern und der Metzinger Bevölkerung. Bürgermeister Dipper bestimmte ihn nach Kriegsende zum Unterhändler mit den französischen Besatzern. Außerdem vermittelte Atema zwischen den verschiedenen Zwangsarbeitergruppen und der Bevölkerung während der ersten Besatzungszeit.

Sein Tagebuch in friesischer Sprache wurde vom Metzinger Volksblatt und dem Arbeitskreis Stadtgeschichte aufgearbeitet und publiziert. Die nachfolgenden Aussagen stammen aus unveröffentlichtem Material15.


Die Versorgung mit Lebensmitteln in den späten Kriegsjahren wurde immer schwieriger. Die Bevölkerung durfte „Westarbeiter“, im Gegensatz zu den Zwangsarbeitern aus Osteuropa, zu Nebentätigkeiten beschäftigen. Harmen Atema schreibt dazu am 19. März 1944: "Mittags bin ich mit Peter nach Neuhausen gelaufen, wir haben versucht, bei Bauern zu arbeiten, um Essen zu erhalten. Wir sind durch das ganze Dorf gelaufen, aber alle Bauern lehnten ab. Auf dem Weg zurück nach Metzingen sahen wir zwei Frauen auf dem Feld arbeiten. Wir sind dort hin und jawohl, wir konnten das Land mit einer Art Hacke bearbeiten. Peter und ich haben gearbeitet wie Sklaven und zur Freude der Frauen waren wir am Ende des Mittags fertig. Wir bekamen Essen, das war ein Brot, ein Apfel und 150 Gramm Fleischmarken. Wenn es noch weniger zu essen gibt, werden wir öfters in der Landwirtschaft arbeiten müssen."
Trotz aller Einschränkungen hatte Atema als Niederländer relativ viel Freiheiten, so durfte er zum Beispiel den Ort ohne Sondergenehmigung verlassen und konnte auf der Alb wandern gehen. Atema schreibt: "Sonntag war ich mit M. und ihrer Tante, die Frau eines Industriellen aus Duisburg, auf der Alb wandern. (...) Wir haben in St. Johann gegessen. (...) Am Abend sind M. und ich wieder mal ins Kino gegangen. Weil der Film länger ging als die Sperrzeit für Ausländer hat M. mich halb nach Hause gebracht".
In den letzten Kriegstagen, die Invasion durch die Amerikaner und Franzosen steht kurz bevor, läuft Atema in Richtung Reutlinger Straße, als ihm ein paar Verse für ein Gedicht einfallen. Um in Ruhe nachdenken zu können, geht er in einen Heuschuppen, an dem er gerade vorbei läuft und klettert auf den Boden. Im Heu spürt er Kleidungsstücke. „Und jawohl es war eine SA Uniform von feinstem Stoff. Die Farbe mag ich nicht“, schreibt Atema, „aber die Qualität ist prima. Auch ein Hemd und ein Blut-und-Ehre-Dolch war dabei. (...) Sollte diese Uniform vom Rath sein? Der Ortsgruppenleiter, der zu Peter und mir gesagt hat: „Ich schieße euch beide tot, dann meine Frau und Tochter und dann mich selbst, wenn wir den Krieg nicht gewinnen sollten. Aber wir sollten siegen, hört ihr, ihr ausländischen Schweine und dann sollt ihr verfluchten Ausländer Stuttgart und alle vernichteten Städte wieder aufbauen. Und wenn ihr dann noch lebt, könnt ihr heim gehen.““
Als aus allen Richtungen die Alliierten auf Metzingen zumarschieren, verlassen die hohen Parteimitglieder die Stadt. Die Verantwortung tragen jetzt Bürgermeister Dipper und Leutnant Siegel allein. Atema schreibt über Dipper: „In unseren Augen war der Bürgermeister menschlich und human, abgesehen von Wörtern die er in bestimmten Situationen sprechen musste“. Über Siegel berichtet er: „Das Zusammentreffen von gleichgesinnten Leuten findet statt im Keller beim Becker, Eugen. Peter und ich waren dort einmal eingeladen. An dem Sonntag Nachmittag saß Siegel in Zivil dort. Wir waren sehr erschrocken, als wir ihn sahen, aber er bedeutete, dass alles in Ordnung sei“.

Dass die Hilfe deutscher Bürger auch riskant sein konnte, zeigt der Fall der Maria M., die ihrem französischen Kriegsgefangenen Tabak zugesteckt hat.

Im Dritten Reich musste man ständig darauf gefasst sein, dass ein Zeitgenosse jeden möglichen Regelverstoß an die Obrigkeit meldete. Ein Bürger meldete Ortsgruppenleiter Rath im Oktober 1940, dass er beobachtet habe, wie Maria M. auf offener Straße einem Kriegsgefangenen Tabak zugesteckt habe. Rath verfolgte den Fall weiter und Maria M. musste sich schriftlich rechtfertigen. Ein Unteroffizier der Wachmannschaft habe ihr erlaubt, dem bei ihr beschäftigten Kriegsgefangenen Tabak zu geben, so Maria M.. Sie hatte auf der Straße ihren Neffen, der gerade den Kriegsgefangenen ins Lager zurück brachte, getroffen. Maria M. gab ihrem Neffen ein Päckchen Tabak und sagte ihm, dieses erst im Lager weiterzugeben. Der Junge hielt sich jedoch nicht daran und gab den Tabak schon auf der Straße weiter. Diese eigentlich harmlose Aktion erforderte eine umfangreiche Verteidigung. Maria M. musste beteuern, dass sie keine Beziehung zu dem Kriegsgefangene habe und ihm den Tabak zukommen ließ, weil er sehr fleißig und anständig sei. Dieser Vorfall hatte zur Folge, dass der Unteroffizier, der Maria M. erlaubte, dem Kriegsgefangene Tabak zu geben, umgehend versetzt wurde.


Das Leben als „Ostarbeiter“
Bisher gab es kaum Aussagen von ehemaligen Ostarbeitern. Die in diesem Kapitel veröffentlichten Erinnerungen ehemaliger Arbeiter geben Aufschluss über ihre Lebensbedingungen in Metzingen. Im nächsten Kapitel (7. Die Firma Hugo Boss) sind die Berichte der Zwangsarbeiter bei Boss nachzulesen.

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